Pablo Nerudas Fahrer – Annäherungen an Manuel Araya, Teil 1
San Antonio, Chile, im Sommer 2013. Eine Autostunde von Santiago entfernt klebt die achtzigtausend Einwohner zählende Hafenstadt an den steilen Hängen, die sich vom Vorland der Anden in den Pazifik stürzen. Ihr Anblick ist nicht bezaubernd, in Chile kontrastieren die atemberaubenden Naturlandschaften mit der erbärmlichen Stumpfsinnigkeit der Stadtbaukunst. Mit seinem Meer wellblechüberdachter Sperrholzhäuschen wird San Antonio von einer sonderbaren Mischästhetik aus Wildwest und sowjetischem Dorfwesen am arktischen Wendekreis geprägt. Ein Essay von Frederico Füllgraf.
Ich komme aus Brasilien, um mich mit Cosme Caracciolo zu treffen. Als ehemaliger Fischer in der dritten Generation und Gewerkschaftsführer soll er die Dreharbeiten zum Dokumentarfilm „Camarada Océano – Gefährte Ozean” beraten, der die weltweit verzweifelte Lage der kleingewerblichen Fischer, insbesondere aber den Widerstand der chilenischen Artesanales schildern soll, wie die nicht-industriellen Fischer in der spanischen Sprachwelt genannt werden.
Monate zuvor schrieb ich ihm, der Filmtitel sei im Übrigen eine Versanleihe aus der „Ode an das Meer”, ein elegisches Gedicht seines Landsmanns und Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda.
Wir sitzen nun am langen Küchentisch Caracciolos und kartieren die Drehorte. Mein Blick streift das ausgebleichte, doch episch anmutende Familienfoto an der Küchenwand, das den jungen Caracciolo, seinen Bruder und ihren Vater an Bord des schiefen, hölzernen Fischkutters mit dem Raubvogelnamen „Halcón” (Falke) und einem in voller Bootsbreite, vier Meter langen, erbeuteten gestreiften Marlin stolz zu Füßen abbildet.
Caracciolo erhebt sich, schreitet in das Wohnzimmer und greift eine Harpune, die als Andenken an der Decke hängt, und erzählt: „Mein Vater belehrte uns, dass man niemals einen Marlin die Harpune ungefragt in den Leib jagen sollte. Vorher sollten wir ihn um Entschuldigung und dazu um Genehmigung bitten!“. Der Fischer unterdrückt eine Erinnerungsträne mit einem Schmunzeln.
Ob denn Hemingway in San Antonio gelebt habe, frage ich, das hätte eine Szene aus „Der alte Mann und das Meer” sein können! Wir lachen.
Pablo Nerudas Fahrer
„Apropos Neruda!“, wirft Caracciolo plötzlich ein, springt nochmal auf, kehrt mit sibyllinischem Blick an den Tisch zurück und überreicht mir ein Buch: „El doble asesinato de Neruda“ (Die zweifache Ermordung Nerudas), Santiago de Chile, 2012.
Er fragt mich, ob ich den Mann kenne, auf den sich der Untertitel – „Mit dem Zeugnis Manuel Arayas“ – beziehe. Nein, den hörte ich zum ersten Mal. Caracciolo mimt den Geheimniswärter, greift zum Telefon und trifft eine Verabredung.
Eine halbe Stunde später tritt der fleischgewordene Buchheld zur Tür herein: Ein älterer Herr mittlerer Statur, gepflegte Glatze, gekleidet in dunkelblauem Anzug, Schlips und schneeweißem Kragen. Sein gebräunter Teint ließe den prahlerischen Sonnenurlaub der Gutsituierten vermuten.
Die Personifizierung des Bilderbuch-Kavaliers grüßt er mit extemporärer Verbeugung: „Manuel Araya Osorio, ¡es un gusto conocerlo!”. Er klopft Caracciolo demonstrativ auf die Schulter: Ihm habe er seine plötzliche Popularität zu verdanken!
Der Fischer lächelt verlegen, wiegelt ab. Na ja, es stimme wohl, dass er Araya dem chilenischen Korrespondenten der mexikanischen Wochenzeitung „Proceso” vorgestellt habe, die sich als erstes Medium für Arayas Geschichte interessierte. Die Reportage sei übrigens an diesem Tisch entstanden, an dem wir jetzt Platz nahmen; ihr folgte das Buch.
Araya setzt sich und weiht mich in seine Geschichte ein. Vierzig Jahre lang habe er davor gewarnt, Pablo Neruda sei nicht am Prostata-Krebs gestorben, sondern ermordet worden – er wisse es genau! Als die Reportage mit seinem Zeugnis um die Welt ging, da kam der Stein ins Rollen – nun werde Neruda exhumiert!
Bis zum Todestag des Nobelpreisträgers war Manuel Araya sein Fahrer und Leibwächter. Nun ist er die Schlüsselfigur der Ermittlungen der chilenischen Justiz über dessen wahrlich nebulöse Todesumstände.
Unser Vorstellungsgespräch dauerte eine halbe Stunde, dann musste der angehende Siebzigjährige sich beeilen, er hatte noch die ganze, lange Nacht vor sich – „Taxi fahren, zur Aufbesserung der Rente!“, knurrt er mit verächtlichem Schmunzeln und verschwindet.
Arayas großer Tag
Isla Negra, April 2013.
Nach anderthalb Jahre langen Nachforschungen ordnete Richter Mario Carroza vom Appellationsgericht Santiago im April 2013 die Exhumierung der sterblichen Reste Ricardo Neftalí Reyes Basoaltos, der sich den Künstler-Alias Pablo Neruda zugelegt hatte, an.
Zuerst in einer Leihgruft bestattet, war er auf dem Allgemeinen Friedhof in Santiago einmal umgebettet worden. Erst siebzehn Jahre später wurden die Urnen des Dichters und Matilde Urrutias, seiner 1985 verstorbenen, dritten Ehefrau, im Garten hinter ihrem Haus, in Isla Negra, zusammengeführt.
Manuel Araya lud mich zur feierlichen Enterdigung ein, mit einem kompletten Drehteam fuhren wir nach Isla Negra. Als nun der flaggengeschmückte Sarg Nerudas aus der Gruft gehoben und wieder im keimfreien Transporter des gerichtsmedizinischen Instituts von Santiago verschwand, fühlte der ehemalige Fahrer einen Stich in der linken Brust. Doch er frohlockte – Endlich hatte er es geschafft!
Am Eingang der „Fundación Pablo Neruda“ gab er eine improvisierte Pressekonferenz. Als persona non grata in der Stiftung durfte er ihre Räumlichkeiten auch an seinem großen Tag nicht nutzen – eine Fehde, so betagt und unverdaulich wie des Poeten Tod, in der aber seine Verwandten und sein Fahrer am gleichen Strang ziehen.
„Don Pablo wurde ermordet!”, pointierte er.
Die Augen der Journalisten und der Fernsehkameras fest im Visier seiner eigenen wiederholte er seine über Jahrzehnte heruntergebetete Litanei vom Dichter-Mord. Achtmal hatte er in diesen vier Jahrzehnten „seine Partei”, die Kommunistische Partei Chiles, auf den Verdacht angesprochen, doch nur Kopfschütteln geerntet.
„Ich war schon mal so weit, alles aufzugeben, doch jetzt werde ich beruhigt sterben können!”, seufzte er. Das klang etwas pathetisch, doch nicht minder ironisch: Mit der Exhumierung des Nobelpreisträgers hatte der arme Landarbeiter-Spross die Neuschreibung der Geschichte seines Landes erzwungen – nun aus der Perspektive der Verlierer.
Ein verblüffender, alarmierender Zufall hatte Richter Mario Carroza hellhörig gestimmt, bevor er die Ermittlungen in der „Causa Neruda” aufnahm: in der gleichen Klinik erlag 1982 Ex-Staatspräsident Eduardo Frei Montalva einem erwiesenen Giftanschlag mit Senfgas. Sechs Täter, darunter zwei Ärzte, wurden angeklagt und verhaftet.
Der fiktive Postmann und der leibhaftige Fahrer
Nach der Exhumierung Nerudas begannen die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm „Gefährte Ozean”, in dessem Mittelpunkt die Familienchronik Cosme Caracciolos steht.
Ich brauchte einen Produktionswagen für das Team und näherte mich schüchtern mit der Frage an Araya, ob er uns für eine Woche als Fahrer mit dem Leihwagen einer seiner Brüder zum marktüblichen Tagessatz bedienen könne. Zu meinem Erstaunen sagte er sofort zu. So ehrte mich Pablo Nerudas Fahrer als mein Filmset-Chauffeur.
Pünktlicher als die Engländer kutschierte er uns eine Woche lang im Toyota, von einem Fischerdorf zum anderen, am Pazifik entlang.
Seine knapp ein Jahr lange Verbindung mit dem Nobelpreisträger ist der des Romanhelden Mario Jiménez in Antonio Skármetas Erzählung „Mit brennender Geduld” (1985) beispiellos ähnlich: Jiménez ist der Postillon auf dem Drahtesel, der als Mario Ruoppolo in der Filmbearbeitung Michael Radfords „Der Postmann” (Il Postino,1994) von Isla Negra auf die Insel Salina im Tyrrhenischen Meer verpflanzt wird.
Skármetas Erzählung gipfelt mit dem Sturz Allendes, Nerudas Tod und Jiménez´ Verhaftung durch die Schergen Pinochets. Der Epilog passt auf Manuel Arayas Schicksal wie die Faust aufs Auge, man muss vermuten, Nerudas Fahrer habe Skármeta inspiriert.
Nun sitzt der leibhaftige Araya hinter dem Steuer wie der Sendbote aus dem Reich der Legende. Er scheint monothematisch fixiert auf seine Verbindung mit dem Nobelpreisträger, doch sein Gedächtnis ist eine Fundgrube reich an Anekdoten aus den letzten Monaten im Leben seines weltbekannten Dienstherrn.
Mit Dueña Matilde, Nerudas dritter Ehefrau, kam er ganz und gar nicht klar, besser: sie mit ihm nicht. Sie verabscheute die Armen und behandelte Don Pablos Bedienstete als Underdogs, tadelt Araya. Anders die Beziehung des Compañero Neruda zu ihm: Die Armut als gemeinsame „Jugendgefährtin” habe ihre enge Freundschaft geschmiedet.
Arayas Eltern waren arme Campesinos vom Hinterland San Antonios. Als Kinder befremdete ihn und seine zwölf Geschwister, wie sich ihr Vater von halb sechs in der Frühe bis abends um neun bei der Feldarbeit abplagte. Die Demütigung wollte er als Erwachsener nicht auf sich nehmen und er war gerade vierzehnjährig, als er von Julieta Campusano, einer legendären Senatorin der KP, als Patenkind adoptiert und nach Santiago mitgenommen wurde. Bald sorgte Campusano in der Partei für seine Ausbildung in Techniken des Personenschutzes und politischen Protokolls, die Fahrerausbildung gehörte dazu.
Mit der Wahl Allendes gelang der KP 1970 der Aufstieg zur Regierungspartei.
Araya, knapp 25, diente nun u.a. als Chauffeur und Leibwächter des stellvertretenden Staatssekretärs Daniel Vergara – einer jener „fünfzig Wackeren”, ermahnt er, die an der Seite Allendes am Morgen des 11. September 1973 den Regierungspalast La Moneda gegen Pinochets brutalen Überfall bis zur letzten Patrone verteidigten.
Beim „Kapitän” von Isla Negra
Manuel Araya dürfte die ständige Wiederholung seiner Geschichte verständlicherweise auf den Geist gehen, denke ich, während er weitererzählt. Immerhin hat er sie seit Ermittlungsbeginn im „Fall Neruda” einer Schar von Journalisten offenbart. Nein, nein! Es sei ihm ein Vergnügen, kokettiert der Gentleman, denn bei jedem Wiederkäuen fiele ihm längst Vergessenes plötzlich wieder ein!
Auf einer langen, geraden Fahrbahnstrecke fragt er das Team, ob wir wüssten, warum Neruda von Allende 1971 als Botschafter nach Paris geschickt worden war. Weil er die chilenische Kultur so gut vertrat? Araya lacht lauthals. Falsch! Allende tat Nerudas Frau Matilde einen Gefallen, die sich bei ihm über die geheime Liebesaffäre ihres Ehemannes mit ihrer Nichte beschwerte und den Präsidenten bat, ihn elegant aus Chile zu entfernen.
Doch im November 1972 war Neruda übereilt aus Paris nach Isla Negra zurückgekehrt. Wieso ausgerechnet jetzt, wo er doch Literatur-Nobelpreisträger und in aller Munde war, fragten ihn seine Freunde. Nun, er wolle wieder die salzige Luft schnuppern, die hier auf den die Küste umsäumenden schwarzen Felsen klebt, erklärte er abwiegelnd. In Wahrheit quälten ihn sein Prostata-Krebs und die Sorge um Freund Allende, dem in Chile und von Richard Nixon der Umsturz angedroht war.
In Nerudas Memoiren und einzelnen Biografien hatte ich gelesen, dass er den Isla-Negra-Strand 1939 während eines Ausritts entdeckt und dem pensionierten spanischen Schiffskapitän und Alt-Anarchisten, Eladio Sobrino, abgekauft habe. Don Eladio nannte die Idylle „Las Gaviotas”, soviel wie “Mövenblick”. Neruda wiederum dürstete es nach dem abgeschiedenen Territorium der Poesie. Er nannte den Strandflecken seine „Insel” und erklärte sich selbst zum „Kapitän“ – die schwarzen Felsen erklärten das Übrige.
Das ganze Anwesen hatte in drei Jahrzehnten die Umrisse eines Schiffes erhalten. Der närrische Poet sammelte abgewrackte Fischerboote, Schiffsmasten, Anker, Bullaugen und mystische Meereswesen. In Isla Negra fühlte er sich endlich wie der Kapitän im Titel seines homonymischen Gedichtbands „Die Verse des Kapitäns“, eine 1952 anonym in Capri verfasste Sammlung lüsterner Kompositionen, die er Matilde Urrutia widmete, mit der er seine zweite Ehefrau, die argentinische Kunstmalerin Delia del Carril, betrogen hatte.
Manuel Araya fährt fort: Wieder daheim, brauchte der Dichter 1972 ein Auto und einen Fahrer. Da stellte Alt-Senatorin Campusano ihrem Freund Neruda ihren Protegé vor: Manuel Araya Osorio. Der Dichter berief ihn bald zum „Sekretär” – ein Attribut, mit dem Neruda es nicht so ernst meinte, nannte er doch den Gärtner und den Tischlermeister Jaime Maturana auch seine „Sekretäre”. Dafür durfte ihn Araya im intimeren Umgang bald „Pablito”, im kumpelhaften politischen Gespräch „Compañero Pablo” und wenn das Protokoll es erforderte, mit der respektierlichen Form „Don Pablo” anreden.
In Isla Negra stand er jeden Morgen um punkt sieben Uhr auf der Matte, versichert uns Araya. Mit einem gefüllten Wasserkübel musste er zunächst für die Morgentoilette des Dichters sorgen. Anschließend fuhr er in den Nachbarort Tabo, leerte Nerudas Postfach und kaufte die ersten Tageszeitungen. Am späten Morgen pflegten die ersten Gäste und Besucher einzutreffen, Araya öffnete ihnen die Tür. Danach besorgte er die Einkäufe und, je nach Terminkalender, fuhr er seinen Dienstherrn an Nachmittagen zu Begegnungen oder einfach nur spazieren.
Befremdliche Vorkommnisse: Mexikos Botschafter Martinez Corbalá, der Neruda aus den Fängen Pinochets befreien und nach Mexiko ausfliegen sollte, ging ein und aus in Isla Negra, behauptet aber dennoch, Manuel Araya niemals begegnet zu sein.
Der Poet mochte das gepflegte Auftreten seines Fahrers, der mit seinen zwei Paar Schuhen, zwei Anzügen, sechs Oberhemden und sechs Krawatten aus der Not eine Tugend machte.
Geld!
Das Vertrauensverhältnis sei so eng gewesen, dass ihn Neruda zur Post schickte, um die Urheberrechte aus seinen Buchlizenzen zu kassieren. Das Geld bekam er aber nicht auf „hundertprozentig legalem Wege”, oft war es in Pappzylindern oder Köchern versteckt, die man als Schutzhülle für ungerahmte Gemälde nutzt.
Tja, Don Pablo hatte so seine Tricks. Und Macken!