„Die Krise der SPD ist die Krise des Sozialstaats. Warum die Volkspartei ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat.“
Unter diesem und einem ähnlichen Titel („SPD – Ohne Sozialstaatsreform stirbt die Partei“) erschien am 29.8. im Berliner Tagesspiegel und bei Zeit online ein Artikel von Klaus Hartung. Er ist vermutlich als Meinungsmache-Leitfaden für Berliner Journalisten und für das Bildungsbürgertum gedacht. Sie sollen erstens lernen, dass die SPD nicht wegen der Agenda 2010 und Hartz IV an Zustimmung verliert, sondern weil sie nicht weitermacht mit dieser Art von Reformen. Sie sollen zweitens lernen, dass die Sozialstaatlichkeit schuld an der allgemeinen Misere ist und deshalb der Sozialstaat der permanenten Reform bedarf. Der Artikel ist eingängig und einschleichend geschrieben, aber voller Widersprüche, unbelegter und falscher Behauptungen – gewissermaßen typisch für die so genannten Intellektuellen vom Schlage Hartung. – Kai Ruhsert hat sich darüber ähnlich gewundert wie ich und eine Gegenpolemik verfasst. Hier ist sie [PDF – 48 KB]. Albrecht Müller
Für mich ist es ziemlich schleierhaft, warum eine Zeitung wie der Tagesspiegel und gleichzeitig ein renommiertes Onlineportal wie Zeit.de ein derartiges Stück bringen. Vielleicht sind sie dazu vom konservativen Flügel der SPD, von Verfechtern neoliberaler Reformen im Hintergrund oder auch nur von den Herausgebern animiert worden. Der frühere Pressechef von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der mir freundschaftlich verbundene Kollege bei der morgendlichen Lagerunde im Bundeskanzleramt, Klaus Bölling, hat sich im Deutschlandradio Kultur am 26. August in Teilen ähnlich wie Hartung geäußert. Dieser Flügel der SPD versucht auf Biegen und Brechen, jede Kurskorrektur zu verhindern, und hat deshalb ein Interesse an der Verbreitung von Hartungs Thesen.
Dazu nun einige Anmerkungen:
1. Unwahre und schräge Behauptungen von Gewicht:
Hartung behauptet, der Sozialstaat werde immer teurer. Das ist schlichtweg falsch. Seit 1975 liegt die Sozialleistungsquote zwischen 27 und 30%. Seit 2003 ist sie sogar wieder um 3 Prozentpunkte gefallen. Und das trotz Wiedervereinigung und Massenarbeitslosigkeit!!!
Hartung behauptet, „zwanzig Prozent der so genannten Besserverdienenden tragen zwei Drittel des Haushalts“. Das ist schon deshalb falsch, weil der Anteil der direkten Steuern am gesamten Steueraufkommen (und damit auch am Haushalt) 2008 51,8% und der Anteil der indirekten Steuern 48,2% beträgt (siehe Daten des Bundesfinanzministeriums [PDF – 1.88 MB]). Die indirekten Steuern (z.B. die Mehrwertsteuer) treffen alle gleich. Dass die indirekten Steuern rund die Hälfte des Steueraufkommens ausmachen, wird schlicht ignoriert. Autor Hartung vernachlässigt auch die Tatsache, dass die Spitzenverdiener vor allem bei Gewinn- und Vermögenseinkommen sehr viel größere Chancen als die Normalverdiener haben, ihre Einkommen der Besteuerung zu entziehen. Darauf haben die beiden Autoren Adamek und Otto mit Recht hingewiesen, siehe „Schön Reich. Steuern zahlen die anderen. Wie eine ungerechte Politik den Vermögenden das Leben versüßt.“.
Hartung behauptet, „bildungsferne Schichten“ würden „in einer Weise finanziert, die die Motivation für all die neuen Bildungsangebote unterminiert, deren Kosten der Sozialstaat ebenfalls trägt.“ – Da stimmt schon der Ansatz nicht. Bildungsferne Schichten werden nicht in besonderer Weise finanziert. Siehe dazu: „Der Staat fördert Studierende aus armen und reichen Haushalten fast gleich“.
2. Die falsche Analyse des Niedergangs der SPD
Jörg Schönenborn hat am Wahlabend des 30. August schön gezeigt, dass eine überwältigende Mehrheit die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für falsch hält. Dies war aber gerade eine der „Spitzenleistungen“ des heutigen SPD-Vorsitzenden Müntefering. Diese Tat ist ein Symbol dafür, wie die SPD mit ihren Reformen die Lebenslage der Mehrheit der Menschen und insbesondere ihrer eigenen Wählerschaft verschlechtert hat. Und dies, obwohl heute 50jährige nur noch schwer einen Arbeitsplatz bekommen und die heute formal gesetzte Altersgrenze von 65 Jahren von der Mehrheit der Menschen gar nicht erreicht wird. Die SPD hat mit der Agenda 2010 und mit den Hartz-Gesetzen ihre eigenen Prinzipien und Zielvorstellungen verraten. Dies ist eine der wesentlichen Ursachen für den Niedergang. Ohne Kurskorrektur wird sie sich nicht erholen. Die von Bölling und Hartung geforderte Fortsetzung der neoliberalen Reformen wird die SPD aller Voraussicht nach noch weiter in den Keller treiben.
Hinzu kommen eine ganze Reihe weiterer Ursachen für den Vertrauens- und Wählerverlust der SPD, die im Artikel von Hartung ausgeblendet sind: fehlende Machtoptionen; einseitige konservative Ausrichtung, also fehlende Pluralität; Spitzenpersonal, das beim Wähler nicht ankommt; massenweise Wahlkampffehler.
3. Die obskure Vorstellung, der Sozialstaat sei unser Problem
Wir haben viele Probleme: Wir zahlen Milliarden für gescheiterte Spekulanten; die von diesen und unseren Politikern mitverursachte Finanzkrise verschärft das Problem der Arbeitslosigkeit und des Staatshaushalts. Wir haben ein Beschäftigungsproblem. Immer mehr junge Menschen sehen für sich keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Viele junge Menschen haben nicht einmal die Möglichkeit zur Ausbildung. So entsteht in der Tat eine neue Unterschicht.
Aber dies ist die Folge mangelhafter Politik. Nicht der als zu großzügig denunzierte Sozialstaat, sondern die verfehlte Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nimmt den Menschen die Perspektive.
4. Die falsche Analyse der Probleme des Sozialstaats
Autor Hartung macht sich zum Sprecher des „gewöhnlich intellektuell unterschätzten Stammtischs“ und fragt, „wie der Sozialstaat in Zukunft finanziert werden soll. Er kennt die Demografie und weiß dass die Staatsverschuldung wachsen muss, sollen die Sozialstandards erhalten werden.“ –
Das ist die gängige Denkweise. Sie ist in den letzten zwei Jahrzehnten eingeübt worden und zeichnet gerade jene Medien aus, die man eigentlich zu den besser unterrichteten zählen sollte: Zeit, Tagesspiegel, Spiegel, Süddeutsche Zeitung und so weiter. Dieses Denken lässt außer acht, dass die so genannte „Demografie“, genauer gesagt: der demographische Wandel, nachweisbar kein Problem ist, wenn es gelingt, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, Arbeitslosigkeit abzubauen und die Erwerbsquote zu erhöhen – und wenn gleichzeitig die Produktivität der Arbeit ähnlich steigt wie in der Vergangenheit.
Dieses Denken lässt außerdem außer acht, dass die Fixierung des Beitragssatzes zum Beispiel in der Rentenversicherung auf unter 20 % eine künstliche Fixierung war und ist. Auch hier gibt es Handlungsmöglichkeiten. Das glauben viele nur darum nicht, weil im entscheidenden Moment immer die Warnung vor dem Gespenst des Anstiegs der Lohnnebenkosten ins Spiel gebracht wurde und wird.
5. Die absurde Vorstellung vom „lernenden flexiblen Sozialsystem“
Hartung bietet als seine Lösung ein lernendes flexibles Sozialsystem an. Sozialleistungen sollen grundsätzlich auf ihre gesellschaftlichen Folgen überprüft und Sozialstandards immer wieder infrage gestellt werden. Soziale Leistungsgesetze sollen mit einem Verfallsdatum versehen und in jeder Legislaturperiode im Parlament neu debattiert werden. –
Der Mann hat keine Ahnung von der Lebenslage der Mehrheit der Menschen und keine Ahnung von Gesetzgebungsmöglichkeiten. Nur die Verlässlichkeit der Rente erlaubt eine Lebensplanung und das Eingehen von Risiken. Nur die Verlässlichkeit einer Krankenversicherung erlaubt eine gewisse Freiheit und schöpferische Kraft.
Vom Parlament zu erwarten, ja überhaupt daran zu denken, in jeder Legislaturperiode neu über die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung, das Kindergeld, die Kindersteuerfreibetrag, das Elterngeld oder das Erziehungsgeld zu beraten und zu beschließen, zeigt, dass dieser Autor nichts ist als ein Spieler. Seine Vorstellung ist entweder nicht ernst gemeint oder grenzenlos einfältig.
Zum Schluss: Verfassungsfeindliche Umtriebe
Es geht hier nicht um den Autor Hartung, es geht um seinen Versuch, eine alte Legende neu zu beleben: Die Reformpolitik sei nicht gescheitert, sie sei nur noch nicht konsequent genug betrieben worden, man müsse weiter an der Sozialstaatlichkeit unserer Republik kratzen.
Die Freunde unseres Grundgesetzes sollten an dieser Stelle auch sehen: Wer so argumentiert und agitiert wie Klaus Hartung, stellt sich außerhalb des Grundgesetzes. Dort ist in den Artikeln 1-20 die Sozialstaatlichkeit versprochen. Wer dagegen angeht, den sollte man auch nennen, was er ist: ein Verfassungsfeind. Diese gibt es offensichtlich nicht nur am offiziell markierten rechten Rand wie in Sachsen. Diese gibt es mitten unter den Meinungsführern.