„Jedes System braucht Widerspruch“ – Der Filmproduzent Ottokar Runze (*1925). Eine Rezension von Wolfgang Bittner.
Viele Autobiographien bekannter Persönlichkeiten, die zumeist von Ghostwritern geschrieben werden, sind überflüssig; nicht so die 2015 erschienenen Lebenserinnerungen des Schauspielers, Regisseurs und vielfach ausgezeichneten Filmproduzenten Ottokar Runze. Hier berichtet jemand offen und schonungslos über sein Leben, seine Erfahrungen und Einsichten, seine Erfolge und sein Scheitern, unprätentiös, lebensklug aus der Sicht des Neunzigjährigen. „Vom Glück zu trauern“ ist ein gutes Buch, lesenswert, zugleich informativ und anrührend. Dass es kein „Seller“ geworden ist, was es verdient hätte, liegt ganz offensichtlich an dem nonkonformistischen, gesellschaftliche und kulturpolitische Verhältnisse scharf kritisierenden Ansatz.
1925 in Berlin geboren, nahm Runze noch zwei Jahre am Zweiten Weltkrieg teil, zuletzt 1945 einige Wochen als knapp zwanzigjähriger Leutnant der Infanterie bei der Verteidigung Berlins. „Ich hätte fliehen können von der Fahne, die längst besudelt war“, schreibt er. Doch das verinnerlichte Pflichtbewusstsein verbot es ihm, obwohl der Zweifel da war und im Nachhinein die Erkenntnis: „Die Haltung, die mir so viel bedeutete, ist die Haltung meiner Vorfahren, Ich brauche sie nicht. Es geht um eine andere Ehre. Es geht um die höhere Pflicht. Ich habe versagt … Fahnenflucht wäre meine Pflicht gewesen.“
Er erinnert sich an seinen Griechisch-Lehrer, der nach der Reichspogromnacht 1938 von den Schülern gefragt wurde, was die Zerstörungen der Synagogen und jüdischen Geschäfte zu bedeuten hätten. Er hatte damals unter Lebensgefahr geantwortet: „Was heute Nacht geschehen ist, wird für alle Zeit eine Schande für unser ganzes Volk sein.“ Die Schande: „Millionen Juden und Polen sind ermordet worden. Und jeden Tag mussten Tausende sterben im verlorenen Kampf. Noch im April 1945. In sinnlosem Gehorsam sprachen Richter immer noch Todesurteile und immer noch erledigten Henker ihre blutige Arbeit. Immer noch nistete Angst in ihren Herzen. Keiner fand in sich die Kraft, Verurteilte freizulassen, keiner hörte auf sein Gewissen.“
Der Neunzigjährige trauert, nicht nur der deutschen Schande wegen. Er wurde verwundet, geriet in Gefangenschaft, arbeitete nach Kriegsende ein Jahr lang in der Landwirtschaft. Im zerbombten Berlin wurde er schließlich Schauspieler und erhielt ein Engagement am Deutschen Theater, wo Bertolt Brecht „Mutter Courage und ihre Kinder“ inszenierte. Aber er kündigte aufgrund eines politischen Konflikts: „Ohne nachzudenken hatte ich eine Entscheidung getroffen, die mein Leben veränderte.“ Es war nicht das letzte Mal in seinem Leben, dass er einen Weg verließ, der Sicherheit bedeutet hätte, entsprechend seinem Lebensprinzip: Sich treu bleiben, „das war mir wichtiger als Karriere, als Erfolg.“
Ottokar Runze arbeitete in der Folgezeit als Regisseur, Theaterleiter und vor allem als Filmproduzent. Er erhielt bedeutende Preise, unter anderem den Deutschen Filmpreis in Silber 1974 für „Der Lord von Barmbeck“, den Silbernen Bären der Berlinale 1974 für „Im Namen des Volkes“, den Deutschen Kritikerpreis 1974, den Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises 2002 für das Lebenswerk. „In meinen Filmen stehen Verlierer im Mittelpunkt“, schreibt er, „Außenseiter, denen sich niemand zuwendet. Verbrecher, in denen wir Menschen entdecken. Jeder Film entstand aus einer skeptischen, kritischen Haltung zu unserem politischen System, ein dem Individuum feindlichen System, das aufgebrochen werden müsste, um Kräfte freizusetzen, die wie in einer Zwangsjacke gefangen sind. Sicherheit, nur darum geht es. Kein Risiko. Aber Leben ist Risiko… Jedes System braucht Widerspruch und rebellischen Geist, um sich ständig erneuern zu können, um selbst Kreativität zu entwickeln.“
Über das Theater schreibt der ehemalige Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter: „Heute wird viel geschrien auf der Bühne. Oft so laut, dass man das Wort nicht erkennt. Es gibt keinen Grund für das Geschrei. Keinen Grund, den Schauspieler zu zwingen, sich schreiend im Dreck zu wälzen, ihm Nacktheit abzuverlangen, die er subtiler, tiefer zeigen könnte, wenn er Haut und Geschlecht nicht entblößen müsste. Er muss nicht nackt sein, um Nacktheit zu spielen. Und warum das Geschrei. Kein Vertrauen in das Wort, Angst vor dem Wort? Wie wohltuend ist ein leise gesprochener Satz, wenn er den Höhepunkt einer Auseinandersetzung markiert. Wenn der Raum den Gedanken aufnimmt und ihn weitergibt. Wort und Raum sind die Welt des Schauspielers. Den Raum braucht der Schauspieler, um durch das Wort den Gedanken leben zu lassen. Er braucht keine Leinwand, die ihn in Großaufnahme zeigt. Auch der Zuschauer braucht nicht Leinwand und Großaufnahme. Beides stört die Beziehung zum Raum. Beides zerreißt für Schauspieler und Zuschauer die Einheit von Raum, Wort und Gedanken.“
Runze kritisiert die zur Mode gewordene Missachtung von Werktreue. Regisseure, denen es gelungen sei als prominent zu gelten, pflegten anstatt Bescheidenheit vor dem Werk der Autoren Eitelkeit und Hochmut, „Sie verrenken sich in der Bemühung besonders zu sein und überschätzen sich. Und der Souverän von heute, Staat oder Stadt, honoriert das mit hohen Gehältern.“ Der Neunzigjährige fragt: „Ist es das Alter, das mir den Zugang verwehrt zu der Art Theater, die als modern, als heutig gilt? Theater, das Mittel des Fernsehens benutzt und Gesetze der Bühne missachtet.“
Das Fernsehen diene der Gefälligkeit, erklärt Runze. Es fürchte zu provozieren und verbanne Sendungen, die provozieren könnten oder sollten – falls sie überhaupt entstünden – in die Nachtstunden. Dabei könnte es „Forum tiefgreifender Auseinandersetzungen sein, es könnte zur politischen Bildung der Zuschauer beitragen“. Doch es verkomme in seinen Talkshows („das Wort verrät es“) zu flacher Unterhaltung. Moderatoren scheuten die Stille, in der „die Formulierung eines Gedankens gesucht wird. Sie unterbrechen den Gesprächspartner, wenn er nachdenkt. Eitelkeit lässt ihnen die eigene Wirkung bedeutender erscheinen als den Inhalt des Gesprächs“.
Ende der 1980er Jahre begann Runze mit der Planung und Vorbereitung, die Tragödie der Armenier, ihren Holocaust im osmanischen Reich, nach dem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel zu verfilmen. Fünfzehn Jahre widmete er sich diesem Vorhaben mit großem Enthusiasmus, aber er scheiterte mit hohen finanziellen Verlusten an den Widerständen, die dieses politische Filmprojekt hervorrief. „Was bleibt?“, fragt der Neunzigjährige 2015. „Genugtuung, nie aufgegeben zu haben? Immer gegen den Strom geschwommen zu sein?“ Seine Antwort: „Es bleibt das Wort Schande. Absurd, dass nach zwölf Jahren Drittes Reich Deutschland heute Europa dominiert und anderen Ländern den Tritt vorgibt. Trotz Einfallslosigkeit der Politik. Wegen wachsender Wirtschaftskraft. Absurd, dass Deutschland heute drittgrößter Waffenlieferant der Welt ist, dass ein deutscher Verteidigungsminister behaupten kann, Deutschlands Freiheit werde am Hindukusch verteidigt…“
Ottokar Runze schreibt von der vergeblichen Hoffnung auf eine gewandelte deutsche Kultur als „Quell gesunder Kreativität“, von einem neuen sozialen Gewissen „gegen die Kluft zwischen Arm und Reich, gegen Gier nach immer mehr“, und er beklagt einen „tiefen Riss durch die deutsche Kulturgeschichte“. Sein Buch enthält wichtige Erkenntnisse, Erfahrungen eines langen Lebens in der Kulturszene. Es könnte wegweisende Anregungen geben, würde es von Kulturschaffenden und -verwaltern wahrgenommen werden, woran jedoch leider zu zweifeln ist. Dem Neunzigjährigen ist beizupflichten: Ignoranz, Eitelkeit und Selbstüberhebung prägen die Szene, die fast nur noch Beliebigkeit hervorbringt. Parallelen in der Politik, woraus sich inzwischen eine existenzielle Bedrohung ergibt, sind unverkennbar.
Ottokar Runze, „Vom Glück zu trauern. Eine deutsche Geschichte“, Klak Verlag, Berlin 2015, 166 Seiten, 12,90 Euro.