Die SPD soll eine Merkel-Minderheitsregierung tolerieren? Was für eine Schnapsidee
Jamaika ist gescheitert und nun ist es an der SPD, sich Gedanken darüber zu machen, ob man Sondierungen mit der Union aufnimmt oder Neuwahlen anstrebt. Mitten in diesen Denkprozess platzt nun jedoch eine recht skurrile Forderung des SPD-Europapolitikers Jo Leinen, die auch vom Vorwärts aufgegriffen wird und offenbar vor allem beim konservativen Flügel der SPD durchaus Unterstützung findet – die SPD solle zwar nicht mit der Union koalieren, aber man könne doch sehr wohl eine Minderheitsregierung der Union tolerieren. Noch ist offen, ob die SPD-Führung sich diese Option auch für die angekündigte Mitgliederbefragung offenhalten will. Mit anderen Worten: Man will Merkel die Kanzlerschaft andienen, ohne in Koalitionsverhandlungen eigene Inhalte durchzudrücken? Fragt sich nur, was so ein Modell bringen soll und wem es nutzt. Der SPD ganz sicher nicht. Von Jens Berger.
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Als Albrecht Müller am Montag seine „Gedanken zum Scheitern der Jamaika-Gespräche“ veröffentlichte, formulierte er auch ein 9-Punkte-Papier, das die SPD als Grundlage für mögliche Sondierungsverhandlungen mit der Union vorbringen könnte. Ziel sollte sein, die Union dazu zu zwingen, progressive Inhalte in einer möglichen Neuauflage einer schwarz-roten Koalition zu übernehmen. Und wenn dies nicht gelingt, dann soll es halt Neuwahlen geben. Aber dann stünde die SPD nicht als Verweigerer da, sondern als Partei, die ernsthaft um progressive Inhalte gerungen hat, diese aber mit der Union nicht umsetzen konnte und daher in Neuwahlen eine Mitte-Links-Koalition anstrebt, mit der sie diese Inhalte umsetzen kann. Ein solches Angebot hätte zwei alternative Ergebnisse: Entweder die Union lässt sich auf inhaltliche Kompromisse ein und es kommt zu einer Neuauflage mit besserer programmatischer Ausrichtung; oder aber es kommt zu Neuwahlen, in die die SPD mit inhaltlichen Forderungen gehen kann, die auch beim Wähler ankommen und durchaus eine Machtperspektive eröffnen.
Warum sollte die SPD freiwillig und ohne Not auf diese Perspektive verzichten? Warum sollte sie sich Merkel unterwerfen und ohne nennenswerte inhaltliche Zugeständnisse eine Unions-Minderheitsregierung tolerieren? In einer solchen Konstellation hätte die SPD keinen nennenswerten Hebel auf die Politik der Bundesregierung. Wenn sie beispielsweise mit einer Gesetzesnovelle der Union nicht einverstanden ist, so kann diese Novelle ohne Probleme auch mit den Grünen und der FDP und mit der FDP und der AfD umgesetzt werden. Das ist ja der Sinn und Zweck einer Minderheitsregierung. Der Juniorpartner ist austauschbar und gerade in einer Situation, in der mit der FDP und der AfD zwei im Kern überzeugt neoliberale Parteien bereits Gewehr bei Fuß stehen, wäre eine Tolerierung gefährlicher und kontraproduktiver Unsinn. Wenn die SPD verhindern will, dass die Union zusammen mit FDP und AfD neoliberale Politik betreibt, dann muss sie koalieren, aber nicht tolerieren. Ist das so schwer zu verstehen?
Der größte Gewinner einer Unions-Minderheitsregierung unter SPD-Tolerierung wäre freilich Christian Lindner mit der Ex-FDP, die sich eigentlich in Lindner-Partei umbenennen sollte. Lindners großes Ziel ist es, die FDP zu einer Großpartei in der 20-Prozent-Liga zu machen und dabei hat er es offenbar vor allem auf die Stimmen der AfD abgesehen. Die kann er jedoch nur schwerlich aus der Regierungsrolle abwerben und daher kommt ihm die Oppositionsrolle wie gelegen. Ein bis zum Bersten aufgepumpter Lindner als gefühlter Oppositionsführer? Das könnte Herrn Linder so passen, kann aber doch kein Ziel der SPD sein, die sich durch ihre „Toleranz“ selbst de facto einhegen müsste.
Bleibt die Frage, warum die SPD ohne Not darauf verzichten sollte, progressive Inhalte zu befördern und sich dementsprechend inhaltlich zu positionieren. Und darauf kann es nur eine Antwort geben: Wer freiwillig und ohne Not auf progressive Inhalte verzichtet, der will sie überhaupt nicht umsetzen. Dass einige Seeheimer so denken, ist bekannt. Aber die SPD muss diesen Einflüsterungen widerstehen. Sich nun Merkel zu unterwerfen, wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Denn warum sollte künftig irgendwer eine Partei wählen, die einer anderen Partei zur Macht verhilft, ohne das eigene Programm umzusetzen?