Violeta Parra – die 100-Jahr-Feier der musikalischen Seele Chiles
Violeta del Carmen Parra Sandoval, kurz Violeta Parra genannt, hätte nach dem anhaltenden Trend von wachsender Lebenserwartung am 4. Oktober 2017 einhundert Jahre alt werden können – hätte sie an jenem 5. Februar 1967 nicht einer fatalen Kurzschlusshandlung nachgegeben. Als künstlerisch Vielbegabte betätigte sie sich in der Musik als Komponistin, Dichterin und Interpretin sowie gleichzeitig als Malerin, Kunstteppich-Knüpferin und Töpferin und ging in die Geschichte als bedeutendste Folklore-Forscherin und Begründerin der chilenischen Volksmusik ein. Von ihren herzzerreißenden Liedern wie Gracias a la Vida (Ich danke dem Leben) und Volver a los Diecisiete (Wieder siebzehn sein) von internationalen Ikonen der Volksmusik, der Pop- und der klassischen Szene – darunter so unähnliche Größen wie Mercedes Sosa, Joan Báez, Deep Purple und Shakira, sowie Placido Domingo und Konstantin Wecker – interpretiert. Von Frederico Füllgraf.
Mit entsprechender Universalität gestalten sich konsequenterweise die seit Mai anhaltenden und bis Ende dieses Jahres geplanten, weltumspannenden Ehrungen und Konzertwidmungen. Sie begannen mit dem Auftritt chilenischer Musiker im Pariser Grand Palais und dem Festival Barnasants und wurden fortgesetzt im italienischen Bozen. Den bisherigen Höhepunkt bildete jedoch das Konzert „Violeta Sinfónico” im argentinischen Nobeltheater Colón.
Natürlich war dem chilenischen Rat für Kunst und Kultur und dem Außenministerium bewusst, dass – werbewirksam betrachtet – ein Auftakt in der kulturell entwicklungsbedürftigen Hauptstadt Santiago ein Schuss in den Ofen gewesen wäre, weshalb die beachtlichen Kosten für die beeindruckende Produktion des Megakonzerts in Buenos Aires als Prestige-Preis gern hingeblättert wurden.
Im Juli fanden auch Konzerte zu Ehren Parras auf dem „Festival La Mar de Músicas” im spanischen Cartagena und selbst im kühlen Finnland („Violeta Multimedial”) statt. Musikalische Erinnerungen und Ausstellungen in Peru, Kolumbien, Trinidad & Tobago, Uruguay, Brasilien, Kuba und Mexiko reißen nicht ab. Als Kultur-Hauptstadt der Europäischen Union bietet Lissabon am kommenden 12. September einen Auftritt der Parra-Tochter und -Enkelin, Isabel und Tita Parra, im Centro Cultural Belém, dem sich am 16. September ein Konzert in Barcelona anschließt, auf dem Isabel Parra der BarnaSants-Preis für ihre künstlerische Laufbahn überreicht werden soll.
Eine Begegnung zwischen Mikis Theodorakis und Violeta Parra wäre wohl eine musikalische Weltsensation gewesen. Dazu kam es nie und so präsentiert Griechenland vom 22. bis 24. September im Olvios-Theater von Athen „Violeta im Spiegel betrachtet”.
Die angekündigte Ehrung von deutscher Seite fällt vergleichsweise bescheiden aus. Sie beschränkt sich bisher auf die Präsentation der zweisprachigen Neuauflage des Buches „Lieder aus Chile/Canciones de Chile” des Göttinger Philologen Manfred Engelbert auf der Frankfurter Buchmesse.
Das „hässliche Entlein”, das dem Elend entsprang, um die Welt zu umarmen
Nicht wenige Kritiker haben sich gefragt, was macht Violeta Parra so außergewöhnlich, dass ihr Ruhm auch 50 Jahre nach ihrem Tod nicht verblasst? An der Antwort scheiden sich die Geister.
Meine Vermutung ist, dass es bleibende Gefühle und Werte sind, die sich ein halbes Jahrhundert nach ihrem Ausscheiden aus dem Leben in der Rezeption ihrer Hörer dem entmenschlichenden Zeitgeist der Gegenwart widersetzen. Das war Parras lebenslanges, persönliches Unglücksempfinden, gepaart mit dem optimistischen Gegenpol der wahren Liebesfindung, die ihre Lieder zugleich mit tiefschwarzer Trauer und berauschender Epiphanie überziehen.
Violeta wurde ironischerweise während der sowjetischen Oktoberrevolution am 4. Oktober 1917 im verstaubten und 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago gelegenen Provinznest San Carlos im zentralchilenischen Maule geboren.
Gerade drei Jahre alt wurde das Mädchen von Pocken und Masern gequält, die ihr unvorteilhaftes Gesicht obendrein mit lebenslangen Narben zeichneten und ihr den Spitznamen „Maleza” (Unkraut) einbrachten. Bis zum Lebensende war sie deshalb geradezu davon besessen, eine hässliche Frau zu sein, die ihr äußerliches Erscheinungsbild mit resigniertem Schmuddel potenzierte.
Ihre Herkunft war ärmlich. Ihr Vater, Nicanor Parra, war schlechtbezahlter Musiklehrer an einer öffentlichen Schule, ihre Mutter, Clarisa Sandoval, stammte aus einer verarmten Bauernfamilie. Sandoval brachte zwei Kinder aus erster Ehe in ihre Vermählung mit Nicanor, mit dem sie jedoch weitere acht Kinder zeugte.
In den dunklen Abenden in Maule saßen Nicanor und Clarisa nicht selten am Lagerfeuer hinter dem Haus, um das sich Verwandte und Nachbarn mit Harfe, Caja oder Akkordeon gesellten und ihren Kehlen und Instrumenten bis in die tiefe Nacht alte Volkslieder entlockten. Vater Nicanor pflegte seine Gitarre vor stümperhaften Fingern in Sicherheit zu bringen, doch Violeta gelang es immer wieder, das eifersüchtig behütete Instrument aufzustöbern und ihm – gerade siebenjährig und zum väterlichen Erstaunen – ihre ersten Harmonien zu entzaubern. So kam Violeta zur Musik – und umgekehrt.
Es gehörte mehr Anstrengung als Mut dazu, den vielköpfigen und -mundigen Nachwuchs durchzubringen. Vor allem nachdem Vater Nicanor, von doppeltem Schicksalsschlag getroffen, eines Tages vor den verrammelten Türen der vom Staat geschlossenen Schule stand und obendrein eine geerbte Landparzelle naiverweise an einen betrügerischen Immobilienmakler verlor, die Familie ins Unglück stürzte und zum Alkoholiker wurde.
Mutter Clarisa Sandoval blieb nichts anderes übrig, als die Zügel des Familien-Oberhauptes an sich zu reißen, die sie mit Strenge und nachhaltiger Hoffnung auf bessere Zeiten in den Händen hielt. So wuchs Violeta auf, geprägt von Vaters musischem Geist und mütterlicher Härte – ein Gefühlspaar, mit dem sie lebenslänglich der Herzlosigkeit zu entfliehen versuchte, doch daran erbärmlich scheiterte.
Ein Teil Chiles will ihr nicht vergeben, weil sie 1952 für eine Tournee durch die sozialistischen Ostblockländer ihre vier Kinder in Chile zurückließ, von denen die gerade zweijährige Rosita Clara einsam verstarb. Doch anstatt sofort nach Chile zurückzueilen, setzte die Parra ihre Rundreise monatelang fort. Es „hätte ohnehin keinen Zweck gehabt”, redete sie sich, der Familie und Freunden mit seltener Gefühlskälte ein. Und litt bis zum Lebensende wie eine gequälte Hündin an der entsetzlichen Handlung.
Geburtsstunde des Neuen Chilenischen Liedes
Über Violeta Parra zu schreiben, ist ein Wagnis. Vielschattiert ist ihre Persönlichkeit, zu breit die Vielfalt ihrer Kunst. Beides verleitet zu permanenter Ablenkung. Ausgedehnte Lebens- und Werkpassagen – wie zum Beispiel ihre langjährigen, von ihrem Dichter-Bruder Nicanor angeregten Feldforschungsreisen ins tiefe chilenische Hinterland, auf den Spuren der verschiedenen Genres genuiner Volksmusik – können nur angedeutet werden. Ebenso flüchtig soll ihr zweiter, mehrere Jahre andauernder Aufenthalt in Europa, vor allem in Frankreich, erwähnt bleiben, der jedoch neue Akzente in Parras Werk und politischem Auftreten setzte.
Nach ihrer Rückkehr aus Paris, wo ihr als erster Lateinamerikanerin eine Ausstellung ihrer Teppichkunst im Louvre-Museum gelang, trat sie in Santiago als Mentorin und Schutzpatronin des Nueva Canción Chilena (Neues Chilenisches Lied) auf, dem sich renommierte Musiker wie Victor Jara und die weltbekannten Bands Quilapayun und Inti Illimani anschlossen und das Genre unter der demokratischen Regierung Salvador Allendes zur Blüte brachten. Wie bekannt, wurde Jara von den Pinochet-Schergen in den ersten Tagen nach dem Militärputsch bestialisch ermordet, Quilapayun und Inti Illimani flüchteten bald ins Exil.
Aus dieser Zeit stammt Parras Song (Mir gefallen die Studenten), mit heiteren Versen wie “Hoch leben die Studenten / Garten unserer Freude / Vögel die sich nicht fürchten, weder vor Tieren noch vor der Polizei…”.
Weibliche Verlassenheit und Einsamkeit: eine chilenische Parabel
Doch Violeta, Tochter des sozialistischen Musiklehrers Nicanor Parra, starb nicht an der politischen Konfrontation. Vielmehr nagten hinterhältige, gestaltlose Geschöpfe an ihrer seit Kindesalter geschundenen Seele. Wer Violeta Parra gekannt hat, bestätigt, dass der Schauspielerin Francisca Gavilán im Spielfilm „Violeta ging in den Himmel“ (deutscher Film-Trailer) von Andrés Woods, die ihr auf die Stirn geschriebene Nachbildung des problematischen Charakters ihrer Filmfigur geglückt sei.
Die Journalistin Carolina Marcos erinnerte in La Discusión („Los tomentosos amores de Violeta Parra – Die stürmischen Lieben der Violeta Parra“ – 02.07.2016) daran, dass das Liebesleben der elegischen Liedermacherin von wechselhafter Leidenschaft, Gewalttätigkeit und „unflätigen Zeiten“ geprägt war. „Die Tochter der Familie Parra- Sandoval war nicht nur künstlerisch, sondern auch in der Liebe sehr talentiert“, spottete Marcos.
Mónica Echeverría, Autorin der Biographie „Ich, Violeta“, will herausgefunden haben, dass die Parra mindestens 14 Gitarren über Männerschädeln zertrümmert hat, weil sie sich von ihnen ausgetrickst oder betrogen fühlte. Indes ist sich die Mehrheit eines Dutzend zählender Biographen darin einig, dass die als Frau einsam kämpfende Musikerin sich in der chilenischen Männerwelt der 50er und 60er Jahre nur mit ungebrochenem Ehrgeiz und hartem Ellenbogen durchsetzen konnte, was ihr selten gelang.
Betrogen, misshandelt oder verlassen fristeten Frauen im archaischen und ländlich-patriarchalen Chile der Vergangenheit das Dasein der zugleich bitteren Einöde und süßen Landschaften zwischen Pazifik und Andenhängen. Wer sie bereist hat, hat sinnlich erfahren, was Abgeschiedenheit und Einsamkeit bedeuten.
Der nach mehr als 50 Jahren nur kläglich veränderten Männerwelt fallen nach wie vor zigtausende Frauen zum Opfer. Nach Angaben der chilenischen Staatsanwaltschaft erlitten allein 2016 mindestens 140.022 Frauen Gewalttaten – darunter 38 Morde – im familiären Bereich. Von den Tätern werden in der Regel kaum mehr als nur 10 Prozent verurteilt.
„Por suerte tengo guitarra. Para llorar mí dolor – Zum Glück habe ich eine Gitarre. Um zu beweinen meinen Schmerz“, schrieb Violeta Parra in ihrem Song „La Carta“ (Der Brief).
„Sie war stets immer eine selbstmörderische Frau, die dort war, wo sie nicht hingehörte“, urteilte Filmemacher Andrés Wood. „Sie hat nie begriffen, dass es Leute gab, die ihre Sache nicht unterstützten. Sie war äußerst unnachgiebig mit allen, die nicht mit ihr im Einklang standen“.
„Für denjenigen, der die Erde verlässt,
ist der Tod das Ende der Welt.
Mit einem Schmerz wie kein zweiter
war beendet dieser Krieg.
Für eine Minute des Gaumenspaßes
war gegeben dieses Hundeleben
– Und einhundertzwanzigtausend Kummerstunden…“.
heißt es in einer Strophe aus Violeta Parras autobiographischem Gedicht mit dem Titel „Decimas“ (Zehnzeiler).
Seit Mitte der 1960er Jahre bewohnte die Liedermacherin ein Zirkuszelt, genannt La Carpa, im Santiagoer Bezirk La Reina. Über Jahre hinweg diente La Carpa als Bühne der ausgesuchtesten chilenischen Musik, doch Parras Traum war, dort ein anspruchsvolles Kulturzentrum zu errichten. Es blieb beim Traum und bitteren Enttäuschungen.
Am Nachmittag des 5. Februar 1967, drei Jahre bevor der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten gewählt wurde und Chile im Freudentaumel unterging, griff die Liedermacherin nach einem verborgenen Revolver und schoss sich eine Kugel ins Herz.
Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 ließ die Pinochet-Diktatur das Gelände plattwalzen.
Ihr Bruder, langjähriger Gönner und renommierter Dichter, der vom Vater den Namen Nicanor erbte, schrieb in seinem Gedicht „Die Verteidigung der Violeta Parra“:
„Was kostet es dich Frau blühender Baum
Körper und Geist aus der Gruft zu erheben
und die Steine mit deiner Stimme zu sprengen
Violeta Parra.
Das ist, was ich dir sagen wollte
fahre fort, deine Drähte zu flechten
deine araukanischen Ponchos
deine Krüge aus Quinchimali
fahre fort, Tag und Nacht zu polieren
deine toromiros aus heiligem Holz
ohne Leid
ohne unnötige Tränen
oder, wenn du möchtest, mit heißen Tränen
und erinnere dich, du bist
ein Lämmchen im Wolfspelz.“