„Schrottökonomik“ aus der Schweiz und ihre Verbreitung in Deutschland – Die Prognos AG leugnet die negativen Auswirkungen deutscher Exportüberschüsse
„Prognos – Wir geben Orientierung.“ Mit diesem Slogan begrüßt die Baseler Beratungsgesellschaft Prognos AG die Besucher ihrer Website. Und weiter bekommen diese dann zu lesen: „Wer heute die richtigen Entscheidungen für morgen treffen will, benötigt gesicherte Grundlagen. Prognos liefert sie – unabhängig, wissenschaftlich fundiert und praxisnah“. Wen oder was die Prognos AG mit diesen hehren Worten sicher nicht gemeint haben kann, ist ihre eigene Studie „Die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für Europa“. Orientierung gibt dieses Dokument dem Leser nämlich vielmehr darin, wie heutzutage Meinungsmache und Manipulation funktionieren. Erschienen ist es Mitte Juni, in Auftrag gegeben hat es die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw). Von Thomas Trares[*].
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Vordergründig geht es in der Studie darum, die Auswirkungen der deutschen Wirtschaft auf das restliche Europa darzustellen und zu quantifizieren. Der eigentliche Sinn und Zweck dieses Machwerks ist jedoch, die deutsche Wirtschaft gegen die fortwährende Kritik an dem hohen Exportüberschuss zu immunisieren. Dieser beziffert sich inzwischen auf fast 300 Milliarden Dollar, das sind etwa neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dies ist im internationalen Vergleich ein exorbitant hoher Wert und vor allem für die deutschen Handelspartner ein Problem, die sich in dieser Höhe verschulden müssen. Wesentliche Ursache für die hohen Überschüsse ist das deutsche Lohndumping, das der hiesigen Wirtschaft im Laufe der Jahre einen enormen preislichen Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Kritisiert haben dies in letzter Zeit etwa die US-Regierung, der neue französische Präsident Emmanuel Macron oder auch der Internationale Währungsfonds.
Die vbw hingegen findet solcherlei Kritik „absurd“ und will mit der Prognos-Studie belegen, dass der Rest der Welt vom deutschen Wirtschaftsmodell profitiert. So heißt es in der dazugehörigen Pressemitteilung gleich zu Beginn:
„Die deutsche Importnachfrage gewährleistet EU-weit fast 4,8 Millionen Beschäftigungsverhältnisse. Für die höchsten Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte zeigt sich dabei nicht der private Konsum, sondern die Nachfrage der deutschen Industrie nach Vorleistungs- und Investitionsgütern verantwortlich – allein darauf entfallen 3,4 Millionen Beschäftigte. Die Ergebnisse machen deutlich: Befürchtungen, dass eine wettbewerbsfähige und wachstumsstarke deutsche Industrie die wirtschaftliche Dynamik in anderen Ländern bremsen würde, sind unbegründet. Das Gegenteil ist der Fall.“
Und weiter ist zu lesen:
„Bereits die isolierte Betrachtung des deutschen Importbezugs aus den europäischen Partnerländern zeigt die zentrale Bedeutung der größten Volkswirtschaft des Kontinents. In Ländern wie Tschechien, der Slowakei, den Niederlanden oder Österreich induziert die deutsche Importgüternachfrage zwischen 7 und 8 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung – und zeigt sich damit für jeweils hunderttausende Arbeitsplätze verantwortlich.“
Was man hier sieht, ist exakt die Methode, die der Statistiker Gerd Bosbach in seinem Buch „Lügen mit Zahlen“ als „Ying ohne Yang“ oder „Die vergessene zweite Seite“ bezeichnet. Die Zahlen sind vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird hier nur „isoliert“ die Importseite betrachtet, die Exportseite bleibt komplett außen vor. Man erfährt nicht, wie viele Arbeitsplätze die Importnachfrage anderer Länder in Deutschland sichert. Eine Analyse der Handelsbeziehungen hat aber nur Sinn, wenn man auch die Exportseite betrachtet. Stattdessen versucht man mit hohen absoluten Zahlen, Eindruck zu schinden. Der Satz „Die deutsche Importnachfrage gewährleistet EU-weit fast 4,8 Millionen Beschäftigungsverhältnisse“ wird auch später so oder so ähnlich in etlichen Zeitungsüberschriften auftauchen.
Und weiter heißt es bei Prognos:
Eine dynamische deutsche Industrie bremst also keineswegs die Entwicklung in den europäischen Nachbarländern. Vielmehr stellt sie umgekehrt eine wichtige Triebfeder für deren eigene Wachstumsdynamik dar. Dies verdeutlicht ein Szenario, in dem die deutsche Volkswirtschaft bis 2019 stagnieren würde: In diesem Fall läge die Wirtschaftsleistung der übrigen Länder der Europäischen Union in der Summe um 18 Milliarden Euro niedriger als in der Basisprognose, in dem die deutsche Wirtschaftsleistung in den Jahren 2017 bis 2019 im Durchschnitt um 1,8 Prozent pro Jahr zulegt.
Dieser Abschnitt ist an Trivialität nicht zu überbieten und hat mit der Kritik am deutschen Exportmodell rein gar nichts zu tun. Es ist unbestritten, dass eine dynamische deutsche Wirtschaft auch den Handelspartnern mehr nützt als eine stagnierende. Kein Kritiker verlangt, dass Deutschland stagnieren oder seine Exporte mutwillig drosseln soll. Dieser Abschnitt ist eine reine Nebelkerze.
Weiter schreibt Prognos:
Auch die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie führt nicht zu einer breiten Marktverdrängung von Unternehmen aus den übrigen Ländern. Vielmehr profitieren die übrigen Volkswirtschaften Europas von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Sie können ihren Importbedarf günstiger decken und bedienen ihrerseits die starke deutsche Importnachfrage.
Genau das ist falsch. Die übrigen Volkswirtschaften Europas würden von einer weniger wettbewerbsfähigeren deutschen Wirtschaft profitieren. Gemeint ist hier aber nur die preisliche Wettbewerbsfähigkeit, höhere Löhne würden diese reduzieren und gleichzeitig die Importnachfrage in Deutschland anregen. Dies käme auch den deutschen Handelspartnern zugute. Worum es nicht geht, wie immer wieder unterstellt wird, ist, dass die deutschen Exporteure mutwillig ihre Wettbewerbsfähigkeit beschädigen sollen, etwa indem sie minderwertige Produkte anbieten. Natürlich profitiert auch das Ausland von guten und wettbewerbsfähigen deutschen Produkten.
Schließlich konstruiert Prognos noch ein Szenario, in dem es in Deutschland zu einem starken Anstieg der Lohnstückkosten kommt. Dieser wiederum geht annahmegemäß zur Hälfte auf einen Anstieg der Löhne und zur anderen Hälfte auf ein Absinken der Produktivität zurück. Dies wäre ein enormer Angebotsschock für die deutsche Wirtschaft. In diesem Szenario würde in der gesamten EU die Wirtschaftsleistung bis 2023 um 36 Milliarden Euro niedriger ausfallen als bei einer Fortsetzung der aktuellen Entwicklung.
Auch dies hat mit der Kritik am deutschen Exportmodell nichts zu tun. Den Kritikern geht es im Wesentlichen darum, dass Deutschland Löhne zahlt, die seiner Wirtschaftskraft angemessen sind, sprich die sich an der Produktivitätsentwicklung orientieren. Dies war in der Vergangenheit nicht der Fall, was sich in der im internationalen Vergleich schwachen Entwicklung der Lohnstückkosten ausdrückt. Auf diesen Umstand geht Prognos aber gar nicht ein. Die Studie ist vielmehr eine einzige Tautologie; das was sie beweisen will, sind reine Selbstverständlichkeiten. Die eigentlichen Probleme werden gar nicht erst untersucht.
Die Studie selbst hat Prognos-Chefvolkswirt Michael Böhmer verfasst. Schaut man in Böhmers Vita, dann sieht man schnell, woher der Wind weht. Sein Schreibtisch steht nicht in Basel, sondern in München, wo Prognos eine Filiale hat. Bereits in früheren Gutachten hat Böhmer für die bayerische Wirtschaft die Feder geführt. Man kennt sich also. Ähnlich wie die Ölindustrie sich „Experten“ hält, die leugnen, dass der Ausstoß von Kohlenwasserstoffen zum Klimawandel beiträgt, hält sich offenbar auch die deutsche Wirtschaft Experten, die leugnen sollen, dass der hohe deutsche Exportüberschuss für den Rest der Welt schädlich ist.
Über so viel „Schrottökonomik“ könnte man ja eigentlich wunderbar schmunzeln, wenn sie nicht genau die Wirkung erzielen würde, die sie auch erzielen soll. Solche Studien werden nämlich über die Medien verbreitet, und bei den meisten Lesern bleibt ja ohnehin nur die Überschrift hängen. Nachfolgend einige Beispiele, die zeigen, mit welcher Überschrift die vorliegende Prognos-Studie in welchem Medium erschienen ist:
- „Jobs für Europa“ (Süddeutsche Zeitung)
- „4,8 Millionen Stellen hängen an der deutschen Wirtschaftsstärke“ (FAZ.NET)
- „Deutschland sichert 4,8 Millionen Jobs in der EU“ (Spiegel online, Welt online, Deutsche Welle)
- „So wichtig ist Deutschland für die EU-Wirtschaft“ (WirtschaftsWoche online)
- „Deutschland sorgt für 4,8 Millionen EU-Jobs“ (Neue Westfälische)
- „Deutsche Industrie schafft Jobs in EU“ (Nürnberger Nachrichten)
- „Deutschland zieht EU mit“ (Nürnberger Zeitung)
- „Studie: Starke deutsche Wirtschaft sichert Wachstum in anderen Ländern“ (Leipziger Volkszeitung, Osterländer Volkszeitung, Dresdner Neueste Nachrichten, Oschatzer Allgemeine Zeitung, Döbelner Allgemeine Zeitung)
- „Deutschlands Nachfrage schafft Jobs“ (Stuttgarter Zeitung)
- „Nachfrage aus Deutschland schafft EU-Jobs“ (Stuttgarter Nachrichten)
- „Deutschland sichert Millionen Jobs in der EU“ (Sächsische Zeitung)
- „Studie: Deutsche Wirtschaft sichert 4,8 Millionen Jobs in der EU“ (Münchener Merkur, Passauer Neue Presse, Aachener Nachrichten, Aachener Zeitung)
- „Freundliche Nachbarschaftshilfe“ (Neue Osnabrücker Zeitung, Delmenhorster Kreisblatt)
- „Deutschland sichert fünf Millionen Jobs in Europa“ (B.Z.)
- „Deutschland sichert Jobs in der EU“ (Bayerische Rundschau, Fränkischer Tag, Coburger Tageblatt, Saale-Zeitung, Magdeburger Volksstimme)
- „Deutsche Wirtschaft sichert viele Jobs in EU“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung, Leine-Zeitung Garbsen/Seelze)
- „Deutsche Wirtschaft sichert 4,8 Millionen Jobs in Europa“ (Schwäbische Zeitung)
- usw.
[«*] Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.