Stephan Lessenichs „Externalisierungsgesellschaft“ – ein wortgewaltiger Analyseversuch ohne praktische Konsequenz
Vor 56 Jahren, im Sommersemester 1961, diskutierten Studentinnen und Studenten im Seminar des Münchner Ökonomen Hans Möller über so genannte externe Effekte des Wirtschaftens, auf Englisch: External Economies and Diseconomies. Sie debattierten auch darüber, was notwendig sei, um externe Kosten bei den Verursachern anfallen zu lassen. Der Staat müsse dafür sorgen, dass die Produzenten von Gütern und Dienstleistungen auch die externen Kosten in ihre Preiskalkulationen einrechnen müssen. Albrecht Müller.
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Ein gutes Beispiel waren schon damals die externen Kosten des Automobil- und des Luftverkehrs. LKW belasten die Anrainer einer Ausfallstraße mit Lärm und Abgasen; der Luftverkehr belastet das Klima und erzeugt Lärm im Umfeld der Flughäfen. Auch die Energieerzeugung verursacht Schäden, die nicht direkt in die Kalkulation der Energieerzeuger eingehen – so zum Beispiel die Emissionen der Kohlekraftwerke und so insbesondere auch die Entsorgungskosten und die hohen Gesundheitsrisiken der Produktion von Kernenergie. Die Kosten der Atomstromerzeugung werden auf viele weitere Generationen verlagert, also externalisiert.
56 Jahre nach dem Möller-Seminar über Externalisierung erscheint nun im Jahr 2017 das Buch eines Professors der gleichen Universität, der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München, mit dem Titel „Neben uns die Sintflut“ und dem Untertitel: „Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“. Autor ist der Soziologe Stephan Lessenich.
Lessenichs Buch hat eine erstaunliche Aufmerksamkeit gefunden. Seine vielen Vorträge sind gut besucht und das Echo darauf ist bemerkenswert. Bevor ich das Buch las, habe ich mir diese Aufzeichnung von Lessenichs Vortrag beim „Münchner Forum Nachhaltigkeit“ angeschaut. Ich verlinke darauf, damit Sie sich ein Bild vom Autor machen können.
Die wichtigsten Inhalte und Thesen des Buches
Das Buch beginnt mit einem Bericht des Autors über den Bruch der Dämme zweier Rückhaltebecken von Bergwerken im Oberlauf des Rio Doce, eines 853 km langen Flusses in Brasilien. Dreiviertel dieses Flusses werden von schwermetallhaltigem Schlamm verseucht – mit allen bitteren Konsequenzen für die Pflanzen- und Tierwelt und die Menschen entlang des Flusses bis zum Meer. Dieses Beispiel wie auch andere Belastungen von Ländern des Südens durch Produktionen für den Norden, wie zum Beispiel der Raubbau an den Urwäldern des Südens und die Chemisierung beim großflächigen Sojaanbau, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die Kinderarbeit in den Fabriken des Südens im Dienste der Konsumenten des Norden spielen dann für die Argumentation von Autor Lessenich eine große Rolle.
Beim weiteren Bericht über die wichtigsten Thesen des Autors greife ich auf Originaltexte zurück:
„Die Geschichte des „Unglücks“ am Rio Doce zu erzählen heißt, gleich zwei Geschichten erzählen zu müssen: die verschränkten, verkoppelten, sich kreuzenden Geschichten des Unglücks der einen – und des Glücks der anderen.
Ebendiese Doppelgeschichte soll hier in den Blick genommen werden. Es geht um den Einblick in Zusammenhänge, die Einsicht in Abhängigkeiten, in globale Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen. Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr <dunkles Gesicht>, um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zulasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des <Fortschritts>.“
„Die reichen, hoch industrialisierten Gesellschaften dieser Welt lagern die negativen Effekte ihres Handelns auf Länder und Menschen in ärmeren, weniger <entwickelten> Weltregionen aus. Die wohlhabenden Industrienationen nehmen diese negativen Auswirkungen nicht nur systematisch in Kauf. Sie rechnen vielmehr mit ihnen und diese rechnen sich für sie. Denn die gesamte sozioökonomische Entwicklungsstrategie der europäisch-nordamerikanischen Industriegesellschaft beruht – und beruhte von Anfang an – auf dem Prinzip der Entwicklung zulasten anderer. Externalisierung heißt in diesem Sinne: Ausbeutung fremder Ressourcen, Abwälzung von Kosten auf Außenstehende, Aneignung der Gewinne im Innern, Beförderung des eigenen Aufstiegs bei Hinderung (bis zur Verhinderung) des Fortschreitens anderer.“
„Wir leben gut, weil andere schlechter leben. Wir leben gut, weil wir von anderen leben – von dem, was andere leisten und erleiden, tun und erdulden, tragen und ertragen müssen. Das ist die internationale Arbeitsteilung, … “
Diese Grundgedanken werden dann im weiteren Verlauf noch anders beschrieben und variiert. Lessenich bezieht sich zum Beispiel auf eine bei uns gängige Parole, wir lebten über unsere Verhältnisse und wendet diese auf das Verhältnis von Nord zu Süd an und schreibt:
„… Wir leben vor allen Dingen auch über die Verhältnisse anderer. Genau dies beschreibt die soziale Realität der Externalisierungsgesellschaft.“
Es ist interessant, den Gedanken der Externalisierung auf das Verhältnis von Nord zu Süd, von USA/Europa zu den Ländern und Völkern des Südens anzuwenden.
Das ist zunächst ein durchaus legitimer Gedanke und vieles, was bei einer solchen Anwendung mitenthalten ist, ist ja auch richtig. Die Menschen im Süden arbeiten unter schlechteren Bedingungen, zumindest in der Regel, ihr Wohlstand ist, ebenfalls in der Regel, nicht so hoch wie der im Norden. Also grob betrachtet kann man feststellen, der Norden lebe über die Verhältnisse des Südens.
Bei näherer Betrachtung merkt man, dass Lessenich übertreibt und holzschnittartig argumentiert.
Er stülpt den Begriff und das Denkschema „Externalisierung“ einer Welt über, die sowohl im Norden als auch im Süden kompliziert ist. Er stülpt sein Schema einer Situation über, die auf die von ihm gepflegte einfache Weise nicht zu begreifen ist. Die Welt des Nordens und die Welt des Südens ist von Land zu Land betrachtet sehr unterschiedlich.
Nehmen wir zunächst einmal die Welt des Nordens: die USA z.B. begreifen sich als Imperium und beuten auf vielfältige Weise andere Völker, auch ihre Partner im Norden, aus, gängeln diese, behandeln sie stellenweise wie Kolonien. Zwischen den USA und Europa findet schon eine eigene Externalisierung statt. Die USA leben über unsere Verhältnisse. Sie lassen sich die Kosten ihrer militärischen Gewalt über die NATO mitfinanzieren. Gefügig sind wir bereit, die eigenen Militärausgaben zu erhöhen. Wir akzeptieren Sanktionen gegen Unternehmen in unseren Ländern und fügen uns den Anweisungen, mit anderen Völkern nicht in wirtschaftliche Beziehung zu treten bzw. diese einzufrieren.
Von einem einheitlichen Norden kann also aus vielerlei Gründen nicht die Rede sein.
Auch zum Beispiel deshalb nicht, weil die Lebenswelt des Multimilliardärs und des Monopolisten ganz anders ist als die Welt des Arbeiters, der Rentnerin, der Arbeitslosen und der Verbraucher mit geringen Einkommen.
Die Mehrheit der Menschen zahlt ihren Tribut an Monopole und Oligopole. Wir zahlen an Microsoft, an Facebook, an Twitter, an Amazon usw. Monopolpreise, jedenfalls leiden wir unter ihrer krakenhaften Ausbreitung.
Das Wirtschaften im Norden hat Externalisierungseffekte nicht nur im Süden, wie im Falle des Bruchs des Staudamms in Brasilien; auch innerhalb des Nordens treten massive Schäden durch Wirtschaften auf. Die Landwirtschaft ist inzwischen so weit chemisiert, dass die Artenvielfalt bei Vögeln in dramatischer Weise gesunken ist; die Populationen von Insekten sind beängstigend zusammengeschrumpft. Dies alles innerhalb kurzer Zeiträume. Die Schäden – die external diseconomies – im Süden sind oft noch schlimmer. Diese Erkenntnis sollte nicht dazu führen, dass die massiven Schädigungen im Norden unter den Teppich gekehrt werden. Das gilt ganz besonders – wie oben schon erwähnt – für die Belastung von Generationen durch die Nutzung der Kernenergie.
Gravierende Schäden der Externalisierung der Produktion im Norden treten bei Menschen und in den Gesellschaften des Nordens auf.
Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass Superreiche anders leben als die 400.000 Obdachlosen in Deutschland.
Millionen von Menschen sind heute einem Dauerstress in den Betrieben ausgesetzt. In den Betrieben des Nordens, nicht nur in Bangladesch. Wenn der Autor meint, diese Verhältnisse seien immer noch um vieles besser, als die Verhältnisse in den Produktionsstätten des Südens, dann mag er Recht haben. Aber es kommt schon sehr darauf an, welches Maß man anlegt. „Als Betriebsrat in meinem Unternehmen sehe ich tagtäglich, wie die Menschen Angst haben. Nackte Angst. Und deshalb zu allem Ja sagen.“ Das schreibt ein Leser der NachDenkSeiten. Das ist eine Externalisierung, die innerhalb der Gesellschaften des Nordens stattfindet.
Gelegentlich kommt beim Autor das Argument vor, uns gehe es doch einschließlich der hier lebenden Schlechtergestellten um vieles besser als der Mehrheit der Menschen im Süden. Ob das wirklich immer zutrifft? Die Hälfte der Jugendlichen in Griechenland ist arbeitslos und ohne berufliche Perspektive. Ähnlich sieht es in Spanien, in Italien und anderen Ländern des zum Norden gezählten Kreises der Völker aus. Dieser Befund sollte doch eigentlich zeigen, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann.
Der Autor spricht viel von „Wir“. Dieses „Wir“ aber gibt es nicht, nicht im Norden und auch nicht im Süden. Lessenich erwähnt diesen Vorbehalt auch zu Beginn des zuvor verlinkten Videos seines Vortrags. Aber diese Kritik zu erwähnen, hilft dann nicht weiter, wenn die Kritik im weiteren Verlauf der Analysen und Schlussfolgerungen vom Autor ignoriert wird. So geschieht es im Text des vorliegenden Buches häufig. Die weiteren Aussagen werden dann meist so getroffen, als gäbe es die Notwendigkeit zur Differenzierung nicht.
Auch die Welt des Südens sieht ja durchaus verschieden aus.
Es fängt damit an, dass fraglich ist, wo man die OPEC-Länder einordnen will. Wohin gehören Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten? Analysiert man wie der Autor, dann sind die Golfstaaten doch sicherlich Externalisierungsgesellschaften?! Sie laden Kosten bei anderen ab und sie leben von einem zumindest oligopolartigen Besitz von Ressourcen – Mineralöl.
Wohin gehören Syrien, Irak und Libyen? Zum Süden? Zum Norden? Dort herrscht heute das nackte Elend. Dass die Welt im Süden oft so kaputt ist, hat nicht nur etwas mit der Externalisierung zu tun. Die hier zu besprechende Schwäche des Buches wird auf Seite 27 auf besondere Weise sichtbar:
Hier geht der Autor dem Phänomen nach, dass die sozialen und ökologischen Kosten des „industriellen Wohlstandskapitalismus“ – wie er das nennt – nicht einfach irgendwo anders anfallen, weit entfernt von den Verursachern, sondern auf diese zurückschlagen. Er spricht von „Rückkopplungseffekten“. Der Wohlstandskapitalismus fordere seinen Tribut typischerweise jenseits seiner Grenzen – nun aber scheint es allmählich so, „dass das Imperium zurückgeschlagen wird, dass die Externalisierungsfolgen gleichsam nach Hause zurückkehren.“ Lessenich zitiert Wolfgang Schäuble, der im Zusammenhang mit den 2015 ankommenden Flüchtlingen von einem „Rendezvous mit der Realität der Globalisierung“ gesprochen habe. Lessenich verweist auf die Flüchtlingskrise von 2015 und zeigt daran, dass es eben nicht gelingen wird, allein die Vorteile der Globalisierung für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft zu realisieren, die Nachteile aber von ihnen fernhalten zu können.
Hier wird sichtbar, dass der Autor wichtige Ursachen für das Elend auf der Welt und für das Elend in jenen Ländern, die er den Süden nennt, in seiner Gedankenwelt und in seinem Text nicht berücksichtigt. Die von einem Teil des sogenannten Nordens (= Westen) betriebenen Regimewechsel und die Kriege des Westens in Ländern überall auf der Welt und vor allem im Süden kommen in der Gedankenwelt des Soziologieprofessors Lessenich nicht vor.
Das ist ein gravierender Fehler. Der Autor schreibt der Externalisierung Folgeerscheinungen zu, die andere Ursachen haben. Die Flüchtlinge kamen 2015 vornehmlich aus Syrien und dem Irak. Zusammen mit Libyen und auch mit Afghanistan – also der damaligen Hauptkriegsgebiete – und dem Balkan machen diese den überwiegenden Anteil der damals zugewanderten Flüchtlinge und Asylbewerber aus. Die große Zahl von Flüchtlingen allein der Externalisierung und der Globalisierung anzulasten, ist grob falsch.
Was sonst noch bei der Lektüre auffällt …
… Dass der Norden verschiedene Gesichter hat, dass die Gesellschaft in den nördlichen Ländern verschieden gestaltet sein kann, und deshalb möglicherweise auch bei Anwendung des Externalisierungs-Gedankens verschieden bewertet werden kann, ist dem Autor nicht wichtig.
Sozialstaatlich orientiert oder nicht sozialstaatlich, reguliert oder dereguliert, mit starken öffentlichen Leistungen oder total privatisiert, mit Monopolen in den Händen von Privaten oder mit starker Monopol- und Oligopolkontrolle – diese Unterschiede spielen offensichtlich in diesem Text keine große Rolle.
Man gewinnt bei der Lektüre dieses Buches den Eindruck, der Autor kenne nur den neoliberal geprägten Kapitalismus und keinen anderen. Zu dieser Einschätzung kann die Vorherrschaft dieser Ideologie verleiten. Wenn man aber nach Therapien sucht, dann ist es leichtfertig, die theoretisch denkbaren und die praktizierten Variationen einer marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnung außer Acht zu lassen.
… Dass in einem Buch mit der Basisthese, der Norden lebe auf Kosten des Südens, die Berichte der sogenannten Nord-Süd-Kommission schon in der Literaturliste fehlen und auch sonst nicht beachtet werden
Zumindest für etwas ältere Leserinnen und Leser wäre es interessant zu erfahren, in welcher Beziehung die Erkenntnisse des Autors Lessenich zu dem stehen, was unter dem Vorsitz des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt und bei Beteiligung des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme ab 1977 erarbeitet und dann 1980 veröffentlicht wurde. Siehe hier.
Das Schema Externalisierung verleitet den Autor dazu, außer Acht zu lassen, dass die Volkswirtschaften und Gesellschaften des Nordens zumindest in großen Teilen auf der Wertschöpfung innerhalb eines Binnenmarktes aufbauen.
Wir importieren viel und exportieren viel, aber je größer die Volkswirtschaft ist, umso mehr zählt, was innerhalb des Binnenmarktes dieser Volkswirtschaft geschieht. Die USA, Frankreich, Russland, China und die Europäische Union insgesamt sind über weite Strecken geprägt vom Austausch innerhalb des Binnenmarktes dieser Volkswirtschaften.
Wenn ein Autor behauptet, der Norden lebe auf Kosten des Südens, dann hätte man doch angesichts der Existenz von großen Binnenmärkten gerne gewusst, in welcher Dimension der Norden auf Kosten des Südens lebt.
Wer Spaß daran hat, sich von der Pflege eines besonderen Jargons mitreisen zu lassen, der ist bei der Lektüre dieses Buches gut aufgehoben.
Zum Beispiel Seite 52:
„Die zentralen Begriffe einer Soziologie der Externalisierungsgesellschaft lauten dementsprechend Macht, Ausbeutung und Habitus. Externalisierung lässt sich erstens nur auf der Grundlage struktureller Machtasymmetrien in der Weltgesellschaft verstehen. Externalisierung ist in diesem Kontext zweitens als mehrdimensionaler, globalisierter Ausbeutungsmechanismus zu begreifen. Und drittens operiert sie alltagspraktisch in Form eines spezifischen Externalisierungshabitus, der den machtstrukturierten Ausbeutungsbeziehungen geschuldet ist und diese beständig reproduziert.“
Zum Beispiel Seite 54:
„Was es allein gibt, sind asymmetrische Weltinnenverhältnisse: eine globale Lebenswelt, die durch miteinander in Beziehung stehende Ungleichheiten strukturiert ist, und lokale Sozialräume, deren Ungleichheitsstrukturen weltgesellschaftlich eingebettet sind.“
Zum Beispiel Seite 40 und 41:
„So zutreffend aber die Feststellung einer systemischen Eigenlogik des Kapitalismus sein mag, so irreführend ist doch die Annahme, dass dieser sich – in einer Art ökonomischem Münchhausen-Akt – am eigenen Schopf aus dem Sumpf allfälliger Krisen ziehen und gleichsam selbsttätig auf immer neue Höhen wirtschaftlicher Entwicklung schwingen könnte. Der Kapitalismus ist kein Perpetuum Mobile, das, einmal in Gang gesetzt, ohne weitere Energiezufuhr ewig in Bewegung bleibt. …
Der Kapitalismus kann sich eben nicht aus sich selbst heraus erhalten. Er lebt von der Existenz eines <Außen>, das er sich einverleiben kann, er zehrt von allen möglichen – materiellen wie immateriellen – Formen des ihm zuzuführenden Brennstoffs, ohne den sein angeblich ewiges Feuer ziemlich rasch erlöschen würde.“
Zum Beispiel Seite 47:
„Wie bereits angedeutet, ist die Externalisierungsgesellschaft die historische Begleiterscheinung eines kapitalistischen Weltsystems, das sich seit Jahrhunderten in wechselnder Gestalt reproduziert. …
Zum Verständnis der modernen Externalisierungsgesellschaft, ihrer Strukturmerkmale und ihre Prozessdynamiken ist vielmehr eine konsequente Soziologisierung der Analyse angezeigt.“
Konsequente Soziologisierung der Analyse hilft also weiter?? Ich habe meine Zweifel – zumal ich nicht verstanden habe, was „Konsequente Soziologisierung der Analyse“ meint.
Was tun?
Als Leser habe ich mich durch das Buch gekämpft. Wegen der Anhäufung von soziologischen und anderen Fachausdrücken und Fremdwörtern und der aus meiner Sicht undifferenzierten Analyse war das nicht leicht. Aber ich wollte noch erfahren, was der Autor zu tun empfiehlt. Auf Seite 195 – vier Seiten vor dem Ende des Buches – bin ich dann endlich darauf gestoßen. Der Autor fordert, man müsse vom „moralischen Register“ des „Empört Euch“ ins „politische Register“ des „Tut was!“ wechseln. Und dann kommen die Vorschläge für „einige Basiselemente einer radikalen institutionellen Reform der Externalisierungsgesellschaft“ (Kennzeichnung a. bis f. durch mich, A.M.); sie lägen „auf der Hand“:
- „von einer mit den Privilegien der Zentrumsökonomien brechenden Revision des Welthandelsregimes“,
- „einer effektiven Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen“
- „und einem Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien“
- „bis hin zu einem globalen Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels bzw. der egalitären Bewältigung seiner Folgen und einer transnationalen Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert“.
Weiter heißt es wörtlich:
- „Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, liefe eine solche Reform auf eine konsequente Politik der doppelten Umverteilung hinaus: im nationalgesellschaftlichen wie im weltgesellschaftlichen Maßstab, von oben nach unten und von <innen> nach <außen>.“
- „Nur wenn es gelingt, das nationale wie transnationale Institutionengerüst der Externalisierungsgesellschaft im Sinne eines demokratischen, global-egalitären Reformprojekts umzupolen, wird sich nicht nur unser Gewissen aufhellen, sondern auch die soziale Lage großer Bevölkerungsmehrheiten rund um die Welt.“
Ich hatte konkrete und praktische Empfehlungen erwartet, was man zur Überwindung der Externalisierungsgesellschaft und damit letztlich auch zur Internalisierung der Kosten und Schäden tun müsse.
Meine Erwartungen waren überzogen.
Die „Revision des Welthandelsregimes und der damit verbundenen Privilegien der Zentrumsökonomien“ (a.) ist ein berechtigtes Anliegen. Dies umzusetzen muss man versuchen. Aber man sollte angesichts der Produktivitätsunterschiede zwischen Nord und Süd nicht allzu viel davon erwarten.
d. und f. zielen auf eine neue Welt. Darauf können wir ewig warten.
Die beiden „praktischen“ Vorschläge b. (effektive Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen) und c. (Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien) sind übernommen aus einer Gedankenwelt im Umfeld des Autors, vermutlich, aber irrelevant und nutzlos.
Die Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen stammt aus der ehrenwerten Tradition von Attac. Das erhöht aber nicht die Effizienz des Konzeptes. Mit einer Transaktionssteuer kann man den eigentlich schlimmen und dominanten Auswüchsen der modernen Finanzwelt, den Spekulationen, nicht zu Leibe rücken. Eine Transaktionssteuer juckt Spekulanten nicht. Sie ist das Schwarze unter dem Fingernagel gemessen am Spekulationsgewinn beim Handel mit Rohstoffen oder beim Handel mit Aktien oder beim Handel mit „kreativen“ Finanzprodukten. Dass sich der Autor an der Attac-Tradition orientiert, sagt mehr über die Treue zu einer angesehenen Organisation als über das aufgerufene Thema „Was tun?“
Postwachstumsökonomie ist ein modisches Gewächs, aus meiner Sicht ohne Sinn im Zusammenhang mit dem Gedanken, wie man mit den Externalisierungen fertig werden sollte. Wachstum ist eine statistische Ziffer. Wenn man die Wunden heilen will, die die Dominanz des Nordens im Süden geschlagen hat, dann wird man vermutlich ziemlich viel Wachstum – in den Statistiken gemessen – verursachen.
Es fehlt die praktische Konsequenz aus der Analyse der Zustände, die man Externalisierung nennen kann. Wo bleibt die Internalisierung der externen Kosten?
- Wo bleiben die Vorschläge für notwendige Regulierungen in einer Welt, die von De-Regulierungen geprägt und zu ihrem Nachteil verändert worden ist?
- Wo die Anwendung des Verursacherprinzips?
- Wo bleibt der Vorschlag für eine weltweit einzuführende Kerosinsteuer?
- Wo bleibt die Anlastung der Kosten des Transports mit Lkw, mit Schiffen, mit Flugzeugen?
- Wo bleibt der Ansatz zur notwendigen Verkehrsvermeidung?
- Wo das Konzept zur Regionalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten all überall auf der Welt?
- Wo bleiben die notwendigen Regulierungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Süden wie im Norden?
- Wo ist die Forderung danach, bestehende Gesetze auch durchzusetzen? Der Export von Elektroschrott nach Afrika würde verringert, wenn die Einhaltung bestehender Gesetze durchgesetzt würde.
- Wo bleibt die Forderung nach Auflösung der Monopole und Oligopole und das Verlangen nach einer weltweit ausgeübten Wettbewerbskontrolle?
- Wo ist die Forderung nach einem weltweiten Stopp der Privatisierung öffentlicher Einrichtung und die parallele Forderung nach einer Versorgung aller Menschen mit den notwendigen öffentlichen Einrichtungen und Gütern?
- Wo bleibt die Forderung nach einer massiven Einschränkung der Chemisierung der Landwirtschaft?
- Wo bleibt der Schutz vor Spekulation? Mit Aktien, mit Boden, mit Rohstoffen.
Das waren nahezu alles Vorstellungen, die Ökonomen und Sozialwissenschaftler wie auch die damit verbundenen Politikerinnen und Politiker entwickeln konnten, als sie sich vor fast 60 Jahren mit der Externalisierung beschäftigt haben. Die neoliberalen Ideologen und Praktiker haben diese damaligen Versuche und das Handwerkszeug, diese Regeln der sozialen Gestaltung, diese „social technique“ missachtet. Offenbar ist das alles nicht soziologisch genug und viel zu praktisch.
Bibliographische Angaben:
Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin 2016. 224 Seiten. 20 Euro