In sieben Wochen wird Bilanz gezogen. Dann ist Schluss mit Martin Schulz und der gesamten SPD-Führung.
Seit 1998, einem Zwischenhoch der SPD, geht es mit ihr bei Wahlen und Umfragen permanent bergab. Die letzten Umfragen signalisieren, dass die Wahl am 24. September eine Katastrophe für die älteste Partei Deutschlands bringen wird: ca.23%. Bisher kümmern solche trüben Aussichten das sozialdemokratische Führungspersonal anscheinend nicht. Und Schulz wird bedauert, als habe er nichts damit zu tun. Albrecht Müller.
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Dass es den führenden Kräften in der SPD gelegentlich nicht um die politische Gestaltung und die politischen Erfolge geht, sondern um ein eigenartiges Überleben, ist 2005 und dann wieder 2009 sichtbar geworden. 2005 hat der damals amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit dem Parteivorsitzenden Müntefering mutwillig die Regierungszeit um ein Jahr abgekürzt und Neuwahlen angestrebt. Dabei war zu erwarten, dass sie die Kanzlermehrheit nicht wieder erreichen würden. Vermutlich war dem Parteivorsitzenden Müntefering und dem amtierenden Bundeskanzler Schröder die Absicherung der Agenda 2010 mehr wert als die sozialdemokratische Kanzlerschaft. So ist es auch gekommen. Bundeskanzlerin wurde Angela Merkel. Die große Koalition regierte und machte mit der Agenda 2010 weiter.
2009 dann hat der damalige SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier, der eng mit der Agenda 2010 verflochten ist, die er als Kanzleramtschef zusammen mit Gerhard Schröder durchgesetzt hatte, das bisher schlimmste Ergebnis für die SPD eingefahren: 23 %. Das ist gerade mal die Hälfte des bisher besten Ergebnisses von 45,8 % der Zweitstimmen und 17,9% weniger als 11 Jahre zuvor, als 1998 die SPD mit Schröder/Lafontaine mit 40,9% den Wechsel von Kohl zu Rot-Grün schaffte.
Eigentlich wäre die Halbierung auf 23 % ein Grund gewesen, Steinmeier zum Teufel zu jagen. Stattdessen hat er sich 2009 am Wahlabend von smarten, dunkel gekleideten jungen Männern im Willy-Brandt-Haus als quasi Wahlsieger feiern lassen, wurde dann mit dem wichtigsten Amt des Fraktionsvorsitzenden bedacht und 2013 in der nächsten Großen Koalition Außenminister und dann 2017 im Einvernehmen mit Merkel und der CDU/CSU Bundespräsident.
Die Sanktionen für das miserable Ergebnis von 23 % im Jahre 2009 blieben also aus. Steinmeier ist die Treppe hinaufgefallen. Vermutlich dank seiner „großen Leistung“, dabei mitgeholfen zu haben, die SPD von sozialdemokratischer Programmatik und Praxis zu befreien.
Jetzt steht zu befürchten, dass nach der Wahl am 24. September 2017 wieder nicht aufgeräumt wird.
Ein Signal dafür ist der in den gestrigen Hinweisen zitierte Kommentar von Heribert Prantl, immerhin eines bedeutenden Meinungsführers der deutschen Publizistik, Innenpolitik-Chef und Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung. Ihn zitiere ich, weil er symptomatisch ist für die Fehleinschätzung des jetzigen Spitzenkandidaten der SPD, seiner Attraktivität, seines Programms, seines Auftretens.
Heribert Prantl hat am 4. August einen eigenartigen Kommentar ins Blatt gehoben. Überschrift und Einstieg lauten:
Für Martin Schulz ist der Machtverlust der Sozialdemokraten in Niedersachsen ein Desaster. Was hilft es ihm, dass er ungeheuer fleißig ist und sich für seine Partei abstrampelt.
Kommentar von Heribert Prantl
Und hier ein weiterer Absatz:
Der Machtverlust der SPD in Niedersachsen ist für Kanzlerkandidat Martin Schulz der vierte Schlag nach den verlorenen Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Schulz kann einem schon fast leidtun. Er ist ungeheuer fleißig, er strampelt sich ab, er bricht auf zu einer gewaltigen Wahlkampfreise durch die Republik – mit einem durchaus ordentlichen Programm, mit Slogans, die man gut goutieren kann. Aber der eigentliche Spruch, der Schulz begleitet, ist ein anderer, er hängt oft in Büros: “Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen! Und ich lächelte, ich war froh – und es kam schlimmer!” Der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten bleibt der Mut der Verzweiflung.
Hier wird so getan, als sei der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende der SPD für das absehbare Desaster nicht verantwortlich. Prantl betont, der Kandidat Schulz sei fleißig und breche zu einer gewaltigen Wahlkampfreise durch die Republik auf. Das sind Selbstverständlichkeiten. Das können die Mitglieder der SPD genauso wie die Wählerinnen und Wähler von einem Spitzenkandidaten erwarten und das hat jeder frühere Spitzenkandidat auch so gehalten
Dann behauptet der große Publizist, das Programm von Schulz und SPD sei „durchaus ordentlich“ und der Wahlkampf sei von Slogans geprägt, die man „gut goutieren kann“.
Das ist alles Kappes.
Das Programm ist dürftig, es enthält keine vernünftige, dauernde Revision der Agenda 2010, die Vorstellungen zur staatlich geförderten Betriebsrente sind von den Interessen der Versicherungswirtschaft geprägt und nicht geeignet, die Altersarmut zu bekämpfen, und die SPD findet auch mit Schulz nicht zurück zu ihrem Markenzeichen, der Entspannungspolitik und Verständigungspolitik zwischen West und Ost, im konkreten Fall zwischen Deutschland und Russland. Es gibt keine Absage an die Interventionskriege, die auch Deutschland und die SPD in den letzten Jahren mitgemacht hat. Das Programm ist ohne Vision und Profil.
Wenn Schulz und die SPD gegenüber der etablierten Bundeskanzlerin Merkel Punkte machen wollen, dann müssen sie sich ganz anders profilieren, dann muss klar werden, warum Merkel weg muss, und es muss eine Alternative auch grundsätzlicher Art geboten werden, eine wertorientierte Alternative. Davon am Ende dieses Textes noch ein bisschen mehr
Und Slogans, die man „goutieren kann“ – meint der Innenpolitikchef der Süddeutschen Zeitung. Hat er sich diese angeschaut?
Soll man diese Lüge, die zum Beispiel das Plakat zur Rente und Altersvorsorge prägt, goutieren? Die Reformvorstellungen im Programm von Schulz und SPD sind nicht geeignet, dafür zu sorgen, dass „die Rente nicht klein ist, wenn die Kinder groß sind“ – ebenso wenig, wie die von der SPD und Rot-Grün propagierte Riester-Rente.
Es könnte sein, dass der Innenpolitikchef der Süddeutschen Zeitung in seiner jetzigen Kommentierung geprägt ist von einer wahrlich erstaunlichen Haltung zum neuen Spitzenkandidaten der SPD gleich zu Beginn, am 30.1.2017. Damals war folgendes in der Süddeutschen Zeitung gedruckt:
30. Januar 2017, 14:44 Uhr
SPD – Schulz hat, was Merkel fehlt
Überschwang, Feuer, Begeisterung – das sind die Gaben des Martin Schulz. Der Kanzlerkandidat der SPD ist ein Mann mitten aus dem Leben, ein Populist im besten Sinne.
Kommentar von Heribert Prantl
Die in diesem Text erkennbare Fehleinschätzung durch den großen Innenpolitiker Heribert Prantl konnte ich schon damals, Ende Januar, nicht begreifen. Es war alles übertrieben. Es entsprach auch nicht der Einschätzung vieler Menschen, die sich die Person des Martin Schulz angeschaut haben und ihm zugehört haben. Letzthin fragte mich eine Nachbarin aus einer Arbeiterfamilie und traditionell Wählerin der SPD und verunsichert wegen der allgemeinen Begeisterung für Martin Schulz in den Tagen seiner Nominierung, ob ich das verstehe. Sie begreife das nicht. Sie müsse ihm nur zuhören und ihn anschauen.
Seltsam, Heribert Prantl lebt offenbar in einer anderen Welt und hat deshalb Stimmung gemacht, ohne den unmittelbaren menschlichen Eindruck zu beachten, den der frühere Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz, auf Menschen macht.
Wenn es in den Parteien und bei ihren Werbeagenturen Gremien gäbe, die Spitzenkandidaten in der Zeit des Fernsehens und der visuellen Kommunikation aussuchen sollten und dafür Kriterien festlegen sollten, dann würde man auf Kriterien, die einem bei Martin Schulz enden lassen, nicht kommen. Martin Schulz ist wie Erich Ollenhauer, nur noch ein bisschen weniger bieder und auch ein bisschen weniger seriös. Dazwischen lagen bei der SPD Willy Brandt, Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Oskar Lafontaine, Johannes Rau.
Schon der erste Blick auf den neuen Kandidaten, seine Gestik, sein Sprechen, und dann seine inhaltlichen Aussagen sind doch so, dass man keine natürliche und selbstverständliche Sympathie empfinden kann. So geht es zumindest meiner Nachbarin und so geht es mir und ich bin davon überzeugt, dass es Hunderttausenden von Menschen in Deutschland so geht, dass ihre Einschätzung und ihr Empfinden aber von der Propaganda für Martin Schulz im Zuge seiner Nominierung wie auch durch das Ergebnis von 100 % bei der Wahl zum Vorsitzenden einfach totgeschlagen worden sind. Jetzt bricht das Unbehagen auf, jetzt kommt die Offenbarung.
Die Euphorie in Zeiten der Nominierung zwischen Januar und März 2017 hat den Spitzenkandidaten und seine Berater wie auch die SPD-Führung offenbar dazu verleitet, nicht darüber nachzudenken, mit welchem Programm, mit welchem Profil, mit welchen Themen, mit welchen Konflikten Angela Merkel aus dem Amt gehoben werden könnte.
Publizisten wie Heribert Prantl sind zusammen mit anderen Multiplikatoren einschließlich einiger als links geltender Personen – siehe z.B. diesen Wahlaufruf der Aktion für mehr Demokratie um Klaus Staeck – maßgeblich dafür verantwortlich, dass Martin Schulz darauf verzichten konnte, ein wirklich progressives Programm aufzulegen und den substanziellen Konflikt mit Angela Merkel zu suchen und sich und die SPD damit zu profilieren. Sie haben zur Selbstgenügsamkeit beigetragen, sie haben ihn nicht gezwungen, das Naheliegende zu tun. Das gilt bis heute. Auch heute fühlt sich der Spitzenkandidat offenbar nicht dazu veranlasst, die auf der Straße liegenden Möglichkeiten zur Profilierung und zur Auseinandersetzung mit der regierenden Bundeskanzlerin zu nutzen. Ich will an wenigen Beispielen zeigen, was nötig wäre und welche Chancen es gäbe und gegeben hat:
Erstens hätte Martin Schulz die Sanktionen der USA gegenüber Russland und den damit ausgeübten Zwang auf Europa nutzen müssen, um zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien. Wir müssen die Autonomie Europas von den USA anstreben. Wir wollen Frieden und Zusammenarbeit mit allen Völkern Europas, auch mit den Russen, und wenn die USA das nicht mittragen, dann sollen sie gehen. Bei aller Freundschaft, aber wir wollen die imperialen Spielchen der USA nicht weiter mitmachen und auch nicht ihre Kriege mittragen.
Der SPD Spitzenkandidat hat die Chance nicht genutzt, die die Sanktionen des amerikanischen Kongresses für seine Profilierung bedeutet hätten. Er hat es jetzt auch dem FDP-Vorsitzenden Lindner überlassen, in Sachen Krim einen Vorstoß der Verständigung mit Russland zu machen. Lindner weiß offensichtlich, wie man sich profiliert, und wie man von der SPD und den Grünen Stimmen abzieht. Schulz hat nichts kapiert und das gilt wohl für die gesamte SPD-Führung.
Zweitens: Martin Schulz sollte endlich einmal sagen: Merkel muss weg! Und er sollte das in fünf oder zehn Punkten begründen. Fünf Gründe, die sich jeder merken kann, und die endlich mit dem allgemein vermittelten Gefühl aufräumen, diese Bundeskanzlerin habe gut regiert. Es muss den Leuten doch klarwerden, dass das nicht stimmt. Von der Austeritätspolitik, von der Demütigung Griechenlands bis zur Verlotterung unserer Infrastruktur und zu den Privatisierungswellen auf Kosten der Steuerzahler und der Menschen, die auf öffentliche Güter angewiesen sind – lauter Minuspunkte, über die aber nicht gesprochen wird.
Drittens müsste der SPD-Spitzenkandidat deutlich machen, in welcher Konstellation er den Wechsel in Berlin erreichen und die Macht für eine neue Koalition erobern will. Die Menschen wollen wissen, mit wem sich die SPD zusammentun will. Das war immer so. Es ist eine Illusion, es ist dumm, zu meinen, man könne die Koalition verschweigen, in der man antreten will. Wenn Schulz diesem Bedürfnis entsprechen wollte, müsste er allerdings die Feindseligkeit gegenüber dem potentiellen linken Partner, der Linkspartei aufgeben. Wenn er das nicht tut, zwingt er eingefleischte Sozialdemokraten dazu, die Linkspartei zu wählen.
Da Schulz nicht einmal die hier unter erstens genannte Profilierungschance nutzte und da er auch die beiden anderen wichtigen Punkte nicht beachtet, bleibt es wohl bei dem in den Umfragen erkennbaren Ergebnis von ca. 23%. Dann ist die Spitzenkandidatur erledigt und dann muss Schulz den SPD-Vorsitz niederlegen und am besten tritt der gesamte Vorstand zurück.