Nachtrag zu den Gepeinigten einer menschenunwürdigen Erziehung

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Den Hinweis Nr. 15 vom 15.6. über katholische Heimerziehung in IRLAND (“Wir waren Sklaven”) hatte ich mit der Bemerkung kommentiert, das wäre bei uns ein klarer Verstoß gegen Art. 1 des Grundgesetzes (Schutz der Würde des Menschen) und damit verfassungsfeindlich. Für diesen Kommentar wurde ich von einem unserer Leser kritisiert (siehe Anhang 1), von anderen wurde mein Kommentar mit interessanten Informationen ergänzt. Albrecht Müller

Diese Ergänzungen finden sich in den Anhängen 2-4. Dass wir in den NachDenkSeiten noch einmal auf das Schicksal der betroffenen Menschen eingehen, soll auch ein Zeichen des Respektes und der Solidarität mit den Betroffenen sein.

Die Zahl der Opfer der menschenunwürdigen Heimerziehung wird von einem Autor auf 1 Million geschätzt. Siehe Anlage 3. Ich kann diese Zahlen nicht nachprüfen. Aber schon 1000 wären 1000 zu viel. Außerdem betraf und betrifft der Geist einer verklemmten religiösen Erziehung auch Hunderttausende junger Menschen, die nicht in Heime gesteckt, sondern außerhalb dem Druck einer gerade im sexuellen Bereich menschenfeindlichen Grundhaltung ausgesetzt waren, auch mit Nachwirkungen für ihr ganzes Leben. Übrigens haben wir uns in den 60ern auch gegen diesen menschenunwürdigen Geist aufgelehnt. Dies noch als Ergänzung zum erkennbaren Versuch der Rechtskonservativen, die Entdeckung der Stasitätigkeit des Todesschützen Kurras zu nutzen, um die 68er-Bewegung zu diskreditieren und aus der deutschen Geschichte zu streichen.

Anhang 1

Sehr geehrter Herr Müller,

ihren Kommentar zum Hinweis des Tages Nr. 15 vom 15.06.2009 kann ich nicht ohne Kommentar stehen lassen. Er zeigt, mit Verlaub, ein großes Maß an Borniertheit gegenüber der Institution Kirche. Zu behaupten, die Kirche sei verfassungsfeindlich ist schlichtweg falsch.
Es gibt wohl kaum eine andere Institution, die sich so stark für die Würde des Menschen einsetzt, gleiches gilt für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Sie bejaht und unterstützt die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung. Das sollten sie eigentlich als Mensch mit Allgemeinbildung wissen. Wie die Kirche solche Geschehnisse sieht, dafür haben sie hier zwei Beispiele:

Zitat Kompendium der Soziallehre der Kirche Nr. 118:

Einige Sünden stellen darüber hinaus durch ihren Tatbestand selbst einen direkten Angriff auf den nächsten dar. Vor allem diese Sünden lassen sich als soziale Sünden bezeichnen. Sozial ist jede Sünde, die angefangen beim Lebensrecht auch des Ungeborenen, die Rechte der menschlichen Person oder die körperliche Unversehrtheit eines Menschen verletzt. Die Verurteilung versteht sich hier wohl von selbst.

Zur Demokratie:

Zitat Kompendium der Soziallehre der Kirche 395:

Das Volk überträgt die Ausübung seiner Souveränität in verschiedenen Formen auf diejenigen, die es in freier Wahl zu seinen Vertretern bestimmt, aber es behält die Zuständigkeit, die Regierenden auszuwechseln, wenn diese ihre Funktionen nicht in befriedigender Weise erfüllen. Auch wenn dieses Recht in jedem Staat und in jedem politischen Regime seine Gültigkeit hat, bietet das demokratische System die besten Möglichkeiten und Garantien für seine Umsetzung.

Es ist richtig, dass das Vorgehen der Kirche in diesen Fällen oft schlecht ist. Ich bin auch der Meinung, dass man in Missbrauchsfällen vollkommen anders vorgehen muss.
Die Kirche auf eine Stufe mit Rechtsradikalen und Terroristen (= ebenso Verfassungsfeinde) zu setzen ist allerdings eine sehr grobe Verzerrung der Tatsachen! Das ist nichts weiter als billige Kulturkampfpolemik. Aber seit neuestem ist es wohl wieder sehr en vogue, Katholiken wie im 19. Jahrhundert als “Reichsfeinde/Verfassungsfeinde/Geisteskranke” hinzustellen.

Sie verkehren hier ihren eigenen Anspruch, nicht dem Mainstream der medialen Meinungsmacher hinterherzulaufen ins Gegenteil, indem Sie in einen undifferenzierten Antiklerikalismus verfallen, wie er im Mainstream der deutschen Medien vertreten ist. Denken Sie mal darüber nach.

T. W., Trier

Nachbemerkung Albrecht Müller:

Hierzu wäre vieles anzumerken. Ich will es dabei belassen, darauf hinzuweisen, dass es die (!) Kirche nicht gibt. Es gibt die katholische Kirche, die evangelische Kirche und noch viele andere. Jedes Mal, wenn zum Beispiel im ZDF genauso wie im Text der Anlage 1 „die“ Kirche auftaucht und die katholische gemeint ist, erschrecke ich und wundere mich, dass zum Beispiel die evangelische Kirche sich das gefallen lässt.

Anlage 2:

RM am 16.6. an NachDenkSeiten:

Sehr geehrter Herr Müller,

ich gehöre seit zwei Jahren zu den regelmäßigen Lesern Ihrer NDS und gebe Ihnen gerne aus meiner Vita einige Zusatz-Informationen zum Artikel über “Prügel-Katholiken” in Irland.

Sie beginnen Ihrem Kommentar mit “Würde so etwas in Deutschland passieren…” und ich sage Ihnen: Ich habe manches gesehen und z.T. erlebt in einem katholisch geführten bayerischen Internat (humanistisches Gymnasium) Ende der 50er Jahre, das aus dem gleichen Schoß kroch. Vorab: Ich kam mit  dem Schrecken (bis hin zu einer Art Prügel-Trauma)  davon, da ich  nach eineinhalb Jahren “durchgegangen” bin und damit meine Rückkehr in die Familie erzwingen konnte. So hatte ich persönlich letztlich nur Prügel ohne Ende und einige unsittliche Berührungen auf meinem Erfahrungskonto, aber zum großen Glück keinen irreversiblen Übergriff.

In das Internat kam ich (als noch braver Klassenprimus) auf Vorschlag des örtlichen Pfarrers und eines von ihm vermittelten Stipendiums. In den ersten zwei Monaten hatte ich bereits ca. 20 – 30 Ohrfeigen (mit Funkenflug und Trommelfell-Sausen) und unzählige “Kopfnüsse” gesammelt. Ich habe täglich Szenen gesehen, in denen Mitschüler aufgrund von Minimalst-Vergehen (z.B. im Studiersaal Öffnen des Pultdeckels während der Studierzeit) vor aller Augen gezüchtigt wurden, bis sie in einigen Fällen auch am Kopf bluteten. Letzteres lag daran,  dass die Aufsichtspersonen (Patres und ein weltlicher Präfekt), um Ihren mit voller Kraft durchgeführten Kopfnüssen noch mehr “Nachdruck” zu verleihen, Schlüssel zwischen die geballte Faust nahmen und den Schlüsselbart nach vorne überstehen ließen (Schlagring-Prinzip). Tisch-Manieren und “Aufessen” wurden einem im Speisesaal ebenso mit Fäusten eingetrichtert. Kinder, die manche Speisen in der Besteck-Schublade verschwinden ließen, weil sie nicht mehr konnten oder auch weil es grässlich schmeckte (Blut- und Leberwurst nannten wir “Bremsgummi” und “Wasserwurst”), wurden schwer bestraft. In den Schlafsälen gab es jeweils einen Schlafsaal-Ältesten (aus einer höheren Klasse) der ein Züchtigungsrecht hatte. Sein Bett stand an der Stirnseite des Schlafsaals und grenzte an die Tür zur Schlafkammer der (Patres/Präfekten) an. Dieses Bett und auch andere Betten waren nachts auch leer, was ich als 10/11-Jähriger damals noch nicht einordnen konnte. Dahinter stand, dass die Patres/Präfekten sich nachts regelmäßig Besuch aufs Zimmer holten, aber auch einige Internatsbuben damals in dieser Atmosphäre aus Sadismus und Angst untereinander “zusammenkrochen”. Auch wenn ich nicht hinter die Wände blicken konnte, so sagte mir doch mein persönliches tiefes Unglücksgefühl in dieser Zeit, dass hier etwas stattfindet, was unmenschlich ist und letztlich gegen mich läuft.

Festzuhalten ist: Zuallererst natürlich der Fakt, dass die  katholische Kirche diese Schuld keinesfalls aufgearbeitet hat. Festzuhalten ist aber auch: Diese Art von “Eliten-Zucht” hatte in den 50er und sechziger Jahren noch System. Sie hat Menschen zerstört und ist mitverantwortlich für viele deformierte Persönlichkeiten in unseren Eliten. Gleiche Schule wirbt heute, wie man mir gesagt hat, mit fortschrittlichen Lehr- und Lern-Methoden. Wer`s glaubt. Ich neige dazu “forschrittlicher” durch “subtiler” zu ersetzen.

RM

Anlage 3:

Delf Schnappauf am 17.6. an AM NachDenkSeiten:

Sie schreiben in Ihrem Kommentar:

Würde so etwas in Deutschland passieren, wäre das ein klarer Verstoß gegen Art. 1 des Grundgesetzes (Schutz der Würde des Menschen). Da die katholische Kirche von dem Treiben gewusst hat, wäre auch sie als verfassungsfeindlich zu werten.

Es ist in Deutschland ebenso passiert, die meisten Heime waren in kirchlicher Hand.

Auch im Moor musste hart gearbeitet werden, z. B. in der Diakonie Freistatt bei Diepholz, eine Zweigstelle der Bodelschwinghschen Anstalt in Bethel.
Ich habe in den letzten Jahren mit zahlreichen Betroffenen Kontakt gehabt und kenne die Ausreden von Kirchen aber auch von den Landeswohlfahrtsverbänden und ihren Aussagen vor den Sozialgerichten.
Im Verein ehemaliger Heimkinder rufen täglich Menschen an, die sich erst jetzt offenbaren und erschütterndes berichten, das sie ihr Leben lang geheim hielten.

Dankenswerter Weise hat Peter Wensierski 2005 sein Buch “Schläge im Namen des Herrn” herausgebracht und das ganze Thema auch in Deutschland ins Rollen gebracht.
In Berlin ist jetzt der “Runde-Tisch Heimerziehung” vom Petitionsausschuss eingerichtet worden, in dem in der Überzahl die Vertreter der Träger sitzen. Deren Hauptziel dürfte sein, wie sie ohne Imageschaden und vor allem ohne Zahlungen gut davon weg kommen.

Das Thema wurde zum ersten Mal 1969 im Hessischen Rundfunk mit einem Feature bekannt gemacht. Ulrike Meinhof berichtete über das Mädchenheim Fuldatal in Guxhagen-Breitenau.

Peter Wensierski schätzt die Zahl der heute noch lebenden ehemaligen Heimkinder auf ca. 1 Mill. Menschen. Sie leben häufig am Rand der Gesellschaft schwer traumatisiert, krank und weiterhin schikaniert, wie ich aus persönlichen Beobachtungen kennengelernt habe.

Links:

Delf Schnappauf

Anlage 4:

T.B. am 15.6. an NDS:

Zu Ihrem Bericht von heute – Irland: “Wir waren Sklaven”

Vergangenes Wochenende bin ich durch Zufall auf den folgenden Bericht in der ftd gestossen und wollte Sie noch anschreiben, ob Sie das veröffentlichen könnten; nun haben Sie es quasi getan.
Der Verein, der dahintersteht: www.veh-ev.org

Viele Grüsse,
T. B.

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