Plädoyer für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung. Von Klaus-Dieter Kolenda.

Klaus-Dieter Kolenda
Ein Artikel von Klaus-Dieter Kolenda

„Gesundheit und ein froher Mut sind besser als viel Geld und Gut“ sagt der Volksmund. Dass Beides aber doch irgendwie zusammengehört oder die gerechtere Verteilung des Letzteren zum Erhalt von Ersterem wesentlich beiträgt, ist das Thema von Klaus-Dieter Kolendas mitfühlendem „Plädoyer für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung“. In ihm spannt er den Bogen von den Ursachen für frühzeitiges Altern über die Rolle von Gesundheitsprävention zu Methoden, mit deren Hilfe Gesundheitsversorgung besser organisiert werden könnte. Ein wichtiger Beitrag zu einer aktuellen Debatte. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Plädoyer für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung
Klaus-Dieter Kolenda

In einer ersten Annäherung an mein Thema möchte ich klarstellen, dass aus meiner Sicht eine Gesundheitsversorgung dann als „gerecht“ anzusehen ist, wenn sie gleichen Zugang für alle Bürger gewährleistet und für Diagnostik und Behandlung allein Art und Schwere der Krankheit entscheidend sind, und dass sie als „solidarisch“ qualifiziert werden kann, wenn jeder Bürger entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit in die Krankenversicherung einzahlt und entsprechend seinem individuellen Bedarf medizinische Leistungen erhält.

Das war während meiner Facharztausbildung in den 1960er und 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Position, mit der wahrscheinlich die große Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus übereingestimmt hat. Heute ist man damit eher ein „radikaler Außenseiter“. Das zeigt, wie sich die geistige Landschaft in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Deshalb sei daran erinnert, dass man sich mit dieser Position in guter Gesellschaft befindet, lautet doch der Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 (Kurzfassung):

„Jeder Mensch hat das Menschenrecht auf einen für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden geeigneten Lebensstandard, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und notwendige soziale Leistungen“.

Der Artikel 25 steht in der Tradition der Aufklärung, geht von einer Gleichwertigkeit aller Menschen aus und steht damit im Gegensatz zu allgegenwärtigen neoliberalen Vorstellungen wie „Jeder ist allein seines Glückes Schmied“, wobei der erfolgreiche Schmied angeblich mehr Anrecht auf Gesundheit hat als der weniger erfolgreiche, weil die Gesundheit käuflich und eine Ware geworden ist.

Meine Position ist dagegen: Die Arztpraxis ist keine Kaufhalle, das Krankenhaus kein Supermarkt und die Gesundheit keine Ware, sondern ein Menschenrecht!

Ich bin seit 1967 als Arzt in der Weiterbildung, Internist und Rehabilitationsmediziner beruflich tätig und möchte mich aus meiner Sicht mit einigen Gedanken zum oben genannten Thema äußern. Dabei leitet mich die Erfahrung, dass der Mensch zwar ein biologisches Wesen ist, aber zugleich -und untrennbar damit verbunden- ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Karl Marx). Deshalb gehören natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über Gesundheit und Krankheit unbedingt zusammen und sollten eine Einheit bilden.

In den folgenden Ausführungen werde ich einige grundlegende Aspekte meines Themas behandeln, die häufig vernachlässigt werden, und ich werde Perspektiven aufzeigen, ohne die eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung nicht zu erreichen ist bzw. nicht aufrechterhalten werden kann.

Besonderheiten und Probleme unseres Gesundheitswesens

Die Gesundheitsversorgung unserer Bevölkerung ist Aufgabe des deutschen Gesundheitswesens, das aus Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken, Rehabilitationskliniken und vielen weiteren Einrichtungen besteht und kompliziert und schwer überschaubar ist [1]. Eigentlich ist es ein „Krankenwesen“, weil es ganz überwiegend kurativ, das heißt auf Behandlungen, ausgerichtet ist. Gesundheitsförderung und Prävention spielen trotz aller anders lautenden Bekundungen leider nur eine ganz untergeordnete Rolle.

Das Gesundheitswesen hat eine große volkswirtschaftliche Bedeutung. Es zählt ca. 5 Mio. Beschäftigte und erwirtschaftet ca. 11 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). 2013 wurden 315 Milliarden € für das deutsche Gesundheitswesen ausgegeben, davon betrug der Anteil der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ca. 60 Prozent.

Trotz aller Probleme und Defizite bietet das deutsche Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA [2], in weiten Bereichen eine (noch) leistungsfähige medizinische Versorgung [1]. Diese wird von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung auch positiv bewertet.

Über viele Jahrzehnte war das Gesundheitswesen eine der stabilsten Säulen unseres Sozialstaats. Dieser ist aber zunehmend brüchiger geworden. Seit einigen Jahren sind bei vielen Menschen, z. B. auf Grund von zunehmenden Leistungseinschränkungen und vermehrten Zuzahlungen, Zukunftsängste entstanden.

An Problemen und Defiziten, die sich in den letzten Jahren verschärft haben, sind zu nennen: In bestimmten Bereichen besteht teilweise eine Überversorgung und in anderen eine Unterversorgung bzw. Fehlversorgung [3]. Weiterhin ist eine zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung von medizinischen Einrichtungen festzustellen [4], und damit einhergehend eine immer stärkere Tendenz zu einer Zwei-Klassen-Medizin. Diese wird zusätzlich gefördert durch die bestehende Zweiteilung der Krankenversicherung in eine gesetzliche (GKV) und eine private (PKV), wobei die Erstere unter erheblichen Finanzierungsproblemen leidet.

Eines der wichtigsten Probleme und Defizite ist die Unterversorgung auf dem Gebiet der Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten. Nach einer kurzen Einführung und Begriffsbestimmung werden wir uns in den dann folgenden drei Abschnitten damit auseinandersetzen, wobei ich auch ausführlich auf neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheit eingehe. Anschließend wird die Weiterentwicklung der GKV zu einer solidarischen Bürgerversicherung thematisiert, ohne die eine solidarische Gesundheitsversorgung auf Dauer nicht möglich ist. Auf die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung medizinischer Einrichtungen werde ich nicht näher eingehen, empfehle aber das aktuelle und lesenswerte Buch von Wolfgang Albers über diese Thematik [4].

Altern, chronische Krankheiten und Lebenserwartung

Da chronische Krankheiten im Alter häufiger werden, müssen wir uns zunächst mit dem Altern beschäftigen. Dabei handelt es sich um einen physiologischen, fortschreitenden, bisher nicht umkehrbaren biologischen Prozess beim Menschen und den meisten höheren Organismen, der zum Verlust der normalen Organfunktionen führt und mit dem Tod endet. Die maximale Lebenszeit, die ein Individuum erreichen kann, wird durch das Altern maßgeblich mitbestimmt. Man unterscheidet zwischen primärem (physiologischem) und sekundärem Altern [5].

Das primäre Altern ist durch zelluläre Abbauprozesse bedingt, die in Abwesenheit von Krankheit ablaufen. Dadurch ist das maximal erreichbare Alter des Menschen bestimmt. Dieses beträgt nach heutigen Erkenntnissen ca. 120 Jahre. Die weltweit bisher älteste Person mit gesicherten Daten war die Französin Jeanne Calmant, die am 21.2.1875 in Arles geboren wurde und dort am 4.8.1997 im Alter von 122 Jahren verstorben ist [5].

Über die Ursachen des primären Alterns gibt es bis heute keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Theorie: Es ist eines der großen Geheimnisse der Biologie. Die vielen Theorien über die Ursachen des primären Alterns lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Die sog. Schadenstheorien und die Evolutionstheorien des Alterns [5].

Unter sekundärem Altern versteht man die Beeinflussung des Alterns durch Faktoren, die das maximal erreichbare Alter verkürzen, wie zum Beispiel Krankheiten, Bewegungsmangel, Fehlernährung und Suchtmittelkonsum. Diese Faktoren können durch den Lebensstil günstig beeinflusst werden.

Um 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland unter 50 Jahre, nur ca. 30 Prozent der Bevölkerung wurde über 65 Jahre alt [6]. Die Lebenserwartung ist seitdem im Durchschnitt um 2 bis 3 Jahre pro Jahrzehnt angestiegen. So betrug der Anstieg in Deutschland bei Männern und Frauen seit 1970 durchschnittlich 10,6 bzw. 9 Jahre. Heute liegt die Lebenserwartung in Deutschland bei 83 Jahren für Frauen und 78 Jahren für Männer, wobei mehr als 70 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre wird [5].

Wie alt wir werden, hängt aber nicht nur von biologischen, sondern auch von sozialen Faktoren wie dem Einkommen ab. Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Studie der Lebensversicherung Zurich. Demnach werden in Deutschland Männer mit hohem Einkommen im Durchschnitt 11 Jahre älter als Geringverdiener [6]. Während armutsgefährdete Männer im Schnitt eine Lebenserwartung von 70,1 Jahren haben, leben reiche Männer in Deutschland durchschnittlich 81 Jahre. Bei den Frauen beträgt der Unterschied immerhin 8 Jahre.

Wie schon gesagt, ist Altern mit dem Auftreten von chronischen Krankheiten eng verbunden, den so genannten Alterskrankheiten. In dieser Diskussion haben die renommierten britischen Forscher Peto und Doll 1997 die provokante These vertreten:

„Es gibt kein Altern – hohes Alter ist mit Krankheit verbunden, aber verursacht sie nicht“ [5][7].

Sie wollten damit sagen: Über die biologischen Ursachen des Alterns beim Menschen besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit- deshalb gibt es auch kein allgemein anerkanntes Prinzip, mit dem man den Alternsprozess günstig beeinflussen bzw. verlangsamen kann. Es kommt stattdessen darauf an, das Auftreten von (chronischen) Krankheiten im Alter zu vermeiden bzw. hinauszuschieben [7].

Was sind chronische Krankheiten? Es sind Krankheiten, die sich langsam entwickeln, meist erst im Alter manifest werden und entscheidend sind für Lebensdauer und Lebensqualität der meisten Menschen. So sterben weltweit 63 Prozent, in Europa 86 Prozent und in Deutschland 92 Prozent an chronischen Krankheiten [8].

Chronische Krankheiten treten häufig gemeinsam auf („Multimorbidität“) und haben meist viele verschiedene Ursachen, sind also „multifaktoriell“ bedingt. Man spricht auch von einem „bio-psycho-sozialem Krankheitsmodell“, d. h. neben biologischen bzw. genetischen sind meist auch psychische und soziale ursächliche Faktoren für die Entstehung dieser Krankheiten von großer Bedeutung. Deshalb besteht hier auch ein großes Präventionspotential, das aber leider weitgehend brach liegt.

Soziale Ungleichheit und Krankheit

Die UNO unterscheidet in ihren Publikationen zwischen Ländern mit hohem Einkommen, den so genannten reichen Ländern, wozu die USA, die Länder der EU, Kanada, Australien, Neuseeland, Singapur und Japan gehören, Ländern mit mittlerem Einkommen, den so genannten Schwellenländern, wie Brasilien, China und Russland, und Ländern mit niedrigem Einkommen, den so genannten armen Ländern, zu denen die Länder in Subsahara-Afrika (mit Ausnahme von Südafrika) gerechnet werden [9].

Seit langem ist bekannt, dass die individuelle Lebenserwartung in jedem einzelnen Land mit dem individuellen Einkommen korreliert. Das gilt auch für die reichen Länder. So besteht z. B. in England und Wales zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel der Bevölkerung ein Unterschied von 7 bis 8 Lebensjahren [10]. In Deutschland beträgt der Unterschied derzeit etwa 10 Lebensjahre [6][11].

Während jedoch in den armen Ländern und den Schwellenländern die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem durchschnittlichen Einkommen pro Kopf der Bevölkerung korreliert und entsprechend ansteigt, ist seit Anfang der 1990er Jahre bekannt, dass das in den reichen Ländern nicht der Fall ist. Hier sind die durchschnittliche Lebenswartung und viele weitere gesundheitliche und soziale Parameter mit dem Grad der sozialen Ungleichheit korreliert [12].

Die entscheidende neue Erkenntnis ist, dass Sterblichkeit, Gesundheit und viele soziale Probleme in den reichen Ländern weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums. Je gleicher dieser verteilt ist, desto besser ist die Volksgesundheit [13]. Diese Erkenntnis, aus der sich wichtige gesundheits- und sozialpolitische Implikationen ergeben, ist in dem 2009 erschienenen Buch mit dem Titel „The Spirit Level. Why more equal societies almost always do better“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett eindrucksvoll dargestellt, das als ein Meilenstein der Sozialwissenschaften gilt [14].

Die deutsche Übersetzung („Gleichheit ist Glück“;) [15] hat leider einen etwas missverständlichen Titel, denn es geht in diesem Buch ja nicht um die großen Worte Gerechtigkeit und (subjektives) Glücksempfinden, sondern um objektive gesundheitliche und soziale Indikatoren für Wohlergehen, Wohlbefinden und Lebensqualität. Deshalb wurde wohl auch der Titel der deutschen 5. Auflage (erschienen im März 2016) verändert und heißt jetzt „Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ [16]. Diese Ausgabe des Buches von Wilkinson und Pickett gibt es zum ersten Mal als preiswertes Taschenbuch und es enthält ein lesenswertes aktuelles Vorwort, das auch auf die Verhältnisse in Deutschland eingeht und wissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre zu dieser Thematik darstellt.

Wörtlich übersetzt lautet der oben angegebene englische Originaltitel: „Die Wasserwaage. Warum Gesellschaften mit mehr Gleichheit fast immer besser dran sind“. Die Wasserwaage ist eine Metapher für die Messlatte „soziale Ungleichheit“, die bei der Beurteilung der in dem Buch behandelten Probleme angelegt wird. Die Autoren haben die Statistiken der Industrieländer der letzten Jahrzehnte durchforstet auf der Suche nach Korrelationen zwischen sozialer Ungleichheit, ausgedrückt in Einkommensverteilungsmustern, und dem Ausmaß der gesundheitlichen und sozialen Probleme und sind dabei fündig geworden.

Das Buch zeigt auf der Basis der verfügbarer Daten, dass viele der heute im Vordergrund stehenden gesundheitlichen und sozialen Probleme in den reichen Ländern mit dem Grad der sozialen Ungleichheit, gemessen als Einkommens-ungleichheit, das heißt als 80/20-Dezilverhältnis, korrelieren.

Dieses Verhältnis zeigt an, um wie viel größer das Einkommen der oberen 20 Prozent im Vergleich zu den unteren 20 Prozent ist. Diese Zahlen liegen zwischen 3,4 für Japan, 3,6 für Finnland und 3,9 für Schweden am unteren Ende und 7,2 für Großbritannien, 8,5 für die USA und 9,7 für Singapur am oberen Ende der Skala. Deutschland liegt mit 5,2 im mittleren Bereich. Anzumerken ist hier, dass diese Zahlen auf OECD-Daten aus den ersten Jahren nach 2000 beruhen [15]. Für die Aussagen der Studie ist das aber ohne Belang, da diese sich aus den relativen Werten der Einkommensungleichheit in den verschiedenen reichen Ländern ableiten, die sich nicht wesentlich verändert haben. In Deutschland ist weiterhin die Ungleichheit größer als in den skandinavischen Ländern, aber geringer als in den USA und Großbritannien [16].

Mit wachsender Ungleichheit auf der skizzierten Einkommensungleichheits-Skala steigen die untersuchten gesundheitlichen und sozialen Probleme deutlich an. So ist die durchschnittliche Lebenserwartung in reichen Ländern mit mehr Ungleichheit niedriger, die Säuglings- und Kindersterblichkeit höher und es gibt mehr psychische Krankheiten, mehr Drogenmissbrauch, mehr Gewalt und mehr Gefängnisinsassen als in Ländern mit weniger Ungleichheit. Viele Menschen in den unteren, aber auch in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten werden davon in Mitleidenschaft gezogen.

Da die Adipositas (BMI größer als 30 kg/m2), auch als Fettleibigkeit bezeichnet, eine ernste krankmachende Fehlentwicklung und neben dem Rauchen, wie unten ausgeführt, heute der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten lebensstilbedingter chronischer Krankheiten ist, sind die Befunde hinsichtlich der Häufigkeit dieses Faktors in verschiedenen reichen Ländern besonders interessant. Der Anteil der Erwachsenen mit Adipositas ist in den Ländern mit mehr Ungleichheit deutlich höher. So sind z. B. in den USA, einem der Länder mit der größten Ungleichheit, ca. 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung fettleibig, in Deutschland ca. 20 Prozent, in Norwegen und Schweden ca.10 Prozent und Japan liegt mit 2,4 Prozent noch deutlich darunter. Vergleichbare Unterschiede finden sich auch beim Anteil übergewichtiger Jugendlicher (BMI größer als 25 kg/m2).

Vergleicht man die Gesundheitsdaten einzelner Bevölkerungsgruppen in Ländern mit höherer und geringerer Ungleichheit, so zeigt sich, dass auch für eine Reihe weiterer chronischer Krankheiten mehr Gleichheit Vorteile bringt. In einer 2006 veröffentlichten Studie zeigte sich, dass die Häufigkeit von Diabetes, Bluthochdruck, Krebs und Lungen- und Herzkrankheiten auf jeder Bildungsstufe in England deutlich niedriger ist als in den USA [14][15][16][17].

Ein wesentlicher Teil des Buches besteht aus einer sachlichen und unaufgeregten Debatte über die Frage, was diesen Korrelationen zugrunde liegt. Die These ist, dass es sich hier wahrscheinlich um einen ursächlichen Zusammenhang handelt. Zur Begründung werden Befunde aus der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur herangezogen. Ein Argumentationsstrang ist, dass Einkommensunterschiede zu Statuskonkurrenz und Statusunbehagen führen. Letztere sind in reichen Ländern mit mehr Ungleichheit in allen Schichten der Bevölkerung stärker ausgebildet als in Ländern mit weniger Ungleichheit [18]. Statusunbehagen kann objektiv vermehrte Stressbelastungen hervorrufen und subjektiv das Wohlbefinden beeinträchtigen.

Ein weiterer Ausgangspunkt der Überlegungen ist die gefundene Korrelation zwischen dem Niveau des gesellschaftlichen Vertrauens und dem Ausmaß der Ungleichheit. In den Ländern mit einem größeren sozialen Gefälle besteht ein niedriges Niveau des Vertrauens zwischen den Menschen und dadurch kommt es zum vermehrten Auftreten von Unsicherheiten, Ängsten, Depressi­onen und Stressbelastungen.

Im letzten Teil des Buches geht es um die gesell­schaftliche Therapie. Die Autoren sprechen sich klar gegen den Neoliberalismus aus und schla­gen Maßnahmen vor, mit denen mittel- und langfris­tig das soziale Gefälle abzubauen wäre. Angeführt werden eine hö­here Besteuerung der Einkommen mit mehr sozialstaatli­cher Umverteilung wie in den skandinavischen Ländern oder eine Verminderung der Einkommensunterschiede durch höhere Löhne und Gehälter und mehr Ausgaben für Bildung wie in Japan. Am Besten würde ein Zusammenwirken beider Maßnahmen wirken.

Die Frage ist natürlich, wie das politisch umgesetzt werden kann. Hier vertrauen die Autoren auf die Einsicht, dass gesellschaftliche Veränderungen in Richtung eines Abbaus des sozialen Gefälles und mehr soziale Gleichheit im objektiven Interesse der gesamten Bevölkerung, auch der Wohlhabenden, liegen. Dafür liefern sie in ihrem Buch überzeugende Argumente. Um die Diskussion über ihre Vorstellungen zu befördern, haben sie eine Stiftung (The Equality Trust) gegründet, die sich mit einer informativen Website an alle Interessierten wendet [19].

Aus den dargelegten Befunden und Interpretationen lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass den angesprochenen gesellschaftlichen Problemen zunächst vorrangig mit Maßnahmen einer Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik entgegengewirkt werden müsste, mit der die soziale Ungleichheit abgebaut werden kann. Dazu gehört auch eine bessere Bildung für alle. Das gilt auch für den bedrohlichen Anstieg der Adipositas in den Ländern mit hohem Einkommen. Eine Verringerung der materiellen Ungleichheit wäre wahrscheinlich ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Fettleibigkeit und, wie unten dargestellt, vieler damit zusammenhängender lebensstilbedingter chronischer Krankheiten.

Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten

Die Prävention chronischer Krankheiten soll diese verhindern, heilen oder lindern. Man unterscheidet zwischen Maßnahmen zur Primärprävention, die darauf abzielen, durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil die Entstehung einer chronischen Krankheit bei (noch) Gesunden zu verhindern, und Maßnahmen zur Sekundärprävention, die zum Ziel haben, das Fortschreiten einer schon bestehenden chronischen Krankheit durch Lebensstiländerungen (und andere Maßnahmen) günstig zu beeinflussen.

Weiterhin gibt es der Begriff der Tertiärprävention. Dabei handelt es sich um den Versuch der Schadensbegrenzung und der Verhinderung und Verminderung von Folgeschäden bei bereits chronisch Erkrankten. Dieser Begriff hat sich aber nicht überall durchsetzen können. Die Inhalte werden meist der Sekundärprävention zugeordnet. Deshalb wird im Folgenden nur zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden. Dabei handelt es sich um Maßnahmen der Verhaltensprävention. Davon zu unterscheiden ist die Verhältnisprävention, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird.

Der Primärprävention chronischer Krankheiten gebührt entsprechend dem Leitspruch „Vorbeugen ist besser als Heilen“ absolute Priorität. Für die Primärprävention sind derzeit andere Berufsgruppen meist besser aufgestellt als die Ärzteschaft, zum Beispiel ErzieherInnen und PädagogInnen. Man spricht hier auch von nicht-medizinischer Primärprävention. Aber es gibt auch auf diesem Gebiet wichtige Aufgaben, die heute unbedingt in eine Arztpraxis gehören, zum Beispiel bei der Primärprävention von Krebskrankheiten und des Diabetes mellitus Typ 2 bei Risikogruppen, für die es ausgefeilte Programme gibt [20].

Wenn Maßnahmen der Sekundärprävention angewendet werden, besteht schon eine chronische Krankheit, die in ihrem Verlauf günstig beeinflusst werden soll. Ein klassisches Beispiel dafür ist die koronare Herzkrankheit (KHK), bei der nach einem ersten Herzinfarkt ein möglicher erneuter Infarkt oder andere Komplikationen durch Lebensstiländerungen vermieden werden sollen. Auf diesem Gebiet hat sich in Deutschland ein Netz von mehr als 6000 ambulanten Herzgruppen bewährt, die bundesweit für chronisch Herzkranke im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes eine regelmäßige Sport- und Bewegungstherapie anbieten [20][21].

Wichtig ist aber auch, dass „chronisch krank“ nicht automatisch bedeuten muss, lebenslang krank zu sein. Auf dem Gebiet der Sekundärprävention besteht ein enormes Potential zur Senkung der Zahl chronisch Kranker [22]. So entwickelt sich beispielsweise ein Typ-2-Diabetes meist als Komplikation einer Adipositas. Wenn es gelingt, bei diesen Patienten durch eine gesunde Ernährungsweise und regelmäßige körperliche Aktivität eine deutliche Gewichtsabnahme zu erreichen, bessert oder normalisiert sich in einem hohen Prozentsatz die diabetische Stoffwechsellage [23][24]. Ähnlich bedeutsame direkte Zusammenhänge bestehen zwischen Adipositas und Hypertonie [22].

In den letzten 50 Jahren ist es zu einem grundlegenden Wandel des Krankheits-spektrums in den reichen Ländern gekommen. Standen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Infektionskrankheiten auf der Liste der Krankheiten, die zum Tode führen, ganz oben an, so sind heute die chronischen Krankheiten an diese Stelle getreten. Diese werden in den Publikationen der WHO „non-communicable diseases (NCD)“, das heißt „nicht-übertragbare Krankheiten“, genannt [8][9]. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität vieler Menschen erheblich und sind in vielen Fällen für deren vorzeitigen Tod verantwortlich. Deshalb sollten heute die Vermeidung beziehungsweise Heilung chronischer Krankheiten oder, wenn das nicht mehr möglich ist, deren günstige Beeinflussung bei den präventiven Maßnahmen zur Gesund- und Lebenserhaltung ganz im Mittelpunkt stehen.

Um welche chronischen Krankheiten geht es dabei vorrangig? Es handelt sich um die Erkrankungen, die heute die Todesursachenstatistik anführen. Dazu gehören die KHK einschließlich des Herzinfarkts, die zerebrale Ischämie mit dem Schlaganfall, die Hypertonie, die Adipositas mit dem Diabetes mellitus Typ 2 als wichtigster Folgeerkrankung, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und die häufigsten Krebserkrankungen. Diese Krankheiten werden auch als chronische Volkskrankheiten oder Zivilisationskrankheiten bezeichnet.

2004 konnte gezeigt werden, dass für die Hälfte der jährlichen Todesfälle in den USA „vermeidbare“ Todesursachen verantwortlich waren [25][26]. An der Spitze der Todesursachenliste standen das Rauchen und die Fehlernährung mit Übergewicht/Adipositas einschließlich Bewegungsmangel. Dabei handelt es sich neben dem Alkoholmissbrauch um drei Komponenten eines tödlichen Quartetts, denen die WHO bei der Prävention der NCD große Bedeutung beimisst [27]. Diesem Quartett konnten ca. 40 Prozent der Todesfälle zugeordnet werden.

2013 starben in Deutschland 121.000 Menschen an ihrem Tabakkonsum, darunter 40 bis 50 Prozent an Krebserkrankungen, ca. 30 Prozent an chronischen Herz-Kreislaufkrankheiten und ca. 20-30 Prozent an chronischen Lungenerkrankungen [28]. Damit waren in diesem Jahr 13,5 Prozent aller Todesfälle auf das Rauchen zurückzuführen. Etwa die Hälfte aller Raucher verstirbt an einer Erkrankung, die durch das Rauchen verursacht wird. Ca. 50 Prozent davon stirbt vorzeitig in mittleren Jahren (35-69 Jahre) und verliert im Durchschnitt 22 Lebensjahre. Bezogen auf alle Raucher bedeutet das Rauchen einen Verlust von etwa 10 Lebensjahren [29].

Auch die Adipositas, von der inzwischen mehr als 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland betroffen sind, ist eine wesentliche Ursache für viele gravierende chronische Krankheiten [30]. Dazu zählen der Typ-2-Diabetes mellitus, der im Laufe des Lebens bei etwa jedem dritten Adipösen auftritt, aber auch chronische Herz-Kreislauferkrankungen wie die KHK mit dem Herzinfarkt, die Hypertonie mit dem Schlaganfall und bestimmte Krebserkrankungen. Eine große Metaanalyse hat ergeben, dass 15 bis 20 Prozent aller tödlichen Krebserkrankungen in den USA mit der Adipositas in Zusammenhang stehen [31].

Eine 2013 publizierte prospektive dänische Studie an mehr als 6.500 Männern, die 33 Jahre lang beobachtet wurden, konnte zeigen, dass diese Zusammenhänge auch für das junge und mittlere Lebensalter gelten: Wer mit 20 Jahren adipös war, hatte bis zum 55. Lebensjahr mindestens die doppelte Chance, eine Hypertonie zu entwickeln, einen Herzinfarkt zu erleiden und vorzeitig zu versterben [32]. Das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes war sogar 8-fach erhöht!

Aus neueren Publikationen der WHO ergibt sich, dass die NCD mittlerweile weltweit für ca. 63 Prozent und in den reichen Ländern für bis zu 90 Prozent aller Todesfälle verantwortlich zu machen sind [8][33]. In einer Veröffentlichung in Vorbereitung auf die 2011 in New York durchgeführte globale wissenschaftliche UN-Konferenz über die Bedeutung der NCD kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass fast 70 Prozent der Todesfälle in Ländern mit hohem Einkommen auf Risikofaktoren zurückgehen, die mit dem tödlichen Quartett zusammenhängen [9]. In Ländern mit mittlerem Einkommen, den so genannten Schwellenländern, hat sich inzwischen eine vergleichbare Situation entwickelt.

In den letzten Jahren sind weltweit 29 prospektive Studien über den Zusammenhang von Lebensstilfaktoren einerseits und Morbidität und Mortalität chronischer Krankheiten andererseits veröffentlicht worden, die alle gezeigt haben, dass ein gesunder Lebensstil ein hohes Potential zur Prävention chronischer Krankheiten aufweist [34].

Eine der überzeugendsten Untersuchungen wurde auf der Basis der Potsdamer Daten der europäischen EPIC-Studie an mehr als 23.000 Teilnehmern im Alter von 35 bis 65 Jahren durchgeführt [35]. Ziel dieser Studie war die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen 4 gesundheitsförderlichen lebensstilbedingten Schutzfaktoren (Nie-Rauchen, BMI kleiner als 30 kg/m2, regelmäßige körperliche Aktivität von mindestens 3,5 Std. pro Woche und eine gesunde Ernährung, d. h. viel Obst und Gemüse, Vollkornprodukte und wenig Fleisch) und dem Auftreten von Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall und Krebskrankheiten. Die 4 Schutzfaktoren wurden zu einem Index von 0 bis 4 aufsummiert.

In der Beobachtungszeit von etwa 8 Jahren verminderte sich das Erkrankungsrisiko kontinuierlich und drastisch in Abhängigkeit der Anzahl der festgestellten Schutzfaktoren. Teilnehmer mit 4 günstigen Faktoren wiesen ein um 78 Prozent geringeres Risiko für die Entwicklung der genannten chronischen Krankheiten auf!

Somit besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass es mit Hilfe eines gesundheitsförderlichen Lebensstils gelingen kann, die oben genannten chronischen Krankheiten, die vor allem mit dem tödlichen Quartett zusammenhängen, weitgehend zu vermeiden [36]. Durch Lebensstiländerungen wie der Beendigung des Rauchens, einer fett- und energiearmen Ernährung, mit der man Übergewicht vermeiden bzw. abbauen kann, und einer regelmäßigen körperlichen Aktivität lassen sich wahrscheinlich mindestens die Hälfte aller Todesfälle aufgrund der oben genannten chronischen Krankheiten vermeiden [20].

In den Empfehlungen der WHO zur Prävention chronischer Krankheiten wird der Faktor Stress nicht erwähnt. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die Rolle von Stress für Entstehung und Verlauf chronischer Krankheiten vergleichsweise schwerer zu untersuchen ist und deshalb weniger gut abgeklärt erscheint. Trotzdem gibt es überzeugende Untersuchungen, die belegen, dass chronische Stressbelastungen für die Entstehung und den Verlauf so wichtiger chronischer Krankheiten wie der Hypertonie, der KHK und der zerebralen Ischämie von großer Bedeutung sind [37].

Außerdem ist spätestens seit den Whitehall-Studien das Konzept der psycho-sozialen Risikofaktoren gut etabliert und wissenschaftlich anerkannt [38][39]. Von den Autoren konnte schon Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gezeigt werden, dass der Herzinfarkt keine „Manager-Krankheit“ ist, wie damals angenommen, sondern bei Büroangestellten deutlich häufiger auftritt als bei ihren Chefs. Deshalb gehört auch der Abbau von chronischen Stressbelastungen zu den wichtigen Maßnahmen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils [20].

Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass wichtige Risikofaktoren für chronische Krankheiten wie Rauchen und Adipositas auf Grund von Fehlernährung und Bewegungsmangel einen schichtspezifischen sozialen Gradienten aufweisen [40][41]. Dieser liegt in einer Größenordnung von 2 bis 3. Das bedeutet, dass diese Risikofaktoren auch in den oberen Einkommensschichten auftreten, aber in den unteren doppelt bis dreimal so häufig sind. Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte, wie oben schon ausführlich dargestellt, in der sozialen Ungleichheit zu sehen sein, die über vermehrte Statuskonkurrenz bzw. Statusunbehagen zu vermehrten chronischen Stressbelastungen führt [12][13][14][15][16]. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn auch viele chronische Krankheiten einen schichtspezifischen sozialen Gradienten aufweisen.

Diese soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen lässt sich offensichtlich mit Maßnahmen der etablierten ambulanten und stationären medizinischen Versorgung nicht ausgleichen. Sie ist wahrscheinlich langfristig nur durch eine umfassende Förderung der Prävention in Kombination mit progressiven sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen erfolgreich anzugehen. Das ist ein weiteres wesentliches Argument für mehr Anstrengungen und wirkungsvollere Bemühungen auf dem Gebiet der Prävention chronischer Krankheiten in Deutschland.

Chronische Krankheiten sind somit zu einem wesentlichen Teil Folgen eines krankheitsfördernden Lebensstils, der durch Verhaltensprävention günstig zu beeinflussen ist [20][42]. Die Vermittlung von verhaltenspräventiven Maßnahmen, vor allem im Bereich der Sekundärprävention, ist in erster Linie Aufgabe der Heilberufe, insbesondere der Ärzteschaft, denn chronisch Kranke suchen in der Regel den Arzt auf und bilden heute schon die Mehrheit in der ärztlichen Sprechstunde.

Leider steht aber die Prävention chronischer Krankheiten bei den meisten Ärzten derzeit nicht hoch im Kurs. Neben der mangelhaften finanziellen Vergütung von Präventionsmaßnahmen mag ein Grund daran liegen, dass von alters her die Behandlung von Kranken Aufgabe der Medizin ist und es sich bei der Prävention scheinbar um Gesunde handelt, was aber für die Sekundärprävention nicht zutrifft. Außerdem ist Prävention während des Medizinstudiums und der anschließenden ärztlichen Weiterbildung auch heute noch leider nur ein Thema am Rande. Es gibt mittlerweile jedoch eine Reihe von effektiven verhaltenspräventiven Maßnahmen, zum Beispiel bei der Raucherentwöhnung, der Adipositas-Behandlung und der Diabetes-Prävention, die in jeder Arztpraxis erfolgreich durchgeführt werden könnten [20].

Aber auch wenn es gelänge, einen größeren Teil der Ärzteschaft und anderer Heilberufe zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Prävention zu bewegen, würde das sicher allein nicht ausreichen, um das massenhafte Auftreten der chronischen Krankheiten in unserer Bevölkerung zu stoppen bzw. in zufriedenstellendem Maße zurückzudrängen [40]. Um dieses Ziel zu erreichen, sind neben den oben genannten sozial- und steuerpolitischen Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit effektive verhältnispräventive Maßnahmen ebenfalls sehr wichtig.

Verhältnispräventive Maßnahmen beziehen sich vor allem auf die Rahmen-bedingungen unseres Lebens und sind deshalb in erster Linie Aufgabe der Politik.
Dazu gehören auf dem Gebiet der Tabakkontrolle ein bundeseinheitliches umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ohne Ausnahmen und ein komplettes Tabakwerbeverbot [43]. Verhältnispräventive Maßnahmen werden auch zur Adipositas-Kontrolle vorgeschlagen, wie zum Beispiel die Kennzeichnung der Lebensmittel nach dem Ampelprinzip [20]. Ebenso müssten die Rahmenbedingungen für die Förderung von regelmäßiger körperlicher Aktivität verbessert werden, zum Beispiel durch die Förderung des Schulsports und die Erleichterung des Zugangs zu Sportvereinen für Kinder und Jugendliche aus Familien der unteren Einkommensschichten.

Diese wenigen Beispiele von möglichen verhältnispräventiven Maßnahmen zeigen, dass hier ein Problem besteht. Denn die Prävention hat nicht nur Unterstützer und Freunde. Bestimmte Kreise der Politik sehen sich nicht primär als Sachwalter der gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung, sondern vor allem als Vertreter der wirtschaftlichen Interessen von Industriezweigen, deren Profit vom krankheits-fördernden Verhalten eben dieser Bevölkerung abhängt. Deshalb werden Erfolge bei der Verhältnisprävention nur zu erreichen sein, wenn von Seiten der Politik die gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung als höherwertig eingeschätzt werden als zum Beispiel die Interessen der Zigarettenindustrie, der Werbeindustrie oder der Nahrungsmittelindustrie.

Erfolge auf dem Gebiet der Prävention hängen aber auch von der Gesundheitskompetenz des Einzelnen ab. Darunter ist die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen zu verstehen, etwas für seine Gesundheit und deren Erhaltung zu tun. Das setzt voraus, dass er sich das nötige Wissen angeeignet hat, das hierfür erforderlich ist, und motiviert ist, es soweit wie möglich umzusetzen. Dazu könnten Patientenschulungen für Betroffene in Arztpraxen und Kliniken über die wichtigsten chronischen Krankheiten und deren Behandlung beitragen [20].

Diese Ausführungen sollen auch deutlich machen, dass der Weg zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil breiter Bevölkerungskreise, mit dem chronische Krankheiten verhindert oder gelindert werden können, mühsam ist [44]. Angesichts der oben angeführten Probleme auf gesundheitlichem Gebiet bei uns in Deutschland ist es jedoch eine der wichtigsten Aufgaben einer fortschrittlichen Gesundheitspolitik.

Eine bevölkerungsweite effektive Prävention chronischer Krankheiten kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen. Voraussetzung ist das Zusammenwirken von Verhaltensprävention als Primärprävention, zum Beispiel in Kindergarten, Schule und Betrieb, und als Sekundärprävention, zum Beispiel in der Arztpraxis, in Kombination mit der Verhältnisprävention. Die Ärzteschaft und die Heilberufe sollten sich dabei vor allem auf die verhaltenspräventive Sekundärprävention konzentrieren, ohne aber die Primärprävention ganz aus den Augen zu verlieren [20].

Darüber hinaus ist eine Neuorientierung der Medizin mit einem stärkeren Gewicht der Prävention notwendig, weil einseitig kurativer Fortschritt jede Volkswirtschaft einer Gesellschaft, die das Recht auf Gleichheit bei der medizinischen Versorgung gewährleisten will, auf Dauer überfordern kann [45].

Solidarische Gesundheitsversorgung

Deutschland leistet sich als einziges europäisches Land ein duales System einer gesetzlichen und privaten Krankenversicherung (GKV und PKV), das aus sozialpolitischer Sicht keinen Sinn macht [1]. In der GKV sind ca. 90 % aller versicherungspflichtigen Bürger mit einkommensabhängigen Beiträgen bis zur Beitragsbemessungsgrenze versichert. Es handelt sich um eine einheitliche Vollversicherung. Der PKV dagegen gehören etwa 10 Prozent der Bevölkerung an. Die meisten sind Akademiker, Beamte oder Selbstständige. Sie zahlen risikoabhängige Beiträge und haben nur Anspruch auf die vereinbarten Leistungen.

Die GKV ist seit der Einführung durch Bismarck 1883 ein Erfolgsmodell und Kernstück unserer sozialen Sicherung. Es beruht auf drei Prinzipien, dem der Solidarität, der Beitragsfinanzierung und der Versicherungspflicht.

Das Prinzip der Solidarität bedeutet, dass die Risiken von allen Versicherten gemeinsam getragen werden, weil die Leistungen unabhängig von der Höhe des Beitrags sind. Es besteht ein solidarischer Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken. Die Besserverdienenden sind hiervon allerdings ausgenommen, da sie meist nicht in der GKV, sondern in der PKV versichert sind.

Das Prinzip der Beitragsfinanzierung bedeutet, dass die Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf der Basis des jeweiligen Bruttoeinkommens geleistet werden, und das Prinzip der Versicherungspflicht hat zur Folge, dass bis zur Versicherungspflichtgrenze der weitaus größte Teil der Bürger in der GKV krankenversichert ist.

Die Finanzierung der GKV steckt jedoch in einer Krise. Das Hauptproblem ist, dass seit den letzten zwei Jahrzehnten die Einnahmen sinken, da die Arbeitnehmerentgelte stagnieren bzw. sinken und Arbeitgeberbeiträge vom Gesetzgeber eingefroren sind (Abschaffung der paritätischen Finanzierung).
Daneben ist eine moderate Ausgabensteigerung durch demographische Faktoren (Zunahme der Zahl chronisch Kranker) und eine die Kosten in die Höhe treibende Weiterentwicklung der Medizin festzustellen.

Die Folgen sind, dass in den letzten Jahrzehnten die prozentualen KV-Beiträge der Arbeitnehmer gestiegen sind und wahrscheinlich in Zukunft noch weiter steigen werden. Außerdem ist es zu einer Entsolidarisierung der Arbeitgeber gekommen. Deshalb sind höhere Zuschüsse aus Steuern für die GKV erforderlich, der Leistungskatalog wurde reduziert und wird in Frage gestellt, die Zuzahlungen der Versicherten haben zugenommen, und es entwickelt sich sozialer Sprengstoff durch eine wachsende Tendenz zur Zwei-Klassen-Medizin.

Aus diesen Gründen ist eine Weiterentwicklung der GKV zu einer solidarischen Bürgerversicherung dringend geboten. Dabei handelt es sich um eine einheitliche Pflichtversicherung für alle Bürger, die die Besserverdienenden einschließt und dadurch eine Stärkung des Solidarprinzips bedeutet. Weiterhin sollte die paritätische Finanzierung wiederhergestellt werden.

Im Zentrum dieses Konzeptes stehen eine gerechte Beitragsermittlung auf der Basis aller Einkommensarten und die schrittweise Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze bis hin zu deren eventueller Abschaffung. Die PKV könnte dann auf die Versicherung von Zusatzleistungen beschränkt werden.

Für eine einheitliche und solidarische Bürgerversicherung im Bereich der Krankenversicherung besteht schon heute eine hohe Zustimmungsrate in der Bevölkerung. Nach einer aktuellen Umfrage der IG-Metall befürworten zwei Drittel der Deutschen die Bürgerversicherung bei gleichzeitiger Abschaffung der PKV [46]. Da deren Einführung die finanzielle Absicherung einer einheitlichen und solidarischen Gesundheitsversorgung für alle Bürger bedeuten würde, wäre das ebenfalls eine wichtige Maßnahme einer Sozialpolitik, mit der mehr Gleichheit in unserer Gesellschaft erreicht werden könnte.

Mehr Gleichheit bei der Gesundheitsversorgung könnte zu weniger Statuskonkurrenz und weniger Stress in der Gesellschaft führen. Vielleicht könnte die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung auch dazu beitragen, den sozialen Gradienten bei der Häufigkeit chronischer Krankheiten abzubauen. Sie wäre dann ebenfalls ein eigenständiger Beitrag zur Prävention chronischer Krankheiten.

Und schließlich könnte die Einführung einer einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung im Bereich der Krankenversicherung der erste Schritt sein zu einer umfassenden sozialen Sicherung, die zusätzlich die Pflege- und die Rentenversicherung einbezieht und nach den gleichen grundlegenden Prinzipien aufgebaut ist [47].

Fazit

  1. Da Menschen in reichen Gesellschaften mit mehr sozialer Gleichheit in körperlicher und seelischer Hinsicht gesünder leben, sind alle Maßnahmen zum Abbau der sozialen Ungleichheit auch Beiträge zur gesundheitlichen und sozialen Prävention. Hier dürfte ein großes Potential zur Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten verborgen sein.
  2. Die Prävention lebensstilbedingter chronischer Krankheiten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese erfordert ein Zusammenwirken von Verhaltensprävention als Primärprävention, zum Beispiel im Kindergarten, in der Schule und im Betrieb, und als Sekundärprävention, zum Beispiel in der Arztpraxis, in Kombination mit der Verhältnisprävention. Die Heilberufe sollten sich dabei vor allem auf die verhaltenspräventive Sekundärprävention konzentrieren, ohne aber die Primärprävention ganz aus den Augen zu verlieren.
  3. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) muss zu einer einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung erweitert werden, die alle medizinisch-notwendigen Leistungen finanzieren kann und das Recht auf Gleichheit bei der medizinischen Versorgung sicherstellt. Die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung kann ein Beitrag dazu sein, die soziale Ungleichheit abzubauen.
  4. In der Medizin ist eine Neuorientierung hin zu mehr Prävention von chronischen Krankheiten notwendig, denn einseitig kurativer Fortschritt kann jede Gesellschaft, die ein Recht auf Gleichheit bei der Gesundheitsversorgung anerkennt und das Ziel hat, diese zu gewährleisten, auf die Dauer überfordern.

Zum Autor: Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik. Er ist weiterhin als medizinischer Sachverständiger tätig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe Fach- und Sachbücher über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst. Zuletzt hat er sozialmedizinische, sozialpolitische und friedenspolitische Beiträge in verschiedenen alternativen Online-Medien und Websites veröffentlicht. (Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda / E-Mail: klaus-dieter.kolenda(at)gmx.de)


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[«40] Tabakatlas Deutschland 2015. Herausgeber: Deutsches Krebszentrum 2015, S. 46-47

[«41] bmel.de – Nationale Verzehrs Studie II

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[«43] Deutsches Krebsforschungszentrum (dkfz); siehe dort unter tabakkontrolle.de

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[«46] Tagesspiegel – Zwei Drittel befürworten Bürgerversicherung

[«47] christophbutterwegge.de – Buergerversicherung