Chiles fortschrittliche Genderpolitik und schlaffe soziale Verantwortung – mündet die Ära Michelle Bachelet in neuer konservativer Wende?
Am kommenden 19. November 2017 wählt Chile eine/n neue/n Staatschef/in und die Erneuerung des Unter- und Oberhauses des Parlaments, mit 120 Abgeordneten und 38 Senatoren. Zur Präsidentschaftswahl treten 8 Kandidatinnen und Kandidaten an, doch nur drei von ihnen haben eine reale Chance: der Kandidat von Michelle Bachelets Mitte-Links-Koalition, Alejandro Guillier, der konservative Multimilliardär Sebastián Piñera und die liberale Beatriz Sánchez von der linken „Frente Amplio”. Nach jüngsten Meinungsumfragen des chilenischen Instituts Cadem, vom September 2017, läge Piñera im ersten Wahlgang mit 43 Prozent der Stimmabsichten weit vor seinen Herausforderern Guillier (20 Prozent) und Sánchez (15 Prozent) und würde auch eine Stichwahl gegen Guillier mit 50 Prozent gegen 38 Prozent gewinnen. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Dass Meinungsumfragen politisch motiviert, suggestiv sein und gegen saftige Honorare auch bestellt werden können, sollte man Cadem nicht unbedingt unterstellen, doch vermuten darf man es. Stimmte die Enquette der Konkurrenz-Institute CERC-Mori von Anfang vergangenen Julis, so sollte umgekehrt Guillier den konservativen Piñera mit mindestens 3 Prozent in der erwarteten Stichwahl bezwingen. Mit einer gewaltigen Differenz im Vergleich zu Cadem sprechen neueste Umfragen von CERC-Mori Regierungskandidat Guillier mindestens 30 Prozent der Wählergunst zu, doch hellhörig stimmt ein angeblicher Zuwachs Piñeras um mehr als 13 Prozent innerhalb weniger Wochen.
Schädigend für Guillier ist jedenfalls die Entscheidung der Christdemokratischen Partei Chiles, nach mehr als 25-jähriger Zugehörigkeit zur regierenden Mitte-Links-Koalition „Nueva Mayoría” eine eigene Präsidentschaftskandidatur der Senatorin Carolina Goic ins Rennen zu bringen, die monatelang in der 5 Prozent-Zone verblieb und wenige Wochen vor der Wahl erst 8 Prozent auf sich vereint, die Guillier gut gebrauchen könnte.
Mit Ungewissheiten, Vorbehalten und der üblichen Fehlermarge von +/- 3 Prozent steuert die chilenische Präsidentschaftskampagne nun in den spannenden Endspurt.
Konservative Blockade und medialer Image-Abbau
Am 11. März 2018 überträgt Staatschefin Michelle Bachelet dem Wahlsieger die Präsidentenschärpe. Damit beendet Bachelet ihre zweite Administration als Präsidentin Chiles.
Am letzten Tag ihrer ersten Amtszeit (2006-2010) hatte die Tochter des von der Pinochet-Diktatur ermordeten, Allende-treuen Luftwaffengenerals Alberto Bachelet, vielerlei Gründe zum Feiern. Einmalig in der Präsidialgeschichte Chiles, verabschiedete sich Michelle Bachelet mit einer Popularitätsrate von 84 Prozent vom Regierungspalast La Moneda.
Doch schon im ersten Jahr ihrer zweiten Amtsperiode als Nachfolgerin Sebastián Piñeras drohte ihr politisches Kapital 2015 mit kaum 26 Prozent Zustimmung bis auf die Grundmauern einzubrechen; eine Ablehnung im Volksvertrauen, von dem sie sich nur mit enormer Anstrengung fünf Monate vor Mandatsende erholte, als ihr neueste Umfragen vom September 2017 die Unterstützung von 34 Prozent der Chilenen zugestehen, von denen 69 Prozent insbesondere ihr Charisma würdigen.
Die Beliebtheitseinbußen der sympathischen und mütterlich auftretenden sozialistischen Kinderärztin hatten verschiedene Gründe. Zum einen hatte sie einen Medienskandal um Sohn Sebastián Dávalos und Schwiegertochter Natalia Compagnon wegen schweren Amtsmissbrauchs bei einer privaten Bankkreditaufnahme auszubaden. Zum anderen – und das war der eigentliche Hauptgrund ihres medialen Image-Abbaus – stießen Bachelets bescheidene Reformansätze auf das Dauerfeuer der mächtigen, durchweg neoliberal eingeschworenen Unternehmerverbände.
Scharf angegriffen wurden ihre Reform des Steuer-, die Änderung des Wahl- und die schrittweise Reform des Bildungssystems. Als nun 2016 auch ihre versprochene Reform der bis dahin in Kraft befindlichen, drakonischen Arbeits-Gesetzgebung der Pinochet-Diktatur die Verbesserung der Lebensqualität von Millionen werktätiger Chilenen – mit der Disziplinierung des prekären Arbeitsmarktes, der Stärkung der Gewerkschaften und Anerkennung des allgemeinen Streikrechts – signalisierte, blockierte die ultrakonservative Opposition monatelang die Parlamentsverhandlungen und zog mit einer Klage vor den Obersten Gerichtshof, der die Vorlage von Bachelets Mitte-Links-Koalition in der Tat verwässerte.
Gleichwohl glaubt zum Beispiel die Anthropologin und Trägerin des Nationalpreises der Wissenschaften, Sonia Montecinos, dass mit der Person Bachelets auch ein komplexes Netz von Symbolen und Erwartungen verknüpft wurde, die die chilenische öffentliche Meinung prägten. „Aus geschlechtsspezifischer Sicht ist sie eine der ersten lateinamerikanischen Frauen, die sich zu Reformen bekennt und genuine politische Macht verkörpert – das ist eine explosive Mischung”.
Gender- statt Sozialpolitik – die betretene Ära Bachelet
Die von George Soros gesponserte NGO Ciudadano Inteligente rechnete 2016 nach, dass Bachelet immerhin drei Jahre brauchte, um 48 Prozent ihrer Wahlversprechen in reale Regierungspolitik umzusetzen, ein wahrlich bescheidenes Ergebnis, jedoch deutlich mehr als Vorgänger Piñera, dessen Administration zwischen 2010 und 2013 kaum 37 Prozent seiner demagogischen Vorgaben in die Realität umsetzte.
Als wohl größte Erfolge ihrer zweiten Amtsperiode müssen die Legalisierung der zivilrechtlichen Partnerschaft und der Abtreibung in drei Kausalfällen sowie die Gesetzesinitiative für gleichgeschlechtliche Ehe genannt werden.
Erstere war allerdings bereits im August 2011 von der Regierung Piñera dem Parlament als Vorlage eingereicht und im Januar 2015 genehmigt worden und nach Prüfung durch das Verfassungsgericht im April 2015 unter massivem Beifall zigtausender Homosexueller im Lande von Bachelet feierlich in Kraft gesetzt worden.
Nachdem das Verfassungsgericht im August die Einwände der Konservativen gegen die Entkriminalisierung der Abtreibung zurückgewiesen hatte und die Regierungsinitiative in Kraft trat, schob Bachelet ihren Gesetzesentwurf für die gleichgeschlechtliche Ehe nach, der homosexuellen Paaren auch das von den Konservativen bekämpfte Recht auf Kinder-Adoption und -Erziehung zugesteht. „Es ist weder ethisch noch fair, der Liebe künstliche Grenzen zu setzen”, erklärte die Präsidentin bei einer Zeremonie im Regierungspalast La Moneda, umgeben von Vertreterinnen und Vertretern der GLTB-Gemeinschaft. Der Ratifizierung der Gesetzesvorlage durch das Parlament im Januar 2018 sehen Bachelet und die Community optimistisch entgegen.
Die Gender-Gesetze sind die Folge eines schweren Konflikts zwischen der homosexuellen Szene und der chilenischen Justiz aus dem Jahr 2012. Damals verklagte die „Bewegung für Integration und homosexuelle Befreiung (Movilh)“ den chilenischen Staat vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, nachdem der Oberste Gerichtshof in drei Fällen diskriminierende Gerichtsurteile bestätigt hatte. Daraufhin versprach die chilenische Regierung, noch vor März 2018 mit dem genannten Gesetzesentwurf dem Zustand der Rechtsverletzung ein Ende zu setzen.
Weit draußen, weg von der Intim- und Familiensphäre, verbuchte Bachelet auch Erfolge mit der Förderungspolitik erneuerbarer Energiequellen – insbesondere dem massiven Ausbau von Solar- und Windenergieparks – die sich weltweiter Anerkennung erfreut, jedoch bisher vor allem den extraktiven und energieintensiven Bergbausektor in der Atacama und noch nicht den durchschnittlichen chilenischen Stromverbraucher begünstigt.
Auf der Strecke blieben die versprochene Transparenz der von vielfältigen Korruptionsskandalen umrankten Streitkräfte, eine energische Reform des privatisierten Altersversorgungssystems, der Abbau der enormen sozialen Ungleichheit und schließlich die Reform der Pinochet-Verfassung von 1980, die der demokratischen Legitimation einer verfassungsgebenden Versammlung entbehrt und Chile das neoliberale Wirtschaftssystem mit Daumenschrauben aufsetzte.
Zum größten Versagen der Bachelet-Jahre gehört wohl die historisch längst fällige Aussöhnung des chilenischen Staates mit den indigenen Völkern, die das Territorium seit 12.000 Jahren bewohnten und von der Conquista der Spanier und der Besetzung durch die chilenische Unabhängigkeits-Oligarchie überrannt und entrechtet wurden. Bachelet hatte sich zu einem Konsultationsprozess verpflichtet, um Reformen durchzusetzen, die Autonomie und Selbstbestimmung sichern sollten. Zwar signalisierte die Einrichtung eines Unterstaatssekretariats für indigene Angelegenheiten im Innenministerium einen hohen politischen Stellenwert, doch gerade der sogenannte „Mapuche-Konflikt“ eskaliert am Ende der Bachelet-Administration wegen mangelnder Dialogbereitschaft in der ungerechtfertigten Militarisierung des südchilenischen Araukanien durch Polizei und Geheimdienste und der Stigmatisierung und Kriminalisierung militanter Mapuche-Autonomisten als „Terroristen“. Ein friedlicher Ausgang der Krise ist noch lange nicht in Sicht und dürfte wohl unter einer noch konservativeren Regierung explosive Formen annehmen.
Beschneidung oder Weiterschreibung der neoliberalen Ordnung?
Der langjährige Journalist und Hochschulprofessor der Publizistik Guillier hat ein sozialdemokratisches Programm. Zum Thema indigener Autonomie setzt der Präsidentschaftskandidat ein erstaunlich innovatives Vokabular in Szene. „Unsere Völker sind keine Terroristen, sie sind Opfer einer historischen Verschuldung”, erklärt er und verspricht den rund 1,5 Millionen Indigenen (ca. 10 Prozent der Bevölkerung) im Lande lang ersehnte Autonomie- und politische Vertretungsrechte.
„Wir können nicht von einem Finanzsystem leben, das nur auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen basiert. Wir müssen die Wirtschaft an Wissenschaft und Technologie anbinden“, kritisiert Guillier und regt die Wählerschaft für Zukunftsvisionen an. Zum Beispiel für eine „Revolution sauberer und erneuerbarer Energien”, die Chile bis 2050 mit 90 Prozent erneuerbarer Solar- und Windenergie versorgen soll. Ferner für die Förderung des in der Atacama reichhaltigen Lithiums zur Einführung des Elektroautos, die Massifizierung des Internets sowie für Anreize und Förderung von Klein- und mittelgroßen Unternehmen mit gemischter, staatlich-privater Kreditfinanzierung. Zum Nachtisch, oder als „Kirsche auf dem Kuchen“, die massive Förderung des „nachhaltigen Tourismus”; ganz zu schweigen von der dezidierten Weiterführung von Bachelets Genderpolitik und der von ihr nicht vollendeten Reform des Bildungs- und Rentensystems, zu deren Finanzierung Guillier allerdings beachtliche Geldsummen benötigen wird – sollte er gewählt werden.
In diametralem Gegensatz zu Guilliers volksnahem Programm strotzen die von Piñera verbreiteten, diffusen 60 Ziele seiner Regierung nur so vor elitären Vorhaben. Zum Beispiel sein „Nationaler Exzellenz-Schulplan“, der in Chile 300 Elite-Schulen errichten soll. Oder sein neues, „nationales Englisch-Lehrprogramm“ mit digitalem Trainingsplan und das städtische Verkehrssystem für Chile, pompös angekündigt als “Urban Transport Third Millennium“.
Der Konservative steigert sich auch in stratosphärische Höhen bei der Vorstellung eines sogenannten „neuen Steuersystems für Pro-Wachstum, Pro-Investment und Pro-Entrepreneurship-Unternehmen“- also der Zerstörung von Bachelets schüchterner Steuerreform, zurück zur alten Steuerbefreiung von Unternehmern. Das marode öffentliche Gesundheitssystem will Piñera mit der Schaffung eines „Netzes von Exzellenz-Kliniken“ ersetzen, eine „neue Sozialversicherung“ einführen, das „Rentensystem reformieren“, den Kampf gegen häusliche Gewalt und den Familienschutz fördern und einen „nationalen Plan zur Überwindung der Armut“ ausrufen.
Zwischen den Zeilen seiner vielfältigen Absichten ist Böses an der „Indianer-Front“ zu erwarten. Kein Sterbenswort der Selbstkritik oder einer ernstgemeinten Reformpolitik. Stattdessen die „umfassende Überprüfung der Strafprozessordnung“ und die „landesweite Terrorismusbekämpfung“, natürlich auch der „organisierten Kriminalität“, womit selbstverständlich nicht die milliardenschwere Steuerhinterziehung gemeint ist, an der sich auch Kandidat Piñera unter Chiles Milliardären jahrelang als Unternehmer beteiligte, mit Devisenschmuggel schuldig machte und von der Justiz beanstandet wurde.
Zur Krönung fehlte aber ein entscheidendes Ziel: die „Rücknahme der Arbeitsrechts-Reform“.
Am 19. November entscheiden die Chilenen – entweder für oder noch einmal gegen sich selbst.