Cleverle Schulz flieht nach Europa
Respekt für das Ergebnis von 81,9 % bei der Wahl zum Vorsitzenden! Das ist nach dem katastrophalen Bundestagswahlergebnis von 20,5 % nur verständlich, wenn man versteht, dass sich auch Parteitagsdelegierte von gekonnter Meinungsmache beeindrucken lassen. 20,5 % und damit die Halbierung des Ergebnisses von 1998 – das war am 24. September eigentlich ein richtiger Schock und hätte zur Palastrevolution führen müssen. Aber Cleverle Schulz rettete sich und den SPD-Vorstand mit der Abschiebung der Verantwortung auf die „GroKo“. Nicht er und der SPD-PV und die offensichtlichen Mängel bei der inhaltlichen Positionierung waren schuld. Die GroKo war’s. Albrecht Müller.
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NachDenkSeiten-Leser/Innen konnten damals schon durchschauen, was gespielt wird. Siehe hier am 29. September: Vom kollektiven Wahn der „Die-Groko-ist-schuld-an-der-Niederlage“-Erzähler und den Folgen für unser Land: Eine schlimme Koalition steht ins Haus. Die Partei-Öffentlichkeit und die allgemeine Öffentlichkeit mussten zehn Wochen warten, bis auch ihnen die Wahrheit präsentiert wurde. Jetzt bekennt der Spitzenkandidat, (auch) er sei schuld; dann kommen aber gleich die nächsten Tricks der Ablenkung. 1. Schulz verspricht Ergebnisoffenheit der Verhandlungen mit der CDU/CSU. 2. Er pocht auf die Bedeutung der „Inhalte“. Und 3. verlangt er die Vereinigten Staaten von Europa. Bis 2025!
Um die Vorgänge zu verstehen, muss man die Tricks und die großen Möglichkeiten der Meinungsmache im Hinterkopf haben. Damals im September die Möglichkeit, die Ausrede „Die GroKo ist schuld am katastrophalen Wahlergebnis“ einer ganzen Partei und weiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Weite Teile von SPD und Öffentlichkeit haben diese Ausrede unkritisch akzeptiert. Ausgerechnet die vergleichsweise alten Seeheimer haben quasi als erste öffentlich angemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Die Jusos haben es immer noch nicht geschnallt. Sie klammern sich noch an die Version des Wahlabends. Verkehrte Welt.
- Zum Trick: Ergebnisoffen.
Selbstverständlich sind Sondierungen mit der CDU/CSU und die dann folgenden Koalitionsverhandlungen nicht ergebnisoffen. Das Ergebnis wird eine große Koalition sein. Das hätte jede Delegierte und jeder Delegierte beim SPD-Parteitag wissen müssen.
- Zum Trick: „Auf den Inhalt kommt es an.“
Martin Schulz hat gegen Ende seiner Rede zusammenfassend betont, dass es auf die Inhalte ankomme: Ja, wir müssen Europa stärken, wir müssen uns um die Zukunft der Arbeit im digitalen Zeitalter kümmern, ja wir brauchen eine Bildungsrevolution; denn Bildung und Qualifizierung sind die Rohstoffe für die Zukunft. Ja wir müssen die Umwelt schützen und den Klimawandel begrenzen. Und wir müssen den Staat stärken, damit er unsere sozialen Netze aufrechterhält und die Würde im Alter garantiert. – So wörtlich und dann fragt er: wie setzen wir das durch? In welcher Form, das muss ausgelotet werden. Dafür wollen wir ergebnisoffen reden und schauen, zu welchen inhaltlichen Lösungen wir kommen können. Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf die Form! So argumentierte der SPD-Vorsitzende.
Martin Schulz hat clever beobachtet, auf was es den Delegierten ankommt und was er und die SPD-Führung bisher haben vermissen lassen. Also bieten sie das jetzt an: Inhalte einschließlich der Stärkung des Staates, „damit er unsere sozialen Netze aufrechterhält und die Würde im Alter garantiert.“ Dieser Satz ist besonders schön. Auf Substanz und Inhalt prüfen darf man ihn allerdings nicht. Vor allem darf man bei dem ganzen Gerede nicht fragen, wer mit der Zustimmung zur Schuldenbremse und zur Austeritätspolitik den Staat so an die Wand gefahren hat, wie wir es bei der Infrastruktur und im sozialen Bereich in Deutschland und Europa insgesamt erleben müssen. Da gab‘s keinen Schröder und keinen Wolfgang Clement? Und keinen Steinbrück und keinen Steinmeier und keinen Gabriel? Und keine Andrea Nahles und die anderen Frauen und keinen Schulz als Präsident des europäischen Parlaments?
- Trick: Die Flucht nach Europa
Martin Schulz hat auf dem SPD-Parteitag vorgeschlagen, spätestens im Jahre 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu verwirklichen. Er hat einen Verfassungsvertrag vorgeschlagen, der von einem Konvent geschrieben werden müsse, der dann den Mitgliedstaaten vorgelegt werde, und: „Wer dann dagegen ist, der geht dann eben aus der Europäischen Union heraus.“
Das ist ein kerniger Satz.
Der frühere Präsident des Europäischen Parlaments redet damit über die banale Realität Europas hinweg.
Diese ist geprägt von einer realen wirtschaftlichen Spaltung in wenige Länder, die wie Deutschland und Finnland und Österreich mit der gemeinsamen Währung gut zurechtkommen und andere Länder, die das Opfer der währungspolitischen Fehlplanung Europas geworden sind und unter Leistungsbilanzdefiziten und vor allem unter Arbeitslosigkeit und extrem hoher Jugendarbeitslosigkeit leiden – übrigens auch darunter, dass ihre von ihren Völkern ausgebildeten Jugendlichen in die florierenden Staaten abwandern.
Die Entwicklung ist parallel dazu geprägt von einer Deindustrialisierung in einzelnen Ländern dieses gemeinsamen Europas.
Und die Wirklichkeit Europas ist geprägt davon, dass sich einige, vor allem mittel-osteuropäische Länder vom Geist und von Abreden der EU entfernt haben. Symbolisch dafür ist die Tatsache, dass die Europäische Kommission diese Länder wegen ihrer Nicht-Kooperationen in der Flüchtlingspolitik vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.
Wer in dieser Situation und angesichts der Vergangenheit als Europapolitiker sich nicht auf den Weg macht, diese Krisen zu beseitigen, und stattdessen Zukunftsmusik macht, der meint es nicht ernst.
Martin Schulz nennt in seiner Rede auch die politischen Bereiche, derentwegen er die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ins Spiel bringt:
- Innere und äußere Sicherheit
- Klimaschutz
- Steuer- und Geldpolitik
- Kampf gegen Steueroasen
- Flüchtlingspolitik
- Entwicklungszusammenarbeit
Mindestens in diesen Bereichen müssten wir „Europa die Instrumente geben, die Europa braucht, um handlungsfähig zu sein“. Das klingt in Teilen recht gut und auch vernünftig, aber es wird in der Formulierung auch sichtbar, dass der SPD-Vorsitzende und frühere Europapolitiker auch unterhalb der Zielsetzung Vereinigte Staaten von Europa Aufgaben abgeben will.
In einigen Bereichen wird das mit der Verlagerung auf europäische Ebene nicht zum Fortschritt führen. Das gilt zum Beispiel für den Kampf gegen Steueroasen. Warum sollten wir dem Präsidenten der Europäischen Kommission und früheren Ministerpräsidenten und Finanzminister der Steueroase Luxemburg mehr Dynamik beim Kampf gegen Steueroasen zutrauen?
Richtig Erfolg haben wird der Vorschlag einer (zusätzlichen) Verlagerung der äußeren Sicherheit auf die europäische Ebene. In der Anne-Will-Sendung vom vergangenen Sonntag wurde schon sichtbar, wie sich die Militärministerin, genannt Verteidigungsministerin von der Leyen darauf freut, dass die europäische Armee neue Dynamik in die Militärausgaben bringt.
Schulz nennt als Beispiel für die Verschiebung von Aufgaben auf europäische Ebene nicht die Sozialpolitik und im breiteren Sinne des Verständnisses die Gesellschaftspolitik, also die Politik der sozialen Sicherheit usw. Diese nicht auf europäische Ebene zu verlagern, wäre richtig, weil jedes Land in diesem Bereich mit einem großen Spielraum ausgestattet ist. Aber Schulz sieht das offensichtlich anders. Zur Erläuterung muss auf den Aufmacher der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom vergangenen Sonntag hingewiesen werden.
Der dortige Artikel bringt schon in der Überschrift ein Stück Aufklärung über die Inhalte, die wir mit dem alten und neuen SPD-Vorsitzenden auch erwarten können:
„Macron drängt Martin Schulz zur Groko“
heißt es dort. Dann wird berichtet, dass der französische Präsident in mehreren Telefonaten beim SPD-Chef Schulz dafür geworben hat, europäische Reformen in einer Regierung zu unterstützen. Schulz habe gegenüber der FAS diese Telefonate bestätigt und dann wird im weiteren Verlauf des Textes davon berichtet, dass Außen- und Europapolitiker der SPD die Stunde für gekommen halten, zusammen mit Macron Merkel vor sich her zu treiben.
An den freundschaftlichen Telefonaten zwischen Schulz und dem französischen Präsidenten wie auch in dieser Einschätzung von Außen- und Europapolitikern der SPD wird sichtbar, dass die Schulz-SPD sich diesem, vom großen Geld und neoliberalen Gedankengut geprägten Präsidenten Macron verbunden fühlt, mehr jedenfalls als dem Vorsitzenden der Labour Party Corbyn. Auch daran wird sichtbar, dass diese SPD die eigentlichen Gründe ihres Absturzes auf 20,5 % immer noch nicht wahrgenommen hat: die Abwendung von sozialdemokratischem Denken und die Hinwendung zur neoliberalen Ideologie einschließlich der Stärkung des Gewichtes der Militärpolitik.
Eine wirkliche Stärkung der sozialdemokratisch geprägten oder links geprägten gesellschaftspolitischen Vorstellungen der SPD kann man von diesem Vorsitzenden nicht erwarten. Das wird besonders deutlich in einer Aussage, die im gleichen Artikel von der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zitiert wird:
„Das Schutzversprechen des Staates, das die Sozialdemokratie einst den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen erkämpft hat, kann nur über eine europäisierte Sozialdemokratie erneuert werden, weder im französischen noch im deutschen Alleingang.“
Diese Aussage ist falsch und sie ist zugleich eine Entschuldigung fürs Nichtstun auf nationaler Ebene. Der Bewegungsspielraum für eine nationale Politik zur Stärkung öffentlicher Verantwortung bei Leistungen zur Daseinsvorsorge und zur Stärkung der sozialen Sicherheit ist um vieles größer, als in der zitierten Aussage von Schulz zum Ausdruck kommt:
- Die Dänen finanzieren Systeme der sozialen Sicherheit maßgeblich über Steuern, wir in Deutschland über Beiträge. Warum sollte diese unterschiedliche Handhabung nicht möglich sein?
- Wenn wir in Deutschland alle Mittel auf die Stärkung der gesetzlichen Rente konzentrieren würden und die Förderung der Privatvorsorge durch den Steuerzahler, wie sie heute durch die staatlich geförderte Riester-Rente und die Entgeltumwandlung bei betrieblicher Altersvorsorge geschieht, einstellen würden, dann würde das völlig autonom möglich sein und es bedürfte nicht der europäischen Abstimmung. Das gleiche würde gelten, wenn wir nicht das jämmerliche Ziel von Martin Schulz, Andrea Nahles und Co. verfolgen würden, 48 % Nettorentenniveau erreichen zu wollen, sondern mindestens 53 %.
- Wenn wir unsere Verkehrswege und unsere Schulen und unsere sonstigen Infrastruktureinrichtungen in Ordnung bringen würden und dafür mehr Geld ausgeben würden, dann würden wir damit unsere Konkurrenzfähigkeit in Europa und in der Welt nicht gefährden, sondern eher stabilisieren.
- Dass Österreichs Rentenversicherung den Bürgerinnen und Bürgern Österreichs mehr bringt als in Deutschland, hat diesem Land nicht geschadet, sondern eher genutzt.
- Dass die Schweiz mit der Hereinnahme aller Einkommens- und Berufsgruppen in die Systeme der Altersvorsorge ihrer Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten nicht schadet und übrigens auch ihrem Ansehen nicht, ist offensichtlich
Es gibt sehr viel mehr Bereiche staatlicher und gesellschaftspolitischer Tätigkeit, die man national wahrnehmen könnte, als allgemein gedacht wird und als insbesondere offensichtlich der Europapolitiker und SPD-Vorsitzende Schulz denkt. In den Worten von Schulz: das Schutzversprechen, das Versprechen, für soziale Sicherheit zu sorgen, könnte auch im nationalen Alleingang erreicht werden, nicht nur auf europäischer Ebene. Wenn der SPD-Vorsitzende das nicht sehen will, dann muss man ihm vorwerfen, dass er das zentrale Anliegen einer linken Partei, nämlich für soziale Sicherheit zu sorgen, auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben will.