Sigmar Gabriel und die Entdeckung der „echten Nazis“ – so viel Geschichtsvergessenheit macht wütend
Es ist Wahlkampf. Da darf man natürlich als Parteipolitiker auch schon mal etwas krachlederner zur Sache gehen und Warnungen vor der AfD sind im Kern ja nie falsch. Aber was Sigmar Gabriel in einem Interview sagt, das er gestern dem Portal t-online gegeben hat, sprengt sämtliche Grenzen von Anstand und Moral. Angesprochen auf den mittlerweile wohl wahrscheinlichen Einzug der AfD in den Bundestag sagt Gabriel, „dann [hätten] wir zum ersten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs im deutschen Reichstag wieder echte Nazis“. Das ist geschichtsvergessen und dumm. Gerade in der Nachkriegszeit saßen zahlreiche „echte“ Nazis in den westdeutschen Landesparlamenten und im Bundestag. Das geht vom NS-Juristen, über hohe Beamte, die verantwortlich bei den Deportationen und dem Holocaust mitgemacht haben, waschechten Kriegsverbrechern und ideologischen Vordenkern der kruden NS-Ideologie bis hin zu einem Teilnehmer der zweiten und dritten Wannseekonferenz. Betroffen sind alle alten Parteien – auch die SPD, in deren Reihen ein von den Franzosen in Abwesenheit zum Tode verurteilter SS-Offizier sogar in den Bundesvorstand aufsteigen konnte. Wer derart geschichtsvergessen agiert, stärkt damit am Ende nur die AfD, die sich – diesmal sogar zu Recht – als Opfer einer Kampagne sieht. Von Jens Berger.
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Was ist nur in Sigmar Gabriel gefahren? Sind ihm die populären Beispiele Filbinger und Kiesinger wirklich nicht bekannt? Nazis, die in der jungen Bundesrepublik in Amt und Würden kamen. Zugegeben – weder Filbinger noch Kiesinger entsprechen dem Klischee des „bösen Nazis“, wie wir es heute aus Literatur und Filmen kennen. Aber wie sieht es mit Günther Hellwing aus? Hellwing, dessen Name sicher ziemlich unbekannt ist, war als SS-Offizier maßgeblich an Morden und Deportationen in Südfrankreich beteiligt und schaffte es nach dem Krieg bis in den Bundesvorstand der SPD. Vor allem in FDP und CDU gibt es zahlreiche anderer solcher Beispiele und gerade Schleswig-Holstein und Sigmar Gabriels Heimat Niedersachen tun sich hier besonders hervor. Vielleicht braucht Herr Gabriel ja mal ein wenig Nachhilfe.
Die Liste der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, die nach 1945 politische Karriere machten, ist ellenlang und auch mit Vorsicht zu genießen. Ein 17jähriger, der indoktriniert wurde und 1944 noch schnell in „die Partei“ eintrat, kann kaum als „echter Nazi“ gelten. Doch auch abseits der Flakhelfer, Hitlerjungen und Duckmäuser ohne Funktion im System gibt es zahlreiche Beispiele für „echte Nazis“, die in der jungen Bundesrepublik teils erstaunliche politische Karrieren hinlegten.
Die Vertriebenen als Auffanglager für ehemalige Nazis
Besonders hoch war die Nazi-Dichte in den Reihen der Nachkriegspolitiker der sogenannten Heimatvertriebenen, die in verschiedenen Formationen vor allem in den 1950er Jahren politisch sehr aktiv waren und später größtenteils in die CDU übergingen. Ein Beispiel für einen solchen Vertriebenen-Politiker ist Alfred Gille, der bereits seit 1933 Mitglied der SA und kurze Zeit später auch der NSDAP war. Gille gehörte der Gauleitung Ostpreußen an und war Beisitzer am Volksgerichtshof. Während der Krieges verantwortete er als Gebietskommissar in der besetzten Ukraine die Deportation tausender Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich. Ein Schreibtischtäter unter vielen, ein Nazi.
Nach dem Krieg fand Gille über verschiedene Vertriebenengruppen wie dem BHE in die Politik und machte dort über den Landtag von Schleswig-Holstein bis in den Bundestag Karriere. Ein wenig Aufregung löste damals seine Warnung vor einer „Dramatisierung der Neonazigefahr“ aus. Drei Jahre vor seinem Tod wurde Gille 1968 noch mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet – wie so viele Nazis, die nach dem Krieg eine politische Karriere machten.
Eine ähnliche Karriere legte Heinrich Hunke hin, der ein Nazi der ersten Stunde war und schon 1923 der NDSAP beitrat. Neben zahlreichen Verwaltungsposten saß er von 1933 bis 1944 für die NSDAP als Abgeordneter im Reichstag und wurde schon früh zu einem der besten Vertrauten Goebbels. Im Machtapparat macht Hunke schnell Karriere und wurde 1942 zum Ministerialdirektor im Propagandaministerium ernannt und wurde daraufhin sogar von der NSDAP in die Vorstandsetage der Deutschen Bank eingebunden. Hunke galt stets als einer der Vordenker innerhalb der Partei und tat sich durch unzählige Fachartikel in wissenschaftlichen Zeitungen hervor, in denen es u.a. um die Judenfrage oder Fragen von Volk und Raum in Europa ging.
Dennoch galt auch er bei der Entnazifizierung nur als „Mitläufer“ und konnte schnell wieder die Karriereleiter erklimmen – unter anderem als Landtagsabgeordneter des BHE, der jedoch in engem Kontakt zum Naumann-Kreis der FDP stand und sich dessen Verschwörung zur Wiederherstellung der nationalsozialistischen Herrschaft anschloss. Daraus wurde bekanntlich nichts und Hunke nutzte seine Position, um im Finanzministerium als Ministerialdirigent Karriere zu machen. 1982 gratulierte ihm die Lippische Landes-Zeitung zum 80. Geburtstag mit den Worten „Ein um die deutsche Wirtschaft hoch verdienter Lipper“ … die 20 Jahre Nationalsozialismus waren vergessen und vergeben.
Hans-Adolf Asbach und die “Renazifizierung Schleswig-Holsteins
Hans-Adolf Asbach trat bereits 1932 oder 1933 in die NSDAP und kurz danach in die SA ein. 1940 wurde er zum Kreishauptmann, also zum obersten zivilen Verwalter verschiedener Landkreise im besetzen Generalgouvernement ernannt. In dieser Funktion organisierte er Deportationen, Erschießungen, Zwangsarbeitslager und Menschenjagden. Im galizischen Bereschany soll er im Oktober 1941 von seinen Helfern 600 Juden zusammentreiben lassen und als Gegenleistung für deren Freilassung eine Kontribution verlangt haben. Trotz bezahlter Kontribution wurden die Juden am nächsten Tag erschossen. Obgleich ein polnischer Auslieferungsantrag existierte, wurde Asbach als „unbelastet“ eingestuft, wetterte fortan gegen die Vertreibung der Deutschen aus Polen und wurde Funktionär und Politiker im Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), der bei den ersten Landtagswahlen in Schleswig-Holstein fast ein Viertel der Stimmen bekam, hinter der SPD zweitstärkste Kraft wurde und zusammen mit CDU, DP und FDP die erste Koalition im Landtag bildete.
Fünf der sechs Minister dieses Kabinetts waren frühere Mitglieder der NSDAP. Die Frankfurter Rundschau schrieb damals von einer „Renazifizierung großen Stils in Schleswig-Holstein“. Asbach wurde Sozialminister und sorgte bereits 1951 – wenige Monate nach der Wahl – dafür, dass das „Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung“ verabschiedet und das Kapitel Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein erst einmal abgeschlossen wurde. Die Entnazifizierung war für ihn ohnehin eine „Gesinnungsschnüffelei“, die nur „Unrecht und Unglück“ gebracht hätte. Zu seinem ersten Staatssekretär machte er Hans-Werner Otto, der von 1942 bis 1944 in der Ukraine als Gebietskommissar tätig war und fortan holten die beiden zahlreiche Mitarbeiter ins Ministerium, die aufgrund ihrer NS-Belastung nirgendwo sonst eine Stellung bekamen. Asbach überstand drei Regierungen und stieg im Kabinett des CDU-Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel sogar zum stellvertretenden Ministerpräsidenten auf. Gerichtliche Ermittlungen gegen Asbach wurden erst Jahre nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik aufgenommen und gipfelten nach sieben Jahren Ermittlungszeit in der „Beförderung“ des verantwortlichen Kieler Staatsanwalts an die Spitze des neuen Kraftfahrtbundesamtes in Flensburg. Die Untersuchungen wurden – mit wenig Elan – neu aufgenommen und bis zu Asbachs Tod im Jahre 1976 wurde kein neues Hauptverfahren aufgenommen. So war das damals mit der Justiz.
Aber was erwartet man auch, wenn die Spitze des politischen Beamtenapparats zu großen Teilen aus ehemaligen NSDAP-Funktionären besteht? Funktionären wie Ernst Kracht, der 1933 in die NSDAP eingetreten ist, Mitglied der SS war und als Oberbürgermeister von Flensburg noch am 30. April 1945 im Rathaus eine Gedenkfeier für den „gefallenen Führer“ veranstaltete? Nach dem Krieg war Kracht von 1950 bis 1958 als Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei der Kieler Landesregierung tätig und kontrollierte von diesem Posten aus die Personalpolitik des Landes. Dafür wurde er dann mit dem Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes mit Stern ausgezeichnet – dem höchsten Orden der Bundesrepublik, der je an Personen verliehen wurde, die keine Staatsoberhäupter sind.
Die „Renazifizierung“ Schleswig-Holsteins trieb in der Nachkriegszeit zeitweise schon extrem braune Blüten. Den Höhepunkt stellt wohl Heinz Reinefarth dar, der der NDSAP seit 1932 angehörte und es im Zweiten Weltkrieg bis zum SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS brachte. Reinefahrt ging aber vor allem als einer der blutrünstigsten Kriegsverbrecher in die deutsche Geschichte ein. Unter anderem ließ er den Aufstand im Warschauer Ghetto niederschlagen und zeichnete für Massenmorde mit über 100.000 meist polnischen Opfern, Massenvergewaltigungen und unzählige andere Exzesse verantwortlich, die meist mit äußerster Brutalität und Verrohung durchgeführt wurden. In Polen war Reinefarth als „Schlächter von Warschau“ bekannt.
Seltsamerweise fehlen den bundesdeutschen Gerichten jedoch die Beweise für eine Auslieferung am Polen und Reinefahrt wurde aus Mangel an Beweisen freigelassen und konnte fortan als Politiker der Vertriebenenpartei GB/BHE als Bürgermeister von Westerland und später als Landtagsabgeordneter in Kiel Karriere machen. Damit war jedoch auch für die braunen Nordlichter ein Ende der Fahnenstange erreicht. Nachdem die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnahm, musste Reinefarth 1967 sein Mandat ruhen lassen und war fortan nur noch als normaler Anwalt tätig. Der offizielle Nachruf der Sylter Verwaltung würdigt ihn mit den Worten „Sein erfolgreiches Wirken für die Stadt Westerland wird unvergessen bleiben!“ – da ist es schon fast wieder verständlich, dass heute kaum jemand mehr weiß, wie viele ehemalige Nazis damals vor allem im Norden der noch jungen Bundesrepublik Karriere gemacht haben.
Kaum besser sah es seinerzeit in Niedersachsen aus. Einer der ersten Nazis überhaupt war Georg Joel, der der NSDAP bereits 1922 beitrat und fortan als niedersächsischer Lokalpolitiker Karriere machte. Von 1933 bis 1945 hatte er gar das Amt des Ministerpräsidenten des Freistaates Oldenburg inne und war seit 1936 auch NSDAP-Abgeordneter im Reichstag. Joel gehörte sogar – wenn auch nur sehr kurz – im Mai 1945 noch der „Regierung Dönitz“ an, bevor er von den Alliierten eingesperrt und als „Minderbelasteter“ zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Nach dem Krieg machte er in der rechtsnationalen DRP (Deutsche Reichspartei) Karriere und zog für sie auch in den Landtag ein – von 1957 bis 1959 sogar als Mitglied einer Fraktionsgemeinschaft mit der FDP. 1964 trat Joel in die neu gegründete NPD ein und kämpfte fortan als Redakteur rechtsradikaler Zeitungen gegen die Anbringung von Gedenktafeln an ehemaligen KZs. Den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes leugnete Joel bis zu seinem Tod im Jahre 1981.
Die FDP, Ernst Achenbach und der Naumann-Kreis
Ernst Achenbach war bis zu dessen Auflösung 1933 Mitglied des deutschnationalen Wehrverbands „Stahlhelm“, dann ab 1937 NSDAP-Mitglied. Von Juni 1940 bis Ende April 1943 war er zunächst als Legationssekretär und später als Gesandtschaftsrat als Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Paris tätig. Zu seinen Aufgabenfeldern gehörten auch „Judenangelegenheiten“, wie es damals hieß – dazu zählten auch Deportationen ins KZ Auschwitz. Nach dem Krieg machte Achenbach in der FDP Karriere. Von 1957 bis 1976 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, zeitweise sogar als stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion. In seiner Tätigkeit im Auswärtigen Ausschuss blockierte er mehrfach ein deutsch-französisches Abkommen, das die gerichtliche Verfolgung von NS-Verbrechern durch die französischen Behörden ermöglichen sollte. Es ist somit auch Ernst Achenbach zu „verdanken“, dass nur so wenige Nazis in Frankreich vor Gericht angeklagt werden konnten.
Achenbach gehörte auch in der jungen Bundesrepublik dem Naumann-Kreis an – einer Vereinigung ehemaliger SS-Offiziere und überzeugter Nationalsozialisten, die die FDP unterwandern wollten. Der Kreis wurde von Werner Naumann gegründet, einem SS-Mann, der als Staatssekretär in Goebbels´ Propagandaministerium und als dessen persönlicher Referent Karriere machte. Mitglieder waren u.a. Paul Zimmermann, der im Krieg als SS- und Polizeiführer in der besetzten Ukraine und Italien von sich reden machte, Karl Kaufmann, NS-Gauleiter und Reichsstatthalter von Hamburg, Gustav Adolf Scheel, SD-Chef im Elsass und später Gauleiter und Reichsstatthalter von Salzburg und Franz Six, SS-Brigadeführer und Propagandist des Holocaust – also sicher keine „kleinen Mitläufer“.
Ein Mitläufer war auch Lothar Weirauch nicht. Der Jurist, der 1932 der NSDAP beigetreten ist, war schon ab 1939 mit der Deportation von Geisteskranken beschäftigt und organisierte später als Abteilungsleiter im Generalgouvernement in Krakau Vertreibungen und Deportationen. Weirauch nahm als Vertreter des Generalgouvernements übrigens sogar an der zweiten Folgekonferenz der Wannseekonferenz im Eichmannreferat teil. Auch Weirauch war als überzeugter Nazi im Naumann-Kreis aktiv und war von 1950 bis 1954 Bundesgeschäftsführer der FDP und abstruserweise parallel dazu als Stasi-Agent tätig. Als 1962 die Staatsanwaltschaft Dortmund wegen der Deportationen gegen Weirauch ermittelte, beendete nicht etwa die FDP, sondern die Stasi die Mitarbeit. Das Verfahren wurde – welche Überraschung – eingestellt und Weirauch ging als Ministerialbeamter im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unangetastet in Pension.
Das Naziproblem der jungen CDU
Auch in der CDU gab es in der Nachkriegszeit zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder, die im NS-System mehr waren als bloße Mitläufer und Karrieristen. Stellvertretend für viele Unionspolitiker sei hier der Niedersachse Walter Bockenkamp genannt. Der trat bereits 1930 der NSDAP beitrat, für die er später als Politischer Leiter tätig war. Später verdingte er sich in SS und Wehrmacht, wo er zum Ende des Krieges als Generalstabsoffizier tätig war. Politisch trat er nach dem Krieg, wie so viele Ex-Nazis, in die Deutsche Partei (DP) ein, die – auch das ist heute weitestgehend vergessen – bis 1960 sogar an der Bundesregierung beteiligt war und sich später Stück für Stück auflöste, da ihre ranghohen Mitglieder zur CDU überliefen. Bockenkamp trat 1961 für eine weitere Abzweigung, die Gesamtdeutsche Partei, ein Zusammenschluss von DP und verschiedenen Vertriebenenparteien, bei den Bundestagswahlen an und wechselte dann zur CDU. Zu den „braunen Wurzeln“ der CDU, FDP und DP hat die niedersächsische Landtagsfraktion der Linken übrigens eine sehr interessante Schrift herausgegeben, die man Sigmar Gabriel nur ans Herz legen kann.
Dann würde er auch etwas über Hermann Conring erfahren. Der startete seine politische Karriere bereits in den 1920ern und wurde 1927 zum Landrat im niedersächsischen Landkreis Northeim ernannt und in dieser Position von niemand anderem als dem (rechts)sozialdemokratischen Haudegen Gustav Noske über den grünen Klee nach Leer, Ostfriesland, weggelobt, wo er bis Kriegsende als Landrat tätig war – seit 1937 als NSDAP-Politiker. In seiner Funktion ließ er Oppositionelle verhaften und Kommunisten in KZs verschicken. Während des Kriegs wurde Conring dann als Oberverwaltungsrat im Range eines Oberstleutnants in den besetzen Gebieten eingesetzt – so z.B. in der niederländischen Provinz Groningen, für die er sich damals wünschte, dass „die Juden möglichst bald […] bevorzugt verschwänden“. Von 1953 bis 1969 gehörte Conring für die CDU als Direktkandidat des Kreises Leer dem Bundestag an. 1962 störte dann der junge Staat Israel das ostfriesische Idyll, als man auf diplomatischem Wege über die Staatsanwaltschaft Aurich eine Aufhebung der Immunität Conrings forderte. Der Bundestag wollte erst einmal weitere Vorermittlungen abwarten, die jedoch nie eingeleitet wurden. Doch nun drehte sich der Wind. Als man Conring zu seinem 70. Geburtstag 1964 auch noch das Große Bundesverdienstkreuz verleihen wollte, kam es in den Niederlanden zu Protesten, die sogar zu einer förmlichen Beschwerde der niederländischen Regierung beim Auswärtigen Amt führten. Conring gab den Orden ab und damit war die Sache für Bundespräsident Lübke geklärt. 1989 starb Conring im Alter von 105 Jahren als hoch angesehener Bürger.
Gleich für zwei Parteien saß Theodor Oberländer im Bundestag – ab 1953 für die Vertriebenenpartei BHE und von 1957 bis 1961 für die CDU. Das ist vor allem deshalb überraschend, da Oberländer während der gesamten NS-Zeit einer der führenden „Wissenschaftler“ auf dem Gebiet der „Ostforschung“ war – eine nationalsozialistische Pseudowissenschaft, deren Ziel die Herleitung „wissenschaftlicher“ Beweise für den deutschen Führungsanspruch im osteuropäischen Raum war.
Und in diesem Bereich machte der 1933 habilitierte Oberländer durchaus Karriere. 1934 wurde er zum „Dozenten für Ostfragen“ beim Außenpolitischen Amt der NSDAP. In den Folgejahren machte Oberländer in Armee, Geheimdienst und Partei Karriere und mauserte sich bald zu einer Art „Vordenker“. So setzte er sich für eine „kompromisslose ethnische Säuberung Westpolens“ ein, hetzte in steter Regelmäßigkeit gegen die Gefahren durch die „Slawen“ und die „Juden“ und endete 1944 im Stab des Nazi-Ideologen Rosenberg, in der „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der bolschewistischen Weltgefahr“.
Nach dem Krieg war Oberländer nicht nur einfacher Bundestagsabgeordneter. Er wurde sogar von Konrad Adenauer 1953 zum Bundesminister für Vertriebenenfragen berufen – zynisch könnte man sagen, dies war natürlich der passende Job für den Experten in Sachen „Ostforschung“. Oberländer blieb seiner Sache auch treu und trat noch als Bundesminister für ein Deutsches Reich in den Grenzen von 1937 ein. In der CDU war Oberländer jahrelang auch als Vorsitzender des „Landesverbandes Oder-Neiße“ tätig, in dem sich rechtsgesinnte Politiker aus dem Vertriebenenlager organisierten. Dieser „Landesverband“ wurde übrigens 1950 in Sigmar Gabriels Heimatstadt Goslar gegründet – aber sowas muss ein ehemaliger SPD-Chef freilich nicht wissen.
Unangenehm wurde es für den „Nazi-Vordenker“ erst 1960, als das Politbüro des ZK der SED sich ausgerechnet Oberländer für einen Schauprozess heraussuchte, in dem man die „Wesensgleichheit des Bonner Systems mit dem Hitlerfaschismus“ beweisen wollte. Oberländer wurde in Abwesenheit zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt und die SPD beantragte erst einmal einen Untersuchungsausschuss. Was wohl Gabriels alte Genossen zu seinen Nazi-Thesen sagen würden?
Und die Bayern? Gab es etwa nur in der CDU Nazis und ausgerechnet in der CSU nicht? Natürlich nicht. Ein herausragendes Beispiel dafür ist wohl Theodor Maunz, der 1933 NDSAP und SA beitrat und als Jura-Professor zu den NS-Juristen zählte, deren Aufgabe es war, dem NS-Staat eine juristische Legitimität zu verschaffen. Schon 1948 durfte der Jurist, der noch vier Jahre zuvor den Führerstaat in seinen Schriften als das Ideal verherrlichte, beim Verfassungskonvent der westdeutschen Ministerpräsidenten auf Herrenchiemsee teilnehmen und gilt daher als einer der Väter des Grundgesetzes. Nach seiner akademischen Karriere durfte er noch von 1957 bis 1964 als bayerischer Kultusminister in Erscheinung treten. Seit Rücktritt war indes unfreiwillig und Folge des Bekanntwerdens seiner alten Texte, die vor allem von der FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher „ausgegraben“ wurden. Dass Maunz auch noch im hohen Alter Sympathien für rechtsextremes Gedankengut hat, belegt ein posthumes Dankschreiben des ehemaligen DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey, den Maunz offenbar beraten hatte und für dessen „National-Zeitung“ er jahrelang anonym geschrieben hat.
Sehr gut verstanden haben sich Maunz und Alfred Seidl, der die DVU ebenfalls beraten hat. Seidl war zwar als überzeugter Nazi-Jurist im NS-System eine wesentlich kleinere Nummer, nutzte aber nach dem Krieg die Gunst der Stunde, um sich als Verteidiger von NS-Größen wie Rudolf Heß, Hans Frank und vielen anderen bei den Nürnberger Prozessen in Szene zu setzen. Das ehemalige NSDAP-Mitglied war von 1958 bis 1986 fast dreißig Jahre lang Mitglied des Bayerischen Landtags und zeitweise sogar bayerischer Innenminister. Kurz nach seiner Amtszeit trat er als Mitgründer der „Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt“ in Erscheinung, die als geschichtsrevisionistische Denkfabrik und nach dem Kriminalisten Bernd Wagner als „geistiges Zentrum rechtsextremer Kreise für historische Forschung“ gilt. Später wurde das vom ehemaligen bayerischen Innenminister Seidl mitgegründete Institut vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet.
Und sogar Gabriels SPD hatte ihre Nazi-Probleme
Sogar in der SPD gab es durchaus ehemalige Nazis. Einen davon müsste Sigmar Gabriel eigentlich sogar kennen. Hermann Ahrens wurde nämlich in Gabriels Heimatstadt Goslar geboren und vertrat Gabriels Wahlkreis gleich mehrfach in verschiedenen Parlamenten – von 1933 bis 1936 als Kreisleiter für die NSDAP, deren Mitglied er seit 1931 war, von 1951 bis 1963 für die GDP im Landtag und schließlich von 1965 bis 1969 über die Liste der SPD im Bundestag. Der ehemalige SA-Sturmführer war während der gesamten NS-Zeit NSDAP-Bürgermeister der „Herman-Göring-Werke-Stadt“ Salzgitter und wurde 1947 im Entnazifizierungsverfahren zur damals ungemein hohen Strafe von 8.000 Reichsmark verurteilt. Der Weg war frei für die Karriere als niedersächsischer Wirtschafts- und später Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident des Landes.
Auch Günter Hellwing dürfte Sigmar Gabriel bekannt sein. Hellwing war während des Kriegs als Hauptsturmführer der SS beim Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (kurz SD) tätig und beteiligte sich in dieser Funktion unter anderem an der Zerstörung der Altstadt von Marseille, der Vertreibung und Verhaftung ihrer Bewohner sowie der Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Kurz vor Kriegsende erschoss Hellwing noch fünf sowjetische Kriegsgefangene und wurde dafür von der britischen Militärregierung zu zwei Jahren Haft verurteilt. Dennoch wurde er kurze Zeit später in Bottrop wieder in den Kriminalpolizeidienst aufgenommen. Hellwing trat der SPD bei und wurde 1954 von einem Militärgericht in Marseille in Abwesenheit wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt. Dennoch durfte er die SPD drei Jahre später im Landtag von Nordrhein-Westfalen vertreten und rückte später sogar in den Landes- und dann in den Bundesvorstand der SPD auf.
Sogar die Grünen und die DDR waren nicht 100% nazifrei
Wer nun denkt, nur die „etablierten“ Altparteien hätten ein Naziproblem, täuscht sich jedoch. Skurril mag es auf den ersten Blick erscheinen, dass auch die Grünen ihre Probleme mit ehemaligen Nazis haben. Das hat jedoch weniger etwas mit „ideologischen Fragen“ zu tun, wie nicht zuletzt die in den Gründungszeiten der Grünen sehr vehementen Flügelkämpfe zwischen dem linken und dem rechten Flügel, der für eine völkische Ausrichtung im Sinne einer Bioregionalismus-Bewegung stand, zeigen. Die Vordenker dieses Flügels, Baldur Springmann – Stahlhelm, SA, SS, NSDAP – und Herbert Gruhl , der wohl nur aufgrund der Gnade der späten Geburt keine biographischen Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus hat, müssen sich in dieser Aufzählung wahrlich nicht verstecken. Es ist wohl engagierten linken Politikern wie Jutta Ditfurth zu verdanken, dass die Grünen überhaupt zu einer linken Partei werden konnten, bevor es sie ins bürgerliche Lager zog.
Ehemalige Nazis sind auch kein isoliertes westdeutsches Problem. Im Osten ging es jedoch eher um Biographien wie die von Egbert von Frankenberg und Proschlitz, der in NSDAP, SS, der Legion Condor und später der Wehrmacht Karriere machte, aber weder besonders ideologisch geformte Mitglieder noch gar Stützen des NS-Systems waren. Kriegsverbrecher oder Beteiligte am Holocaust findet man in der DDR-Nachkriegspolitik nicht in den oberen Reihen. Und wenn doch, dann wie im Fall Ernst Großmann aufgrund falscher Angaben, die dann aber auch das Karriereende bedeuteten.
Sigmar Gabriels Vergleich ist geschichtsvergessen und dumm
Die Liste ist lang und die Probleme sehr ernst. Es ist vollkommen unverständlich, warum gerade ein ehemaliger SPD-Vorsitzender, dessen Partei ja nicht zu den Tätern, sondern zu den Opfern des Nationalsozialismus zählt, die Täter durch derlei dumme Verniedlichungen reinwäscht. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis endlich öffentlich Kritik an dem viel zu laschen Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit waschechten Nazis geübt werden konnte. Diesem langen Kampf versetzt Sigmar Gabriel mit derlei geschichtsvergessenen Wahlkampfsprüchen einen Bärendienst. Doch mehr als das.
Nutzen dürften derlei schräge Vergleiche vor allem der AfD selbst. Natürlich sind Björn Höcke und der rechtsextreme Flügel der AfD keine sympathischen Erscheinungen und man sollte sich wünschen, dass sie nie in den Bundestag einziehen. Aber man kann doch einen verklemmten bösen Sprücheklopfer wie Höcke nicht ernsthaft mit handfesten Kriegsverbrechern vom Schlage eines Reinefahrt oder Hellwing vergleichen. Und der „Vordenker“ Gauland ist doch auch nur ein boshafter alter Rentner aus der Provinz, der nicht mit einem Theodor Oberländer oder Theodor Maunz zu vergleichen ist. Man sollte die Kirche doch auch mal im Dorfe lassen. Man bekämpft Faschismus und Hass doch nicht dadurch, dass man eine rechtspopulistische Partei voller reaktionärer Spießer mit „echten“ Nazis in einen Topf wirft. Das hilft nur der AfD, die sich ja ohnehin gerne als Opfer geriert. Mit derlei dummen Vergleichen hilft Gabriel der AfD am Ende nur. Und das kann er doch eigentlich auch nicht wollen.