Couragiert gegen den Strom: Eine Buchempfehlung
Wer sich einmal unvoreingenommen und objektiv jenseits medialer Verzerrungen über Sahra Wagenknecht und ihre politischen Vorstellungen informieren möchte, der sollte auf ein Buch zurückgreifen, das gestern im Frankfurter Westend Verlag unter dem Titel „Couragiert gegen den Strom“ erschienen ist. In diesem Buch kommt Sahra Wagenknecht in Form eines langen Interviews ausführlich zu Wort. Die Fragen stellte Florian Rötzer, Chefredakteur des Online-Magazins „Telepolis“. Außerdem enthält das Buch vier Reden von Sahra Wagenknecht. Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.
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„Mit solchem Opportunismus wollte ich nichts gemein haben“
Bei der Lektüre des langen Interviews mit Sahra Wagenknecht musste ich irgendwann unwillkürlich denken, dass viele ihrer Positionen in der Gesellschaft bis weit in konservative Milieus hinein mehrheitsfähig sein und Zustimmung finden dürften, beispielsweise bei Unternehmern, Selbständigen und Freiberuflern. Denn die so oft von den Medien als Beton-Kommunistin denunzierte Linksparteipolitikerin hat ein ausgesprochen positives Bild von Unternehmern, die sie aber deutlich von Kapitalisten abgrenzt:
„Ein Kapitalist ist für mich jemand, da knüpfe ich an die Definition des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter an, der ein Unternehmen als bloßes Anlageobjekt betrachtet. Ein Unternehmer ist hingegen jemand, von dessen Power ein Unternehmen lebt. Der Kapitalismus ist also eine Wirtschaftsordnung, in der die Unternehmen Mittel zum Zweck der Renditeerzielung ihrer Eigentümer sind“ (S. 86).
Und dies bedeute, dass ein Kapitalist nur Innovationen verfolge, wenn diese eine entsprechende Mindestrendite erwarten lassen. So gebe es zum Beispiel Aussagen von Ingenieuren, dass bei Siemens selbst erfolgversprechende Innovationen nicht weiter verfolgt werden, wenn die zu erwartende Mindestrendite unter 16 Prozent liege.
Aus Sicht von Sahra Wagenknecht gibt es deshalb einen Unterschied zwischen den Gewinnen eines Unternehmers und der Rendite eines Aktionärs:
„Jedes Unternehmen muss Gewinne machen, um zu investieren. Und wenn der Inhaber selbst im Unternehmen arbeitet, ja es selbst gegründet hat, dann lebt das Unternehmen von seinen Ideen und seiner Risikobereitschaft, was natürlich auch ein höheres Einkommen rechtfertigt“ (S. 87).
Etwas anderes sei es, wenn in einer Aktiengesellschaft langfristige Investitionen unterblieben, um die kurzfristige Rendite zu steigern, die dann an die Aktionäre ausgeschüttet werde.
„Bei den großen Unternehmen wird ja seit Jahren ein immer größerer Teil des Gewinns ausgeschüttet und eben nicht reinvestiert. Dieser Druck von Anteilseignern, die mit dem Unternehmen eigentlich gar nichts mehr verbindet – oft sind es Finanzinvestoren, Hedgefonds – ihr Druck, aus dem investierten Geld immer mehr Geld zu machen, dafür Löhne zu drücken, Steuern zu umgehen, auf langfristige Investitionen zu verzichten, eventuell Raubbau an der Natur zu betreiben, das ist das eigentliche Kennzeichen des Kapitalismus“ (S. 87).
Auch beim dem Thema „Wettbewerb“ dürfte Sahra Wagenknecht bis in konservative Milieus hinein mehrheitsfähig sein, denn sie sieht Konkurrenz durchaus nicht negativ.
„Ich war zum Beispiel lange Zeit der Meinung, dass Konkurrenz als konstitutives Prinzip der Wirtschaftsordnung überwunden werden sollte, weil der Mensch dadurch in seinen Mitmenschen Gegner sieht, was einem solidarischen Miteinander entgegensteht. Inzwischen habe ich begriffen, dass jede vernünftige Wirtschaft Wettbewerb braucht“ (S.80).
Sie begründet das im Verlauf des Interviews damit, dass es ohne Wettbewerb zu wenig Druck für Unternehmen gebe, innovativ und produktiv zu sein und sich an den Bedürfnissen der Kunden zu orientieren. Sie sagt aber auch ganz klar zum Thema „Wettbewerb“:
„Aber er muss fair sein, das heißt so, dass wirklich die überlegene Leistung den Ausschlag gibt und man sich Vorteile nicht durch Marktdominanz oder Ähnliches erschleichen kann. Und es gibt Bereiche, wo Wettbewerb, Markt und Kommerz keinen Platz haben, nämlich überall da, wo es um menschliche Grundbedürfnisse geht. (…) Ich bin (…) zudem bis heute überzeugt und vertrete auch ökonomisch die Position, dass wir eine andere Wirtschaftsordnung brauchen, die verhindert, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft die wirtschaftlichen Ressourcen als Privateigentum besitzt, weil das unweigerlich zu Missbrauch, Abhängigkeit und Ausbeutung führt“ (S.80).
So wie ich Sahra Wagenknecht verstanden habe, sind mit dem „kleinen Teil der Gesellschaft“ generationenübergreifende Familiendynastien gemeint, die ähnlich wie der alte Feudaladel durch ihre riesigen Vermögen über eine Machtfülle verfügen, die mit einer Demokratie nicht vereinbar ist. Deshalb sieht sie im Erbrecht ein wichtiges politisches Instrument zur Schaffung von Gerechtigkeit:
„Der Ordoliberale Alexander Rüstow hat die Ansicht vertreten, dass die Erbschaftssteuer dafür sorgen muss, dass keine Großvermögen, die über das hinausgehen, was sich ein normaler Mensch im Leben erarbeiten kann, vererbt werden können. Hier geht es um Vermögen, die so groß sind, dass man allein aus den Erträgen mehr beziehen kann, als selbst hochqualifizierte Beschäftigte in einem langen Arbeitsleben verdienen“ (S. 88).
Als ein Negativbeispiel nennt sie das Geschwisterpaar Quandt und Klatten, die im Frühjahr 2017 aus BMW-Aktien eine Milliarde Euro an Dividende ausgeschüttet bekamen, was einem Einkommen von 3 Mio. Euro pro Tag gleichkommt.
Hier wird dann auch klar, warum Sahra Wagenknecht bei bestimmten Teilen des Bürgertums verhasst ist: Weil sie die bei Konservativen so beliebten Formeln von Wettbewerb und Leistung tatsächlich ernst meint – im Gegensatz zu einem hoch privilegierten Bürgertum, das sich eben nicht dem Wettbewerb stellen will und deshalb auf einem völlig ungerechten und Leistung verhöhnenden Erbrecht beharrt. Denn dies ermöglicht es, Besitzstände, Privilegien und sozialen Status leistungslos zu erwerben.
Das lässt sich auch in einer Rede Wagenknechts zum Thema Erbrecht am Ende des Buches sehr schön nachvollziehen. Das Bundestagsprotokoll verzeichnet auch die Zwischenrufe anderer Abgeordneter. Als Sahra Wagenknecht bei der Beratung der Erbschaftssteuerreform von 2016 im Bundestag kritisiert, dass auch mit dem neuen Gesetz der Großen Koalition die Erbschaftssteuer zu einer Bagatellsteuer verkomme und riesige Großvermögen von einer Generation zur nächsten weitergereicht werden, merkt der Abgeordnete Dr. h. c. Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion an:
„Das ist auch gut so!“ (S. 218).
Eine Frau, die sich selber treu bleibt
In diesem Buch erfährt man nicht nur viel über das politische Denken von Sahra Wagenknecht, sondern auch über ihre Biografie und ihren Charakter. Und dass Sahra Wagenknecht etwas auszeichnet, dass in der Politik keine Selbstverständlichkeit ist: Sie bleibt sich selber treu, auch wenn dies ihrem eigenen Fortkommen schadet. Und dies war auch schon zu DDR-Zeiten so:
„Ich hatte ja schon vor Abschluss der zehnten Klasse von Goethe über Hegel zu Marx gefunden. Von da an habe ich mich aus voller Überzeugung als Sozialistin verstanden. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich die DDR gut fand, sondern dass ich die Verhältnisse in der DDR mit den Idealen der Väter und Mütter der sozialistischen Bewegung konfrontierte und in diesem Abgleich zu einem eher negativen Urteil über den damaligen Realsozialismus kam. Das habe ich auch ausgesprochen. Ich wurde daher als politisch nicht zuverlässig angesehen. Und deswegen war das schon schwierig mit dem Abitur“ (S. 51- 52).
Aus diesem Grund durfte Sahra Wagenknecht in der DDR auch nicht studieren. Sie sollte sich zunächst in einem Arbeitskollektiv als Sekretärin bewähren. Nach drei Monaten kündigte sie diese Arbeit, weil sie ihr als Zeitverschwendung erschien. Sie wollte ihrer Leidenschaft, der Philosophie, nachgehen, und wenn sie das Fach schon nicht studieren durfte, wollte sie doch wenigstens die philosophischen Klassiker lesen und gründlich durcharbeiten. Deshalb kündigte sie ihre Arbeitsstelle als Sekretärin und lebte fortan von Nachhilfe in Mathematik und Russisch. Als dann die Wende kam, begann sie ein Studium der Philosophie.
Sahra Wagenknecht scheint mir ein Mensch zu sein, so deute ich ihre Biografie, der unfähig zu opportunistischem Verhalten ist, oder anders ausgedrückt: sich um der Karriere wegen zu verbiegen und grundlegende Überzeugungen über den Haufen zu werfen. Lieber nimmt sie Nachteile in Kauf. So erklärt sich auch, warum sie Anfang der neunziger Jahre mit einem gewissen Trotz die DDR verteidigt hatte, obwohl sie selbst unter dem Regime gelitten hatte:
„Ich hatte erlebt, dass viele, die die DDR während ihrer Existenz rosarot gemalt und noch die abstrusesten Fehlentwicklungen verteidigt hatten, plötzlich vom Saulus zum Paulus wurden. Jetzt war die Bundesrepublik rosarot und die DDR-Vergangenheit nur noch rabenschwarz. Mit solchem Opportunismus wollte ich nichts gemein haben. Ich begann daher tatsächlich, die DDR zu verteidigen. (…) Die Äußerungen aus dieser Zeit – also wir reden über die erste Hälfte der Neunziger – hängen mir meine politischen Widersacher bis heute an. Aber ehrlich gesagt: Auch wenn das im Nachhinein betrachtet natürlich großer Blödsinn und auch reiflich unreif war, ich hatte damals das Gefühl, ich müsste das tun, um nicht Teil des opportunistischem Zeitgeistes zu werden, und dafür schäme ich mich nicht. Ich habe immer vertreten, was ich für richtig hielt“ (S. 71 -72).
Wer das lange Interview mit Sahra Wagenknecht liest, wird feststellen, dass sie sehr differenziert denkt und sehr viel Respekt hat vor der Meinung anderer, und dies nicht zufällig, sondern aus grundlegenden philosophischen Überlegungen heraus, die sie von der Hegelschen Philosophie abgeleitet hat. Weshalb sie sich sehr bewusst ist, wie wichtig es ist,
„Einseitigkeit zu vermeiden, und immer für möglich zu halten, dass auch die eigene Wahrheit nur eine Teilwahrheit ist. Dann bleibt man offen und kann sich auch weiterentwickeln, wenn es überzeugende Argumente gibt“ (S.63).
Genau das belegt auch ihre Biografie. Sahra Wagenknecht hat ihre Positionen im Laufe ihres Lebens verändert, aber nicht aus opportunistischen Gründen, sondern weil sie überzeugende neue Argumente verarbeitet hat. Deshalb ist es meiner Meinung nach auch Unsinn, dass ausgerechnet sie gerne zu einem dogmatischen Hindernis für eine rot-rot-grüne Koalition aufgebauscht wird. Aus meiner Sicht ist sie das Gegenteil einer Dogmatikerin und wäre die letzte, die sich einer linken Koalition aus reiner Prinzipienreiterei verweigern würde. Nur müsste diese dann auch eine echte Alternative sein, und nicht nur derselbe alte Wein in neuen Schläuchen. Um es in ihren Worten zu sagen:
„Abstriche in den Details eines politischen Programms sind innerhalb einer Koalition unvermeidlich und so lange akzeptabel, solange eine Veränderung der Grundrichtung der Politik spürbar ist. Solange man mit der SPD allerdings noch nicht mal mehr klassisch sozialdemokratische Forderungen wie die Einführung einer Vermögenssteuer, gute Regeln am Arbeitsmarkt oder die Wiederherstellung des Sozialstaates durchsetzen kann, ist das Ganze eine müßige Diskussion“ (S. 137).
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nun noch ein paar Informationen zum Aufbau des Buches. Das Buch ist gegliedert in vier Abschnitte, die jeweils wieder thematisch aufgefächert sind:
- Anders Politik machen
- Biographie: Eine Philosophin in der Politik
- Politik: Was ich erreichen möchte
- Ausgewählte Reden
Wer dieses Buch liest, erhält fundierte, interessante und gut verständlich formulierte Informationen und Sichtweisen zu allen aktuellen politischen Fragen. Außerdem erfährt der Leser auch viel über die Biografie und den Charakter Sahra Wagenknechts. Selbst wer kein Anhänger von ihr oder der Linkspartei ist, kann dieses Buch mit Gewinn lesen. Weil er bei Sahra Wagenknecht etwas bekommt, das gerade jetzt in der deutschen Politik nur selten zu finden ist: inhaltliche Substanz.
Was ich an Sahra Wagenknecht so schätze – und was in diesem Buch sehr gut rüberkommt – ist, dass alle ihre Positionen sorgfältig erarbeitet wurden und auf gedanklich fundierten Argumenten beruhen. Ich vermute, genau das ist auch einer der Gründe, warum Wagenknecht bei ihren politischen Gegnern verhasster ist als jeder andere Politiker von der Linkspartei: Sie hat eine politisch-inhaltliche Substanz zu bieten, mit der nur wenige Politiker mithalten können. Was für ein wohltuender Kontrast zu Angela Merkel, die für ihre Wiederwahl mit dem komplett inhaltslosen Satz „Sie kennen mich“ wirbt.
Sahra Wagenknecht: Couragiert gegen den Strom, Über Goethe, die Macht und die Zukunft, Nachgefragt und aufgezeichnet von Florian Rötzer, Westend Verlag, Frankfurt /Main 2017, 222 Seiten, 18 Euro.