Betr.: Katalonien. – Spanien: Demokratie schwacher Intensität.
Das ist das Thema eines Essays von Eckart Leiser[*] über Entwicklung und Zustände in Spanien und Katalonien im Vorfeld der anstehenden Wahl in Katalonien. Es ist ein subjektiver Text, auch ein bisschen einseitig, wenn zum Beispiel über die Korruption im Zentralstaat berichtet wird und nicht über jene in Katalonien. Aber das war nicht das Thema dieses Textes. Interessant sind u.a. die Informationen über die Behandlung der in Untersuchungshaft genommenen Politiker Kataloniens, über die Veränderungen beim führenden Medium El Pais und den Zustand der Medien insgesamt (wobei der bei uns hierzulande nicht besser ist) sowie über die Bedeutung der Polizei in den Händen der Zentralgewalt in Madrid. Albrecht Müller.
Spanien: Demokratie schwacher Intensität
Von Eckart Leiser
Im Folgenden der Versuch, aus der „Ich-Perspektive“ meines Lebens hier „vor Ort“ – ich lebe und arbeite seit vielen Jahren in Spanien – einen Blick auf die Situation im Land zu werfen. Aus diesem konkreten Kontext heraus soll nachvollziehbar gemacht werden, wie es zur aktuellen Krise in und um Katalonien kommen konnte. Dazu reicht es nicht, die News der Nachrichtenagenturen in Echtzeit zu verfolgen und den letzten Interviews oder Tweets von Puigdemont aus Brüssel hinterher zu hetzen. Worum es hier nicht geht ist, zum Sinn oder Unsinn des Unabhängigkeitsprojekts Stellung zu beziehen oder zu dessen „Legalität“ – ein Wort, das aus dem Mund einer Regierung, deren Mitglieder bis zum Hals in Korruptionsskandale verwickelt sind und deren Partei, der Partido Popular, gerade wegen Vernichtung von Beweisen zu diesen Skandalen in Madrid auf der Anklagebank sitzt, einen besonderen Klang hat.
Vorgeschichte
Um in Jahr 2004 anzusetzen: Im Februar dieses Jahres schrieb ich in einer deutschen Wochenzeitung über die Stimmung im Lande am Ende der Regierungszeit von José María Aznar. Seitdem ist viel passiert: die Terroranschläge in Madrid, der Wechsel zu einer sozialistischen Regierung unter José Luis Rodriguez Zapatero, die Rückkehr des Partido Popular 2011 unter Mariano Rajoy, die Bankenkrise, die das Land fast in den Staatsbankrott trieb, eine endlose Serie von Korruptionsskandalen. In den aktuellsten, „trama Gürtel“ genannt, ist Rajoy direkt verwickelt. In den letzten Tagen gab es dazu eine Befragung der Ermittlungsbehörden durch Podemos vor einer Kommission des Parlaments, in der die erdrückende Beweislast zum Vorschein kam, dass Rajoy jahrelang aus einer „Kasse B“ ein zweites Gehalt aus Korruptionsgeldern bezog. Usw. usf.
Den vorsichtigen Versuchen einer demokratischen Erneuerung unter Zapatero wurde in diesen Jahren schnell der Garaus gemacht. Ein Beispiel ist das „Gesetz zur historischen Erinnerung“ von 2007 zur Aufarbeitung der Verbrechen unter Franco. Erstmalig wurde mit Unterstützung der Regierung die Aufspürung von Massengräbern für die Opfer von Erschießungen betrieben und die Beseitigung von Statuen und Gedenkstätten für den „Generalísimo“. Das endete 2012, als Baltasar Garzón, für die Aufklärung der Franco-Verbrechen maßgebender Richter am Staatlichen Gerichtshof (Audiencia Nacional), wegen „Rechtsbeugung“ zu 11 Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. Im gleichen Jahr wurden die Mittel im Staatshaushalt zur Umsetzung des Gesetzes um 60% gekürzt und ab 2013 vollständig gestrichen. Das Gesetz ist damit „de facto“ abgeschafft.
In die gleiche Zeit politischer Reformen fiel ein Referendum in Katalonien über ein neues „Autonomiestatut“, verabschiedet mit dem Plazet der Regierung von Zapatero im Jahr 2006. Ergebnis: 74% für das neue Statut, 21% dagegen. Zu dieser Zeit regierte in Katalonien eine „Tripartito“ genannte Regierung, eine Koalition – man höre und staune – aus Sozialisten, Vereinigter Linken und der „Republikanischen Linken“ (ERC), die später führende Kraft des Unabhängigkeitsprojekts unter Puigdemont wurde.
Woran scheiterte der Konsens zu einer neuen regionalen Verfassung für Katalonien? Der Partido Popular unter Führung von Rajoy und in der Opposition zog 6 Wochen später vor das Verfassungsgericht und dieses erklärte am 28.6.2010 wesentliche Artikel des neuen Statuts für verfassungswidrig. Für die, die das für einen normalen Vorgang in einem Rechtsstaat halten: Von den 12 Mitgliedern des Verfassungsgerichts werden 4 vom Parlament in Madrid bestimmt, 4 von der zweiten Kammer, dem Senat, 2 von der Regierung und 2 von der obersten Justizbehörde (CGPJ). Voraussetzung für einen Sitz in diesem Gericht ist, Jurist zu sein und 15 Jahre im aktiven Berufsleben zu stehen. Im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht ist also nicht einmal die „Befähigung zum Richteramt“ gefordert. Das Ergebnis ist eine praktisch rein politische Besetzung dieses Gerichts. Angesichts der 9-jährigen Amtszeit der Mitglieder und der Mehrheit des Partido Popular im Senat waren die Rechtslastigkeit des Verfassungsgerichts und ihre Entscheidung im Sinn der Kläger also nicht verwunderlich.
Politisierte Justiz
Diese Komplizenschaft zwischen Justiz und Partido Popular setzt sich bis in diese Tage fort: Der Generalstaatsanwalt José Manuel Mata (ein Betreiber des Berufsverbots für Baltasar Garzón), der die Untersuchungshaft für die katalanischen Politiker gefordert hatte, ist eng mit dem Justizminister Rafael Catalá befreundet. Gerade diese Tage wurden abgehörte Telefongespräche bekannt, in denen der diese Tage aus der Untersuchungshaft entlassene ehemalige Präsident der Region Madrid, Ignacio González, die Besetzung des Generalstaatsanwalt-Postens mit dem Ex-Minister Zaplana auskungelte.
Am 2.11.2017 zahlte sich die Besetzung dieses Postens mit José Manuel Mata aus: Auf seinen Antrag hin wurden die katalanischen „Consellers“ direkt vom Gericht in Untersuchungshaft überführt, unter Bedingungen, zu denen die spanischen Medien (siehe weiter unten), weitgehend schwiegen. Es brauchte eine längere Suche im Internet, um schließlich Details dazu in der katalanischen Zeitung “La Vanguardia” zu finden. Am 5.11.2017 berichtet sie von Anzeigen der Anwälte wegen Misshandlungen und Demütigungen der abgesetzten “Consellers” während ihres Transports von der Audiencia Nacional zum Gefängnis Estremera: Vier Stunden lang in den Transportern der Guardia Civil, die Hände auf dem Rücken mit schmerzhaften Handschellen gefesselt (bei einem registrierte der Gefängnisarzt später Verletzungen am Handgelenk). Während der Fahrt waren sie überdies der ununterbrochenen Beschallung mit der spanischen Nationalhymne ausgesetzt, usw. Bei der Ankunft wurden zwei von ihnen gezwungen, sich “wie Drogendealer” nackt auszuziehen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Anzeigen irgendwelche Folgen haben.
Da die wartenden Kollegen der Nationalpolizei nicht nur patriotisch sondern auch dumm waren, hatten sie bereits vor Beginn des Transports vor den unbemerkten Mikrofonen und Kameras der Nachrichtenagentur Reuters verkündet, dass den “kleinen Bären” (Oriol Junqueras) auf der Fahrt nichts Gutes erwarte. Es ist diese Art von Demütigungen, die auch nicht-separatistische Katalanen in diesen Tagen zutiefst empören und Auswirkungen auf die Wahlen am 21. Dezember haben dürften.
Um die Maßlosigkeit der Untersuchungshaft für die katalanischen „Consellers“ nachzuempfinden: Der wegen Ausplünderung von Bankia (eine der größten Banken Spaniens) zu viereinhalb Jahren Haft verurteilte Rodrigo Rato (ehemaliger Chef des IMF und ehemaliger Kandidat des Partido Popular für das Präsidentenamt) sowie Iñaki Urdangarín, wegen krimineller Bereicherung zu 6 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilter Schwager des gegenwärtigen Königs Felipe VI, laufen ohne jegliche Auflage frei herum (Urdangarin in der Schweiz), während sie auf den Ausgang ihrer Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof warten.
Der Titel dieses Beitrags kann also durchaus erweitert werden um den Zusatz: „Rechtsstaat schwacher Intensität“.
Militarisierte „Sicherheitskörper des Staates“
Es lohnt sich jedoch, auf die tieferliegenden Gründe der zunehmend „schwer atembaren Luft“ (Pablo Iglesias/Podemos) in Spanien etwas näher einzugehen. Aus den Medien erfahre ich, dass in Katalonien z.Z. mehr als 10000 zusätzliche Mitglieder der Guardia Civil und der Policía Nacional stationiert sind. Das erschien mir solange viel, bis ich mich kundig machte: Der spanische Staat mit seinen ca. 46 Millionen Einwohnern verfügt über ca. 77000 Polizisten der Guardia Civil und ca. 66000 Polizisten der Policía Nacional. Im Unterschied zu den deutschen Landespolizeien sind die 143000 Polizisten dieser beiden Polizeiapparate direkt der Zentralregierung unterstellt. Diese verfügt also über ein „schlagkräftiges“ Instrument in Krisen wie der gegenwärtigen. Überdies sind diese „Sicherheitskörper“ militärisch organisiert und als patriotisch beseelte Truppe auf den König eingeschworen. Es gibt also gute Gründe, hier von einem „Staat im Staate“ oder sogar von „zwei Staaten im Staate“ zu sprechen, wobei hier mal der 3. Staat im Staate, nämlich die Streitkräfte, außen vor gelassen werden soll – immer mal wieder wird mir unter vorgehaltener Hand zugeraunt: „Vorsicht, die Militärs haben hier viel zu sagen“.
Das führt uns zum Thema Katalonien zurück. Denn mindestens genauso wichtig wie nationalistische Bestrebungen in der Unabhängigkeitsbewegung ist hier der Wunsch nach einer Republik. Auch in Spanien insgesamt gab es vor nicht langer Zeit eine Mehrheit für die Abschaffung der Monarchie. Aber die Leute fürchten, dass in diesem Fall die Streitkräfte und die „Sicherheitskörper des Staates“ eingreifen würden.
Rolle der spanischen Medien
Abschließend und bei Katalonien bleibend darf gefragt werden: wieso stößt die dortige Bewegung außerhalb Kataloniens auf so wenig Verständnis, ja auf hasserfüllte Ablehnung (selbst in meinem eher „fortschrittlichen“ Freundeskreis, der auf eine offizielle Erklärung Puigdemonts im Radio kürzlich mit schallendem Gelächter reagierte), bis hin zum aktuellen landesweiten Boykott katalanischer Produkte? Das führt auf ein weiteres Thema: die Rolle der Zeitungen und anderer Medien. Lange Jahre war „El País“ ein Lichtblick in der trostlosen Landschaft überregionaler Zeitungen. Seit einiger Zeit hat diese Zeitung einen massiven Schwenk nach rechts vollzogen, so weit, dass einige Kritiker sie inzwischen als „neokonservativ“ bezeichnen. Das lässt sich bis auf ihre kulturellen Leitfiguren zurückverfolgen: Nach einigen kritischen Kommentaren musste sich die der kritischen Linken zugeordnete Schriftstellerin und Journalistin Maruja Torres aus der Zeitung zurückziehen, und einer der Lieblingskommentatoren ist inzwischen der Schriftsteller Mario Vargas Llosa, Aushängeschild der spanischen Rechten.
Die Kritiker führen diesen Rechtsruck auf die hohe Verschuldung dieser Zeitung und ihre Abhängigkeit von Banken zurück. Was Katalonien betrifft, macht „El País“ nichts anderes mehr, als die Version der Regierung in Madrid wiederzukäuen. Die zweite Lieblingsbeschäftigung von „El País“, auf die Partei „Podemos“ einzuprügeln, ist zurzeit etwas in den Hintergrund getreten.
Diese Wende habe ich persönlich erlebt. In einem Leserbrief fragte ich, was denn passiert, wenn bei den von Madrid angesetzten Wahlen am 21. Dezember wieder die Unabhängigkeitsparteien die Mehrheit gewinnen. Bei den letzten als Plebiszit betriebenen Wahlen von 2015 hatten knapp 2 Millionen Wähler – von 5,4 Millionen Wahlberechtigten und 4,1 Millionen abgegebenen Stimmen, was aufgrund des Wahlsystems zur absoluten Mehrheit im Parlament reichte – für die beiden Unabhängigkeitsparteien JxSí und CUP gestimmt, beim verbotenen Referendum am 1.10.2017 unter den Knüppeln der Polizei über 2 Millionen für eine unabhängige Republik Katalonien. Mein Brief endete mit dem Brecht-Zitat: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte sich ein anderes?“ Keinerlei Reaktion. Andere überregionale Zeitungen wie „La Razón“ (ihr Name „Die Vernunft“ schmerzt), von dem Partido Popular „ausgehalten“, sind so „unter aller Sau“, dass im Vergleich zu ihnen die Bildzeitung anspruchsvoller Journalismus ist. Vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Rundfunk RTVE sollte besser geschwiegen werden. Immer wieder denunzieren Mitarbeiter Eingriffe der Regierung, ohne jeden Erfolg. Kurz und gut: Die Bevölkerung wird von den Medien systematisch „verblödet“, wenn sie sich nicht darauf beschränkt, sich in der Fußballzeitung „Marca“ zu informieren – auf ihre Weise wohl zumindest objektiv und ausgewogen.
[«*] Eckart Leiser, Prof. Dr., ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Saragossa (Spanien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die epistemologischen Grundlagen der Psychologie sowie strukturale Anthropologie und Psychoanalyse. Lehrtätigkeit in Frankfurt, Berlin, Mexiko-Stadt, Wien, Madrid, Saragossa und Buenos Aires.