Der Heilige Abend, an dem wir Zwiebeln klauten
Eine Nachkriegs-Weihnachtsgeschichte
Von Wolfgang Bittner
Damals, 1945, war ich vier Jahre alt. Der Krieg und die Schrecken der Besetzung lagen hinter uns. Wir hatten Oberschlesien im Herbst auf dem Dach eines Zuges verlassen müssen und für kurze Zeit Unterkunft bei Verwandten in Potsdam gefunden. Von dort kamen wir auf Anordnung irgendeiner Behörde in ein kleines Dorf in der Uckermark. An manches, was sich dort zutrug, kann ich mich noch dunkel erinnern, vieles hat mir meine Mutter im Laufe der Jahre nach und nach erzählt.
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In einem ehemaligen Gesindehaus in der Nähe eines Bauernhofs erhielten wir ein Zimmer zugewiesen: meine Mutter und ich sowie meine Tante und ihr achtjähriger Sohn. Zuerst betrat man einen dunklen, muffig riechenden Flur. Rechts wohnten Kapitzkes, ein Ehepaar mit drei Kindern im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. Ich weiß noch genau, dass es bei ihnen oft drunter und drüber ging, denn Herr Kapitzke war ein Choleriker. Er litt an einer Kriegsverletzung, schrie bei jeder Gelegenheit und verprügelte nicht nur die Kinder, sondern auch seine Frau. Kopfschuss, hieß es.
Links wohnten wir, und neben uns, nur getrennt durch eine abgeschlossene Stubentür, Frau Reuchel, deren Mann gefallen war. Sie hatte eine Tochter in meinem Alter, ein zartes, etwas kränkelndes Kind, das häufig weinte.
Unser Zimmer war feucht und unansehnlich. Tisch und Stühle standen darin, Betten, ein Kleider- und ein Küchenschrank, ein Herd zum Kochen. Die Wände waren fleckig, der Fußboden morsch. Neben dem zugigen Fenster hingen die zerfaserten Kupferdrähte einer abgerissenen elektrischen Leitung herunter. Da das Kabel noch Strom führte, wurde mir und meinem Vetter streng verboten, es zu berühren.
Lebensmittel gab es nur auf Marken. Aber die Abschnitte nützten nicht viel, wenn nichts da war. Der einzige Laden im Dorf gehörte Frau Zernick, einer Kriegerwitwe. Sie war beim Einmarsch der Roten Armee vergewaltigt worden, wie hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Ich wusste damals natürlich nicht, was das war: vergewaltigt. Dem Verhalten und den Andeutungen der Erwachsenen entnahm ich, dass es einerseits etwas Schlimmes sein musste und andererseits etwas Anrüchiges, womöglich Unanständiges. Alle benahmen sich jedenfalls sehr seltsam, wenn die Sprache darauf kam. Offenbar war ihnen selber nicht ganz klar, wie sie damit umgehen sollten.
Frau Zernick war eine harte, unangenehme Frau, die ihre Verletzungen hinter Schroffheit verbarg. Sie mochte meine Mutter und meine Tante nicht. Wahrscheinlich beneidete sie die beiden um ihre paar geretteten modischen Kleidungsstücke, vielleicht auch um die Chance, woanders ein besseres Leben beginnen zu können. Dazu kam, dass die Einheimischen die Flüchtlinge als Störenfriede ansahen, als Schmarotzer und „Rucksackgesindel“. Nun gut, man hatte den Krieg verloren; sollte man jetzt von dem Wenigen, was einem geblieben war, etwa noch an die Fremden abgeben? „Selbst wenn ich Butter hätte“, sagte Frau Zernick böse zu meiner Mutter, „selbst wenn ich Butter hätte, würde ich sie Ihnen nicht verkaufen.“
Die Flüchtlinge sollten nach Ansicht der eingesessenen Dorfbevölkerung gefälligst dahin zurückgehen, woher sie gekommen waren. Meine Mutter klagte der Bäuerin, der das Gesindehaus gehörte, ihre Not und erregte Mitleid. Jedenfalls bot ihr die Bäuerin an: „Holen Sie sich morgen etwas Milch für die Kinder ab.“ Als meine Mutter tags darauf zurückkam, weinte sie vor Scham und Enttäuschung. Sie hatte nämlich einen Kochtopf mitgenommen, das einzige Gefäß, das wir besaßen. „Einen größeren Topf haben Sie wohl nicht finden können“, hatte die Bäuerin sie angefahren und ihr gnädig ein bisschen Magermilch gegeben, die gerade den Boden des Topfes bedeckte.
Auf einmal, ganz unverhofft, war der 24. Dezember gekommen. Wir froren und litten Hunger. Meine Mutter und meine Tante zerbrachen sich den Kopf, wie Abhilfe zu schaffen sei. Als wir eines Tages über die Landstraße nach Prenzlau gewandert waren, hatten die Frauen ein Feld mit Zwiebeln entdeckt, das nicht abgeerntet worden war. „Besser als gar nichts“, sagte meine Mutter. Wir gingen also Zwiebeln stehlen. Der Boden war hartgefroren, und das Lauch riss ab, aber einige Zwiebeln bekamen wir doch heraus. Auch ein paar Kartoffeln waren noch da. Die Frauen kochten eine recht gehaltvolle Suppe, die wir zu Mittag aßen.
Die Abfälle, also auch die Zwiebelschalen, warfen wir auf den Misthaufen schräg gegenüber unserer Tür – das war unser Glück. Denn der Bauer, dem das Zwiebelfeld gehörte, hatte Anzeige erstattet. Die Teller waren gerade abgespült, da erschien der Dorfpolizist und durchsuchte die Wohnungen. Bei Kapitzkes wurde er fündig; eine ganze Tasche voll Zwiebeln kam zum Vorschein. Er ließ sich auch durch das Geschimpfe und Gefluche von Herrn Kapitzke nicht beeindrucken. Das Diebesgut wurde sichergestellt, ein Protokoll aufgenommen und noch eine weitere Anzeige wegen Beamtenbeleidigung geschrieben, der eine Gerichtsverhandlung folgen sollte.
Meine Mutter regte sich zuerst fürchterlich auf. Doch allmählich verwandelte sich ihre Aufregung in Zorn. „So eine Schande“, meinte sie. „Die Zwiebeln verfaulen auf dem Feld, und wir müssen hungern.“ Ein eigenartiger Stolz kam hinzu, der sich in den Worten ausdrückte: „Diese Kerle“ – gemeint waren der Polizist und der Bauer – „haben sich die ganze Zeit zu Hause herumgedrückt, während unsere Männer an der Front ihre Knochen hinhalten mussten.“ Nachdem der Polizist fort war, ging sie kurz entschlossen zusammen mit meiner Tante in den Wald.
Die Dämmerung brach schon herein, da kamen die beiden Frauen mit einem Tannenbaum, Reisig und Holz zurück. Der Herd wurde angeheizt und der Weihnachtsbaum geschmückt. Aus dem Silberpapier einer Zigarettenschachtel ließ sich Lametta machen, aus Watte Engelshaar. Meine Mutter backte sogar ein Kuchenblech Plätzchen aus Maismehl, Gries und ein wenig Zucker. Ein paar von den Plätzchen hängten wir an den Weihnachtsbaum, der uns wunderschön erschien.
Und während die Frauen noch beschäftigt waren, spielten mein Vetter und ich Elektriker. Es gelang ihm, mich zu verleiten, das an der Wand hängende Stromkabel anzufassen. Ich bekam einen heftigen Schlag, von dem ich beinahe ohnmächtig wurde. Das weiß ich noch wie heute. Alle bemühten sich um mich, bis es mir wieder besser ging.
Endlich konnte der Heilige Abend beginnen. Bei Kerzenlicht tranken wir heißes Wasser mit dem erahnbaren Geschmack von Tee und Zucker. Dazu gab es die ziemlich harten Plätzchen, die uns ganz köstlich schmeckten und jede Delikatesse ersetzten. Meine Mutter erzählte Geschichten von dem Rübezahl, einem gutmütigen Berggeist aus dem Riesengebirge, und von meinem Vater, der schwer verwundet in einem Lazarett im Westen lag. Dorthin wollten wir uns in den nächsten Tagen auf den Weg machen.
Später kam der Knecht, der oben im Haus ein Mansardenzimmer bewohnte, zu uns herunter. Er war schon älter und hinkte, weil ihm in Russland die Zehen abgefroren waren. Offensichtlich hatte er ein Auge auf meine Tante geworfen. Als Geschenk brachte er uns einen Kanten Brot und ein Töpfchen Griebenschmalz mit. Wir sangen „O du fröhliche“, „Stille Nacht, heilige Nacht“ und schwelgten. Wir feierten Weihnachten.
Wolfgang Bittner, Schriftsteller und Jurist, ist Autor zahlreicher Bücher, darunter der Erzählband „Das andere Leben“, Horlemann Verlag 2007
Siehe auch KenFM im Gespräch.