Ecuador – Die ungeahnte Wende des neuen “Leninismus”
Argentinien und Peru wählten zwischen 2015 und 2016 konservative Präsidenten, in Brasilien stürzte eine korrupte Clique eine demokratisch gewählte Staatschefin und riss die Macht an sich und sollten die Umfragezahlen stimmen, wird Chile ebenfalls am 19. November ein zweites Mal den neoliberalen und vielfältiger Korruption verdächtigten Multimilliardär Sebastian Piñera zum Staatschef wählen. In diesem Kontext fällt kleinen lateinamerikanischen Ländern wie Bolivien, Ecuador und Uruguay die Rolle der politischen Leuchttürme zur Erinnerung an jenes eineinhalb Jahrzehnt lateinamerikanischer Prosperität und bescheidener Einkommensumverteilung zu, die immerhin im kontinentalen Maßstab zig Millionen Südamerikanern den Ausstieg aus der Armut ermöglichte. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Unter massivem medialen Beschuss der konservativen Opposition, am Ende seiner zehnjährigen Amtszeit, bangte allerdings Ecuadors Präsident Rafael Correa, und mit ihm seine Mitte-links-Partei Alianza País (“Bündnis für das Land” – kurz AP genannt), um die Kontinuität nicht nur der sozialen Integrationsprogramme (siehe Artikel vom 21. Februar 2017), sondern auch der im Bündnis mit den ehemaligen sozialdemokratischen Regierungen Brasiliens, Argentiniens und Venezuelas begonnenen lateinamerikanischen Integration unter dem Vorzeichen einer von den USA unabhängigen Außenpolitik.
Mit einem sehr knappen Vorsprung von weniger als 3 Prozent (51,16 Prozent zu 48,84 Prozent) gelang dem AP-Präsidentschaftskandidaten Lenin Moreno schließlich in der Stichwahl vom 2. April 2017 der Sieg über seinen konservativen Herausforderer Guillermo Lasso. Als Moreno jedoch am darauffolgenden 24. Mai sein Mandat antrat, war der Hausfrieden mit seinem Vorgänger und Wahlhelfer Rafael Correa beendet.
In der Partei war es nämlich ein offenes Geheimnis, dass nicht Moreno – der von 2007 bis 2013 als Correas Vize amtierte – sondern sein Nachfolger Jorge Glas des Präsidenten favorisierter Nachfolge-Kandidat war. Glas unterlag jedoch in parteiinterner Abstimmung gegen Moreno, musste allerdings weiterhin als dessen Vize akzeptiert werden, so der Kompromiss. Doch nur bis zum vergangenen 2. August. Da entließ der frischgebackene Präsident seinen Vize, der seit dem 3. Oktober 2017 wegen Korruptionsanklage in Untersuchungshaft sitzt.
War die Atmosphäre zwischen Moreno und dem in Belgien weilenden Ex-Präsidenten bereits deutlich aufgeheizt, so hauen sich seitdem beide eine kaum erbauliche Medienschlacht gegenseitig um die Ohren, die tiefe Risse in das einzige sozial orientierte politische Bündnis Ecuadors zieht und eine Destabilisierung herbeiführen kann, die der ultrakonservativen Opposition in die Hände spielt. Von Anbeginn war Morenos Befürchtung, Correa werde ihm über die Maße in die Regierungsgeschäfte hineinreden, woraufhin der mit der belgischen Pädagogin Anne Malherbe Gosseline verheiratete Ex-Präsident sich in die Heimat der Ehefrau zurückzog und seit Jahresmitte in Europa als Vortragsredner und wissenschaftlicher Kursleiter auftritt.
Verschärfend kam Ende August der Rücktritt von Morenos wichtigstem politischen Berater, Correa-Verbündeten und ehemaligem Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungsminister, Ricardo Patiño, hinzu. Der Rücktritt war nicht diskret, sondern mit einer geräuschvollen Pressekonferenz angekündigt, auf der Patiño sich energisch darüber beschwerte, dass den von Correa initiierten Reformen – genannt Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution) – seit dem Amtsantritt Morenos nicht die „gebührliche Anerkennung” gezollt werde. Ferner protestierte der vielfältige Ex-Minister gegen Morenos Kampagne gegen die Korruption, die zweifellos bekämpft werden müsse, die man als Phänomen jedoch nicht verallgemeinern solle.
„Wir wollen uns frei fühlen, die Errungenschaften zu verteidigen, deshalb müssen wir uns von dieser Regierung zurückziehen”, erklärte Patiño und signalisierte eine Offensive zum Schutz der Regierung Correa gegen einseitige Korruptionsvorwürfe.
Morenos „Leninismus“ oder: die Gründe des Zerwürfnisses
Der seit einem halben Jahr amtierende Präsident führt verschiedene Gründe für seinen Bruch mit Urgönner Correa an; Scheingründe, die seine Kritiker mit dem Verweis auf seinen Vornamen als den “neuen leninistischen Kurs” in Ecuador ironisieren.
Moreno beschuldigte Correa rückwirkend der Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftsindikatoren, insbesondere der zunehmenden Auslandsverschuldung, die jüngst mit 40 Milliarden Euro in die Höhe schoss, und rügte seinen Vorgänger dafür, trotz Einbruch des internationalen Ölpreises und des verheerenden Erdbebens in Manabí, 2016 „zu viel Geld“ ausgegeben zu haben.
Moreno ergriff jedoch auch mutige Maßnahmen. Er räumte zum Beispiel der größten indigenen Organisation des Landes ein Darlehen mit 100-jähriger Laufzeit zur Selbstverwaltung von Ländereien ein, die Correa während seiner Amtszeit den Ureinwohnern verweigert hatte und damit eine politische Brunnenvergiftung riskiert hatte, auf deren Höhepunkt die Indigenen seinen Rücktritt verlangten.
Der hart austeilende Ex-Präsident hält vielmehr die Rügen und die Neuentscheidungen seines Nachfolgers für eine hinterlistige Attacke. „Der jetzigen Regierung waren sämtliche Zahlen zu Verschuldung und Verbindlichkeiten bekannt, sie sind im Übrigen öffentlich“, donnerte der Ex-Präsident auf Twitter zurück (Rafael Correa usa Twitter para responder a Lenin Moreno – Metro Ecuador, 01.08.2017).
Auch Kritiker verstehen nicht, wieso Moreno ob seiner Anschuldigungen das gleiche Wirtschaftsteam in seiner Regierung weiter unbeschadet wirken lässt. In den Augen Correas sind die Vorhaltungen seines Nachfolgers „eine Show“, ein Nebelschleier, der in Wahrheit von „gefährlichen Freundschaften“ mit Erzfeinden der AP – zum Beispiel mit dem in Panama im Exil lebenden Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram (1996-1997) – ablenken soll.
Während seiner Amtszeit hatte der Ex-Präsident ausgerechnet wegen seiner In-Schutz-Nahme von Jorge Glas und Lenin Moreno gegen die Attacken von Bucaráms Movimiento Fuerza Ecuador (Bewegung Kraft Ecuador – FE) eine langandauernde Fehde mit den Konservativen ausgetragen. Nun aber sollen nach Morenos Gesprächen mit den gleichen Kräften FE-Funktionäre hochrangige Posten in der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft CNEL bekleiden. „Wenn die Alianza País dazu schweigt, ist es wohl besser für diejenigen, die keinen Zynismus dulden, gleich einzupacken”, machte sich Correa Luft und drohte, seine Partei zu verlassen (Rafael Correa habla de separación de Alianza País – Metro Ecuador, 02.08.2017).
Der Machtkampf
Correas Reaktion signalisiert die Befürchtung, seine Partei werde von Morenos neuem politischen Kurs aufgeweicht.
Drei Monate später kam es zum Eklat: Am 31. Oktober setzte die linke AP-Fraktion Moreno als Parteivorsitzenden ab, auf dessen Platz Ricardo Patiño gewählt wurde. Patiño begründete die Maßnahme mit der Beleidigung der Parteimitglieder, die von Moreno als treue „Schafe” Correas beschimpft worden seien. Doch schon am darauffolgenden Tag annullierte ein Gericht für Strafgarantien in Quito die Entscheidung und verordnete dem Nationalen Wahlrat (CNE), außer Moreno keinen anderen Namen als Parteiführer von Alianza País zuzulassen.
Morenos neueste Wette in seinem Distanzierungsversuch von Correa soll den Ex-Präsidenten mit einem harten Schlag treffen. Mit einer für die Jahreswende 2017/2018 geplanten Volksbefragung über sieben strategische Punkte sollen die Ecuadorianer entscheiden, ob die von der Nationalversammlung im Dezember 2015 gebilligte Klausel zur Wiederwahl ehemaliger Präsidenten per Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit annulliert werden soll. Die Initiative macht deutlich, dass Moreno damit Correas eventueller Wiederaufstellung als Präsidentschaftskandidat für das Jahr 2021 einen Strich durch die Rechnung machen möchte.
Gleichwohl ist der letzte Schlagabtausch im Machtkampf um die Partei und die politische Marschrichtung in Ecuador noch längst nicht ausgefochten. In einer während Morenos Absetzung verabschiedeten AP-Resolution wurde Ex-Präsident Rafael Correa – der die Partei-Ehrenpräsidentschaft auf Lebenszeit besitzt – zum „Umstrukturierungsprozess“ der Organisation eingeladen.
Correa könnte bald nach Ecuador zurückkehren. Dann könnte es allerdings heiß zugehen.
Das brasilianische Drehbuch: Der Schatten von Odebrecht und der USA
Präsident Lenin Morenos Verhalten deutet darauf hin, dass ihm ein Gespenst weiche Knie macht. Es ist der Schatten von Odebrecht, jenes von deutschen Ur-Einwanderern gegründeten, brasilianischen Großbau-Konzerns, dessen länderübergreifende, systemische Korruption seit zwei Jahren von Staatsanwälten von Süd- bis Mittelamerika untersucht wird und dessen Vorstandsvorsitzender Marcelo Odebrecht zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde und in Brasilien hinter Gittern sitzt.
Symptomatisch ist, kaum war Moreno gerade 12 Tage im Amt, als er am 5. Juni eine sogenannte „Anti-Korruptionsfront“ ausrief. Als Begründung führte er an, dem Staat „mangelt es an Aufsicht”. Im Handumdrehen verhaftete die ecuadorianische Polizei eine Personengruppe – darunter einen Verwandten von Vizepräsident Glas – die der Involvierung in die Odebrecht-Bestechungen hoher Regierungsbeamter beschuldigt wurde.
Symptomatisch ist ferner, dass die ersten Korruptions-Anschuldigungen gegen hohe ecuadorianische Beamte während der Präsidentschafts-Wahlkampagne Morenos von den konservativen Medien geschaltet wurden und erfahrene Beobachter sofort an die Medienkampagne gegen die Wiederwahl von Präsidentin Dilma Rousseff mit dem gleichzeitigen Auftakt des sogenannten „Unternehmens Waschanlage“ der brasilianischen Justiz im angeblichen Kampf gegen die Korruption im Ölkonzern Petrobras erinnerten.
Die Anklagen von Ecuadors Staatsanwälten und Richtern stammen nämlich, wie zuvor in Brasilien, größtenteils von den Justizbehörden der USA. Der Odebrecht-Konzern – der Autobahnen, Wasserkraftwerke und Häfen baute, jedoch auch in der Atom-, ferner in der chemischen, petrochemischen und in der Waffenindustrie tätig ist und bis 2016 weltweit mehr als 120.000 Mitarbeiter beschäftigte – hat 2016 den Einsatz von mehr als einer Dreiviertelmilliarde Euro Bestechungsgelder zugegeben.
Mehr als ein Jahrzehnt lang, so das U.S. Departement of Justice (DOJ), hätten Odebrecht und das Tochterunternehmen Braskem eine Geschäftseinheit mit dem Namen „Structured Operations” betrieben, die für die Schmierung von Regierungsbeamten auf drei Kontinenten – darunter Ecuador, Argentinien, Mexiko, Kolumbien, Angola, Dominikanische Republik, Peru, Panama, Venezuela, Mosambik und Guatemala – geschaffen war und nach Angaben des DOJ ein Bestechungsvolumen von 788 Millionen Dollar erreicht haben soll.
Folgerichtig verklagte das DOJ an einem Bundesgericht im New Yorker Brooklyn den Odebrecht-Konzern wegen schweren Verstoßes gegen die US-Gesetze zur Bestechungs-Bekämpfung. Die Angeklagten bekannten sich dafür schuldig, von 2003 bis 2016 Bestechungsgelder in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar an Regierungsbeamte und Funktionäre staatlicher Unternehmen gezahlt zu haben, womit der Konzern mit Aufpreisen zum Schaden von Regierungen und staatlichen Konzernen Gewinne in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar erzielte.
Der Trick: Die Geständnisse wurden vom DOJ mit plea bargaining, nämlich einem Prozessabkommen zur Denunziation Dritter gegen Strafermäßigung ausgehandelt, das seit 2014 systematisch in Brasilien angewendet wird und nach Untersuchungen von kritischen Juristen und Medien mittlerweile skandalöse Ausmaße erreicht und als „Industrie der Denunziation“ (indústria da delação) bezeichnet werden muss. Mit diesen Kronzeugen-Regelungen erwirkte das DOJ die Verurteilung von Odebrecht zur Zahlung einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar; ein kaum vergleichbarer, drakonischer Wert im Weltmaßstab, womit der Konzern sich angeblich von Anklagen in den USA, der Schweiz und Brasilien befreien sollte.
Ecuador war ein altbewährter Kunde des Konzerns, der von Leon Febres-Cordero, Sixto und Duran-Ballen, über Fabián Alarcón, Jamil Mahuad und Gustavo Noboa, bis hin zu Alfredo Palacio und Rafael Correa von 8 aufeinanderfolgenden Regierungen Aufträge im Wert von 5 Milliarden Dollar erhielt. Correa hatte das brasilianische Unternehmen 2008 während des Baus des Wasserkraftwerks San Francisco wegen technischen Mängeln und damit wegen Vertragsbruchs zunächst des Landes verwiesen, jedoch später wieder zugelassen.
Nach Angaben des DOJ soll Odebrecht zwischen 2007 und 2016, also während der Amtsperiode Correas, eine Schmiergeldzahlung in Höhe von 33,5 Millionen Dollar an Regierungsbeamte und Funktionäre des Ölkonzerns Petroecuador zugegeben haben. Als Folge schaltete sich Generalstaatsanwalt Galo Chiriboga mit dem ecuadorianischen Botschafter in Washington kurz, während Präsidialamts-Sekretär Alexis Mera erklärte, es sei „nicht auszuschließen […], dass es Zahlungen oder Korruption gegeben habe, worüber die Staatsanwaltschaft mit der Untersuchung beauftragt worden sei“.
Ferner ermittelten Ecuadors Staatsanwälte, dass die Gemeinde Quito während der Amtsperiode von Bürgermeister Augusto Barrera das Acciona-Odebrecht-Konsortium mit dem Bau der Schnellstraße Ruta Live (Abschnitte 1 und 2) und der Erweiterung der U-Bahn Quitos beauftragt hatte. Dazu kamen weitere 6 Projekte mit einem Auftragswert mehrerer hundert Millionen Dollar.
Das war der Anlass für den konservativen Abgeordneten Diego Salgado, im Dezember 2016 eine Unterschriften-Kampagne zur Amtsenthebung von Vizepräsident Jorge Glas zu starten, dem er als amtierendem Minister für Strategische Sektoren zur Zeit der Odebrecht-Aufträge unterstellte, für die Schmiergeldzahlungen verantwortlich gewesen zu sein. Schützenhilfe erhielt Salgado von Correas Ex-Minister für Erdölförderung, Carlos Pareja Yannuzzelli, alias “Capaya”.
Angesichts drohender Gerichtsverfahren wegen politischer Einflussnahme, illegaler Vertragsverhandlungen, betrügerischer Bereicherung und Veruntreuung hatte sich “Capaya” im September 2016 nach Miami in die USA abgesetzt, doch schon im Oktober 2016 per E-Mail ein Gnadengesuch an Correa verfasst, der darauf nicht einging, sondern stur auf der Antwort bestand, ob die Vorwürfe stimmten.
Daraufhin begann “Capaya” mit der Denunziation weiterer ecuadorianischer Beamter mit Video-Postings, allen voran Jorge Glas, dem er unterstellte, bei Petroecuador habe sich nichts ohne seine Zustimmung als Vizepräsident Correas bewegt. Die “Capaya”-Videos sind zweifellos eine Kampagne, wie in Brasilien eine konzertierte Medienschau konzipiert wird: mit Mutmaßungen in Hülle und Fülle, doch kaum harten Beweisen.
Auffällig ist dabei das Zusammenspiel von Staatsanwälten und Medien, vom Atlantik bis zum Pazifik. Als den ecuadorianischen Medien und der Justiz die Beweise und Argumente gegen Glas ausgingen, schaltete sich von Rio de Janeiro aus die Tageszeitung O Globo ein, die bekanntlich mitverantwortlich ist für den parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff und in Brasilien als Sprachrohr rechtsextremer Staatsanwälte um Richter Sergio Moro im „Unternehmen Waschanlage“ bekannt ist.
Der Transkription eines angeblichen Gesprächs zwischen dem ehemaligen Generalinspektor Carlos Pólit und José Conceição dos Santos – einem ehemaligen Odebrecht-Manager und jetzigem Kronzeugen – ist zu entnehmen, der Ecuadorianer Jorge Glas habe „viel Geld” von der brasilianischen Baufirma verlangt. Im Juni 2017 stimmte Alianza País zum zweiten Mal für die Ausweisung des Odebrecht-Konzerns aus Ecuador.
Der abgesetzte und inhaftierte Vizepräsident bestreitet jeden Vorwurf, doch bis die Wahrheit ermittelt ist, ist seine Reputation dahin – siehe Luiz Inácio Lula da Silva.