Sigmar Gabriel: „Was sind wir für ein glückliches Land“
Wer den Ausführungen des Bundesaußenministers Sigmar Gabriel am Donnerstagabend in der ZDF-Talkshow „Illner“ zugehört hat, muss zu dem Eindruck kommen: Der SPD ist nicht mehr zu helfen. Die Reihe jener Aussagen von hochrangigen SPD-Mitgliedern, in denen zum Ausdruck kommt, dass sie nicht ansatzweise zu verstehen scheinen, warum sie seit Gerhard Schröder über 10 Millionen Wähler verloren haben, ist sicherlich lang, aber das, was Gabriel bei „Illner“ gesagt hat, sollte man nochmal hervorheben. Die NachDenkSeiten haben die Einlassungen von Gabriel verschriftlicht und möchten ihre Leser darauf hinweisen. Ein Beitrag von Marcus Klöckner.
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Man stelle sich Folgendes vor: Aufgrund eines technischen Defektes an Fahrzeugen eines großen Automobilherstellers haben sich mehrere schwere Unfälle ereignet. Menschen sind zu Schaden gekommen. Unmittelbar nach den Vorfällen sitzt der Manager des Konzerns in einer großen Talkshow und erklärt ungeachtet dessen, was passiert ist, wie großartig das Leder in den Fahrzeugen seiner Marke ist und wie wunderbar die Autobahnen im Land sind. Außerdem verweist er auch noch darauf, dass die Anzahl der Verkehrstoten in Deutschland um einiges geringer ist als in einem anderen Land.
Gewiss: Für dieses Szenario bedarf es einiges an Vorstellungskraft. Wenig Vorstellungskraft hingegen benötigt man, um sich auszumalen, was mit einem Manager, der so auftritt, passieren würde. Er wäre wohl die längste Zeit bei dem Konzern gewesen. Aber ihm dürfte der Spitzenplatz im Hinblick auf die schlechteste Krisen-PR aller Zeiten gewiss sein.
Vielleicht mag der ein oder andere Leser diese kleine Analogie zu dem Auftritt von Gabriel in einer der prominentesten Polit-Talkshows des Landes für arg überspitzt halten, aber: Das ist sie nicht.
Folgendes vorweg: Im September dieses Jahres – die NachDenkSeiten weisen darauf immer wieder hin – hat die SPD mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit der Nachkriegszeit eingefahren. Seit 1998, also seit Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt wurde, hat die SPD über 10 Millionen Wähler verloren. Und auch nach den Bundestagswahlen, wie Umfragen zeigen, ist weit und breit kein Aufschwung bei den Sozialdemokraten zu erkennen. Und nun zu Gabriel. Gabriel also, der von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD war, sagte als Gast bei „Illner“:
Bei allen berechtigten Hinweisen, was Europa angeht: Was sind wir für ein glückliches Land.
Wir haben relativ geringe Arbeitslosigkeit. Wir haben steigende Renten. Steigende Löhne. Haushaltsüberschüsse. Und unsere größte Sorge ist, ob die Kabarettisten (zeigt in Richtung Kabarettist Serdar Somuncu, der auch in der Runde sitzt) noch Stoff haben für das kommende Jahr.
Ich will das ein bisschen karikieren.
Illner: Sie müssten sich Sorgen um Ihre Partei machen.
Gabriel: Erstmal mache ich mir keine großen Sorgen über das Land. Warum nicht?
Es gibt Länder, die haben eine funktionierende Regierung und nicht funktionierende Institutionen. Bei uns ist es gerade umgekehrt. Da ist mir dieser Fall ehrlich gesagt lieber.
(Ab Minute 19:35)
Einige Minuten später richtet Somuncu das Wort an Gabriel und sagt:
Damit widersprechen Sie ja ihrer ersten eigenen Aussage, in der Sie gesagt haben: „Uns geht es ja wunderbar“. Uns geht es gar nicht so wunderbar.
Gabriel: Ich habe nur versucht, Ihre Rolle als Kabarettist zu übernehmen.
Somuncu: Gut, aber ich als Kabarettist sage Ihnen jetzt mit einem durchaus politischen Bewusstsein, dass Sie sich da widersprechen, denn gerade das war ja das Problem, dass sie die Themen, die die Menschen wirklich interessiert haben, die Themen, die die Menschen bewegt haben, nicht in Angriff genommen hatten.
(Ab Minute 23:40)
Frage: Hat Gabriel die Lobeshymne zur Lage in Deutschland nur mit einem Augenzwinkern gemeint?
Der geneigte Leser möge sich die entsprechende Stelle anschauen. Da war keine Ironie mit im Spiel. Die Mimik, der Tonfall, die gesamte Art und Weise, wie Gabriel an der Stelle spricht, zeigt sehr deutlich: Der Außenminister schwingt mit ein in den Chor derjenigen, die die Realität schönzeichnen und immer wieder zum Besten geben: „Uns geht es doch gut.“
„Karikiert“, wie Gabriel betont, hat er nur mit dem letzten Satz seiner Lobeshymne („Und unsere größte Sorge ist, ob die Kabarettisten noch Stoff haben für das kommende Jahr“) – alles andere war, davon darf man ausgehen, ernst gemeint.
Das also, was an dieser Stelle zum Ausdruck kommt, ist genau jene Betriebsblindheit der SPD, die dazu geführt hat, dass die Partei ihren Status als Volkspartei verloren hat und aufpassen muss, nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. In Anbetracht der schweren Verwerfungen, zu der die Agenda 2010 in unserer Gesellschaft geführt hat, in Anbetracht von Armut, Angst und Elend, die zumindest real in Teilen unserer Gesellschaft vorhanden sind, als führender Sozialdemokrat davon zu sprechen, wie wunderbar es doch dem Land geht, ist völlig deplatziert.
Richtig ist natürlich, dass es auch Teile der Gesellschaft gibt, denen es gut geht und manchen Teilen auch sehr gut (zu denen Gabriel gehört), also aus ökonomischer Sicht. Und gewiss: Das darf man auch sagen. Nur: Wenn ein Sozialdemokrat, nachdem seine Partei so von den Wählern abgestraft wurde, in Jubelarien auf das Land ausbricht und partout nicht über die Armen im Land sprechen will, dann überlässt man denjenigen das Feld, denen man dieses gewiss nicht überlassen sollte. Außerdem: Eine sozialdemokratische Partei, die einschwingt in den Chor derer, die sagen, wie toll in dem Land doch alles ist, braucht niemand. Das Lied singen, beispielsweise, die CDU/CSU oder die FDP besser.
Dass Gabriel sich dann auch nochmal zum Wochenende (also gerade mal zwei Tage nach seinem Auftritt bei Illner) in einem längeren Beitrag im „Spiegel“ zu Wort meldet und dort nun doch mit etwas Selbstkritik an seiner Partei hantiert („Als Sozialdemokraten und Progressive haben wir uns kulturell oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten. Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit.“), spricht für den ‚schizophrenen Moment‘, der die Partei umgibt. Einerseits, das vermitteln zumindest die Aussagen bzw. Nichtaussagen der SPD-Führung, würde man am liebsten so weitermachen wie bisher, denn, so klingt es immer wieder an: Man hat ja schließlich nichts falsch gemacht. Andererseits will die Partei dann doch – irgendwie – ‚Kurskorrektur‘ betreiben, um sich wieder ihren klassischen Wählerschichten anzunähern – und wirkt dabei eher abschreckend als vertrauenserweckend.
Die Tage berichten Medien auch darüber, dass Andrea „die Agenda war im Prinzip richtig“ Nahles auf das Jahr 2021 schielt, um nach der ganz großen Macht zu greifen. SPD-intern heiße das entsprechende Projekt „Andrea 2021“. Was kann man dazu noch sagen? Der Letzte möge dann bitte das Licht ausmachen.