Brasilien – Die privilegierteste, teuerste und ehrloseste Justiz der Welt.
Zwei Justizskandale lösten im vergangenen Juni landesweite Empörung in der brasilianischen Öffentlichkeit, einschließlich konservativer Medien, aus. Zum einen sprach das Oberste Wahlgericht des Landes am 9. Juni den u.a. wegen schwerer Korruption und Justizbehinderung angeklagten, brasilianischen de-facto-Präsidenten Michel Temer von der Anklage begangener Verstöße gegen das Wahlgesetz frei. Zum anderen gab Richter Marco Aurelio de Mello vom Obersten Gerichtshof am 30. Juni das Senatoren-Mandat an den von der Polizei in flagranti überführten, ebenfalls wegen schwerer Korruption und Justizbehinderung Wochen zuvor seines Amtes enthobenen und angeklagten Politiker Aécio Neves zurück. Von Frederico Füllgraf.
Beide Episoden sind Paradebeispiele für die als zunehmend ehrlos erkannte brasilianische Justiz, neben der korrupten Exekutive und Legislative ein Moloch der Ineffizienz und himmelschreiender Privilegien, sowie ferner, der politischen Protektion alteingesessener Eliten.
Juristen und Politikwissenschaftler verschiedenster Nationalitäten und politischer Couleur befürchten überdies, dass die vor 25 Jahren nach Ende der Militärdiktatur eingeleitete Demokratisierung in Brasilien an der unterlassenen, moralischen und politischen Reinigung des von Vetternwirtschaft, Privilegien, Korruption und autoritären Gedankenguts durchsetzten brasilianischen Justizapparates gescheitert ist.
Teuer und ineffizient
Im Jahr 2015 kostete das mit 400.000 Beschäftigten aufgeblasene brasilianische Justizsystem den Staat umgerechnet 21 Milliarden Euro, rund 1,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts, und somit das Dreifache im Kostenvergleich mit der deutschen Justiz. Nicht zu Unrecht wird das Ungetüm in Brasilien mit einer geheimgehaltenen Blackbox verglichen, die ein weit gesponnenes Netz von eigennützigen Gesetzesinitiativen, illegalen Privilegien und der Deckung krimineller Handlungen von Richtern verberge.
Doch der Apparat ist auf leidliche Weise auch ineffizient. Ein 2012 von der Weltbank in 181 Ländern angestellter Vergleich von gerichtlicher Prozessdauer setzte Brasilien auf den wenig rühmlichen 100. Platz der schwerfälligsten Justizapparate der Welt. Anfang 2015 stapelten sich auf den Schreibtischen der 90 brasilianischen Tribunale 99,7 Millionen Gerichtsverfahren, wovon die meisten seit Jahren verhandelt werden und ohne definitives Urteil im Dickicht der Instanzen versickern. Der Apparat verletzt massenhaft die Menschenrechte: Sechzig Prozent der 600.000 brasilianischen Gefangenen – die viertgrößte Insassenzahl der Welt – fristen ein Elendsdasein in überfüllten und von brutaler Gewalt beherrschten Gefängniszellen, ohne Aussicht auf eine Vorführung vor den Richter.
Korruption und Korporatismus
Bestechlichkeit und Käuflichkeit sind kein exklusiver Makel von Exekutive und Legislative. Im Jahr 2016 wurden 46 brasilianische Richter wegen Begünstigung reicher Angeklagter und Mauscheleien bei Urteilen verurteilt; brasilianische Fachpublikationen schätzen die Zahl der anrüchigen Rechtsdiener auf mindestens das Dreifache.
Ein besonderer Fall erregte jedoch in den vergangenen Monaten das öffentliche Aufsehen: selbst der von der US-amerikanischen Time als Einsatzleiter der Korruptionsermittlungen im Petrobras-Skandal gerühmte Richter in erster Instanz, Sérgio Moro, nimmt es nicht so ernst mit Gesetz und Anstand. Auszüge aus dem von der Justiz monatlich veröffentlichten Gehaltspiegel belegten, dass der Star-Richter sich erwiesenermaßen bis zum Dreifachen des vom Gesetz vorgeschriebenen Gehalt-Höchstsatzes auszahlen lässt.
Mit Monatsgehältern um die 25.000 Euro und exklusiven Limousinen samt Fahrern ausgestattet, bedienen sich die 16.500 Richter im Lande an der Staatskasse mit allerlei undurchsichtigen „Leistungsprämien”, wie „Miet-”, „Ausbildungs-” oder gar „Essens-Zuschüssen”. Angehende Staatsanwälte verdienen dreimal mehr als ein promovierter Universitätsprofessor und fast das Doppelte wie ein Botschafter oder ein Fünf-Sterne-General.
Gefährliche Politisierung und Medialisierung der Justiz
Als besorgniserregend bezeichnet Eugênio de Aragão – an der Ruhr-Universität Bochum promovierter Jurist, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt und Justizminister im Kabinett Dilma Rousseff – die zunehmende Elitisierung und Politisierung von Staatsanwaltschaft und Justiz. Ihre Durchsetzung mit Vertretern der oberen Mittelschicht und der herrschenden Geldelite habe den Korpsgeist geweckt und eine unzulässige und einseitige Politisierung bewirkt.
Als Exponenten der Politisierung gelten Gilmar Mendes – Richter am Obersten Gerichtshof (STF) in Brasília – und der im In- und Ausland umstrittene Ermittlungsrichter Sergio Moro im südbrasilianischen Curitiba. Als von der dominierenden, brasilianischen Mediengruppe Globo vielausgezeichneter “Mann des Jahres” tritt Moro als Schlüsselfigur und Schrittmacher der seit 2014 agierenden Anti-Korruptions-Sondereinsatzgruppe „Lava Jato” („Unternehmen Waschanlage”) auf. Die Einsatzgruppe wurde bekanntlich (WikiLeaks-Cable) auf Anregung des US-amerikanischen State Department gebildet.
In drei Jahren Korruptionsermittlungen gelang der Einsatzgruppe ein historisches Unikum: die Verhaftung mehrerer Dutzend Konzernchefs und Multimillionäre, aber auch die Anklage und Verhaftung einer Handvoll Politiker der von 2003 bis 2015 regierenden Arbeiterpartei (PT).
Moro pflegt jedoch eine Vorliebe für Medienspektakel. Unter Berufung auf das gescheiterte italienische Mani-Pulite-Massenverfahren der Korruptionsbekämpfung fordert der Provinzrichter die hanebüchene „Unterstützung der Medien und der Straßen”, wofür er aufs Schärfste vom weltweit renommierten Juristen Luigi Ferrajoli vor dem italienischen Parlament kritisiert wurde.
Sein fragwürdigster Einsatz war die spektakuläre Festnahme des PT-Gründers, Ehrenvorsitzenden und von 2003 bis 2010 mit 80 Prozent Wählerzustimmung amtierenden brasilianischen Präsidenten, Luis Inácio Lula da Silva, dem seit über einem Jahr bisher unbewiesene Delikte vorgeworfen werden. Ohne vorschriftsmäßige gerichtliche Vorladung ließ der Richter Lula da Silva im März durch ein lächerliches, doch schwerbewaffnetes Kommando der Bundespolizei um 6 Uhr morgens illegal aus dem Bett reißen und zum Stadtflughafen „Congonhas” von São Paulo abführen. „Zur eigenen Sicherheit des Präsidenten”, erklärte Moro fadenscheinig. Mit dem Zweck der medialen Ausschlachtung waren Ort und Uhrzeit vorab mit TV Globo als einzigem Medium abgesprochen.
Auf dem Flughafen wurde der populäre Ex-Staatschef stundenlang verhört. Moro hätte jedoch um ein Haar ein Blutbad angerichtet: Auf dem Rollfeld stand eine startbereite Maschine zu da Silvas Abtransport ins südbrasilianische Curitiba, dem Kommandositz von „Unternehmen Waschanlage”. Der Start wurde jedoch durch eine schussbereite Patrouille der brasilianischen Luftwaffe verhindert, deren Kommandant die Bundespolizei mit den Worten zusammenstauchte, „hier gebe ich die Befehle!”.
Lula da Silva wurde sofort freigelassen, durchlebte jedoch zwei Wochen später einen zweiten Anschlag auf Anordnung Moros, diesmal als Telefon-Spionage. Auf dem Weg zu seiner Amtsübernahme als Kanzleramtschef von Präsidentin Rousseff wurde ein privates Telefongespräch zwischen beiden von Moro abgehört. In Brasília erklärte Richter Gilmar Mendes sofort die Nominierung für null und nichtig. Doch anstatt, wie vom Gesetz vorgeschrieben, den Gesprächs-Mitschnitt an Richter Teori Zavascki – im STF zuständiger Berichterstatter in Sachen „Unternehmen Waschanlage” – weiterzuleiten, schickte Moro den Mitschnitt an TV Globo. Daraufhin wurde mittels einer konzertierten Medienkampagne die Öffentlichkeit mit der Unterstellung konfrontiert, Lula da Silva und die Staatschefin hätten „Justizbehinderung” geplant.
Die Abhörung, obendrein die Weitergabe an den TV-Sender, sei ein „illegales Spektakel”, rügte Richter Zavascki den ihm untergebenen Provinzrichter in aller Öffentlichkeit und sah Tage später seine Wohnung von rechtsradikalen und gewalttätigen Moro-Anhängern umstellt. Seitdem stand Zavascki unter Polizeischutz, kam jedoch bei einem bisher nicht aufgeklärten Flugzeugunglück an der Küste Rio de Janeiros im Januar 2017 ums Leben.
Moros wiederholte Beschwichtigung, er sei „unpolitisch” und handle als Richter „unparteilich”, ist unredlich. Von den mehr als 50 wegen schwerer Korruption von Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot angeklagten brasilianischen Parlamentariern gehören gerade 6 zur von Moro gern verfolgten Arbeiterpartei. Mit Ausnahme des wegen vielfacher Korruption und Geldwäsche verurteilten Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, sitzt kein einziger der zu Dutzenden angeklagten Politiker der konservativen Parteien in Haft.
In seinen promisken Medienauftritten und an der Seite korrupter und angeklagter Politiker sieht der Richter keine Anstößigkeit. Indes war im Dezember 2016 ein peinliches Foto des Richters Trendsetter in den sozialen Netzwerken. Ein Fotograf überraschte Moro beim heiteren Techtelmechtel mit Senator Aécio Neves, dem 2014 gegen Dilma Rousseff unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der konservativen Opposition und militanten Anführer ihrer Amtsenthebung. Schlimmere Gesellschaft konnte Moro sich nicht ausdenken: Neves ist bekannt für den Konsum harter Drogen, Frauenmisshandlung und in vielfältigen Korruptionsfällen involvierter, doch von Moro bisher geschützter Straftäter.
Auf Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft wurde Neves im März 2017 abgehört und der Justiz überführt. Der Senator musste sein Mandat niederlegen, den Reisepass abgeben und erwartet seine baldige Verhaftung. Von den Millionen Euro schweren Bestechungs- und Geldwäsche-Skandalen Neves´ will Moro nichts gewusst haben.
Gilmar Mendes – ein Richter von fragwürdiger Reputation
Vorreiter vergleichbarer Unsittlichkeit und parteipolitischer Vereinnahmung des Justizapparates ist jedoch Richter Gilmar Mendes. Seine Stimme besiegelte am vergangenen 9. Juni den Freispruch und die Bestätigung von Präsident Michel Temer im Amt des Staatspräsidenten.
Der 1990 an der Universität Münster promovierte Jurist ist Mitglied im 11-köpfigen Obersten Gerichtshof, agiert jedoch zugleich als Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts (STE); ein in soliden Demokratien unzulässiger, doch in Brasilien landesweit üblicher Interessenkonflikt. Dennoch, von Interessengegensätzen und Befangenheit lässt sich der Hohe Richter nicht beirren.
Der Sprössling einer Großgrundbesitzerfamilie aus dem zentralbrasilianischen Mato Grosso ist bekannt für Wortgefechte und Beleidigungen seiner Amtskollegen im Obersten Gerichtshof und behandelt das Primat amtlicher Zurückhaltung, Verschwiegenheit und Unabhängigkeit mit ausgeprägter Indifferenz, ja, er scheint gar eine Vorliebe für freche, „ich-schere-mich-einen-Dreck”-Haltungen zu pflegen.
Sein jüngster Coup: ein Dinner für Michel Temer. Im Auge des Orkans krimineller Anklagen gegen den de-facto-Präsidenten und Senator Aécio Neves fiel dem extravaganten und großmäuligen Richter nichts Besseres ein, als beide Mitte März 2017 zu einem privaten Dinner „für einen Meinungsaustausch über politische Reformen” einzuladen; obendrein als zuständiger Berichterstatter im Obersten Gerichtshof für die Ermittlungen gegen ebendiese wegen Korruption und Justizbehinderung angeklagten Politiker. Ein Skandal ersten Ranges, doch Mendes ist „Wiederholungstäter”.
In den brasilianischen Medien wimmelt es an Beispielen für seine Fehltritte und Übergriffe. Mitte 2016 war der Magistrat zu einem Juristentreffen seines privaten „Instituts für Öffentliches Recht” (IDP) nach Lissabon geflogen und hatte niemand Anderen zum Fluggast als ausgerechnet den von seinem Gericht angeklagten de-facto-Präsidenten Michel Temer. Das Treffen war ein nackter juristisch-politischer Komplott, es diente der Vorbereitung für die Amtsenthebung Dilma Riousseffs. Doch da flog ein neuer Interessenkonflikt auf: das IDP wird von der Regierung sowohl finanziell gefördert als auch von ihr beauftragt.
Entmachtung der Korruptionsermittler
Mit der Freisprechung Temers handelte Mendes eindeutig politisch und nicht juristisch. Was ihn von Richter Sérgio Moro unterscheidet, sind unübersehbare, parteipolitische Motive. Während der Star-Richter offenbar auf die Zerschlagung des gesamten politischen Systems – mit Vorrang der Linken – setzt, agiert Mendes als politischer Drahtzieher der sich „sozialdemokratisch” nennenden, rechtsliberalen PSDB-Partei.
Als Richter am Obersten Gerichtshof ermutigte er über drei Jahre hinweg den Kreuzzug Moros gegen die Arbeiterpartei. Doch als „Unternehmen Waschanlage” auch gegen Politiker der PSDB – allen voran Aécio Neves, Senator und Führer des Putsches gegen Präsidentin Dilma Rousseff – Anklage erhob, scheute der Richter keine „privaten” Treffen mit der Parteispitze und selbstnicht die Zusage an Neves, die vielfältigen Verfahren gegen ihn abzublocken. Ein entsprechendes Telefongespräch wurde von der Polizei abgehört, offenbar auf Anordnung von Generalstaatsanwalt Janot, der im Vergleich zu Moro diskret agierende Chef von „Unternehmen Waschanlage” in der Hauptstadt Brasília. Nun mobilisiert Mendes seine Freunde in der Justiz, der Legislative und den Medien, um die „Exzesse von Unternehmen Waschanlage zu unterbinden”.
Gleichwohl sieht es nicht gut aus für die Zukunft des Doktors der Rechtswissenschaften an der Universität Münster: am 14. Juni protokollierte der pensionierte Staatsanwalt Claudio Fonteles vor dem brasilianischen Senat einen Antrag auf die Amtsenthebung sowie auf die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen Mendes. Der Antrag wird von hunderten von Unterschriften namhafter Juristen, Professoren, Beamten und Jura-Studenten bekräftigt.