Klammheimlicher Boykott gegen VW – eine erhellende Umfrage
Wir wissen bisher relativ wenig über das aktuelle Urteil der Bürgerinnen und Bürger zum VW-Abgasskandal. VW hat selbst repräsentative Befragungen in Auftrag gegeben, hält jedoch, wie wir von Whistleblowern aus dem VW-Konzern wissen, diese nicht gerade schmeichelhaften Beurteilungen unter Verschluss. Verständlich, aber nicht hinnehmbar für die Öffentlichkeit, die Betroffenen und Ökologie sowie Gesundheit. Deshalb ist eine aktuelle bevölkerungsrepräsentative Befragung vom Forschungsinstitut Quotas (Hamburg) im Auftrag von mir von April 2017 höchst aufschlussreich. Die wichtigsten Befunde und ihre Interpretation. Von Peter Grottian[*].
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Unternehmens- und Staatsversagen: Die Bürger sind nach wie vor stocksauer über die Vertuschung und verantwortungslose Handhabung des VW-Skandals. Die Befragten sollten zunächst nach einer notwendigerweise verkürzten und allgemeinen Schilderung des VW-Abgasskandals Schulnoten vergeben. Die Bundesregierung und VW erhalten die fast gleichschlechten Durchschnittsnoten 4,3 und 4,4, während Umwelt- und Verbraucherverbände mit 3,6 und vor allem die Medien mit 3,3 noch am besten abschneiden. Kurzum: Der VW-Abgasskandal wird als Unternehmens- und Politikversagen gleichermaßen eingestuft. Darauf weisen auch andere allgemeine Fragen hin. 56,4 % sind eher unzufrieden oder vollkommen unzufrieden mit der Aufarbeitung des VW-Skandals. Der Hintergrund: Die Bürger haben eine relativ realistische Einschätzung von der Macht des VW-Konzerns: 75,9 % aller Befragten haben den Eindruck, die Bundesregierung vertrete eher oder überwiegend Unternehmer- statt allgemeiner Bürgerinteressen.
Eindeutige Fehlerdiagnose: Für völlig unakzeptabel halten die Bürger die weitere Vertuschung des Skandals durch Nicht-Veröffentlichung der Ergebnisse der von VW eingesetzten Untersuchungskommission. Die große Mehrheit von 59,8 % lehnt die Nicht-Veröffentlichung ab und fordert eine wirklich unabhängige Untersuchungskommission (84,6 %). Scharf kritisiert wird, dass VW bisher keine Entschädigungen angeboten und die Bundesregierung konstruktive Interventionen oder Moderationen nicht einmal ernsthaft versucht hat.
Weitergehende Konsequenzen: Die Forderungen sind eindeutig, ein Hauch von individuellem Boykott weht, aber das Protestpotential bleibt individuell. Eine überwältigende Mehrheit von 84,6 % votiert für eine Entschädigung der VW-Kunden in Deutschland. Dabei sind die Bürger auch in Abwägung der Unternehmerinteressen weder maßlos noch unverschämt. Sie wären wohl mit 3.000 € zufrieden. Es geht den Bürgern eher um ein glaubwürdiges Symbol für den Schaden, den VW mit atemberaubender Kaltschnäuzigkeit angerichtet und bisher ausgesessen hat. Angesichts der Gewinne von VW wäre ein solcher Entschädigungsbeitrag auch leistbar – und bliebe weit unter den amerikanischen Entschädigungsmodalitäten (ca. 7 Mrd. €). Für einen solchen Aushandlungsprozess wäre mutmaßlich ein Runder Tisch des Bundeswirtschaftsministers und des Bundesverkehrsministers mit der Automobilindustrie, den Geschädigtenvertretern, Gewerkschaften sowie Umwelt- und Verbraucherverbänden geeignet, konsensfähig und gewollt (77,6 % dafür).
Individueller Boykott statt Protest? Die Gretchenfrage aber, ob die Bürger so unzufrieden sind, dass sich aus dem VW-Abgasskandal ein echter gesellschaftlicher Konflikt entwickeln könnte, muss zur Zeit vorerst mit einem NEIN beantwortet werden. Laut Statistik des Kraftfahrzeugbundesamtes bekam VW von Januar bis Mai 2017 zwar den Rückgang der Absatzzahlen bei PKW in Deutschland deutlich zu spüren (-3,6 %), konnte aber vor allem mit dem Absatz in China seine Bilanzen retten. Der Unmut kocht vor allem bei denjenigen hoch, die direkt vom VW-Abgasskandal betroffen sind und denjenigen, die Gründe angeben, einen VW in nächster Zeit nicht kaufen zu wollen. Für 47,9 % kommt der Kauf eines VW-Autos nicht in Frage – und als ausschlaggebenden Grund geben sage und schreibe 48,2 % den VW-Abgasskandal an. Von den VW-Besitzern wollen sich mutmaßlich 21,4 % jetzt gegen einen VW entscheiden – ein Befund, der die VW-Verantwortlichen alarmieren müsste. Von wegen – die Bürger haben alles schnell vergessen und nehmen unternehmerische und politische Verantwortung nicht ernst. Bei den Kunden, deren Fahrzeug vom VW-Abgasskandal betroffen ist, liegt dieser Anteil mit 32,6 % noch höher – mit der methodischen Einschränkung, diesen Befund wegen der geringeren Stichprobe nur als Trend auszuweisen. Das macht verständlich, warum die Bürger insgesamt dem Protestmittel des Boykotts aufgeschlossen gegenüberstehen. 53,7 % befürworten für eine Demokratie das Protestmittel Boykott und immerhin 60,4 % würden einen befristeten Boykottaufruf gegen VW befürworten. Aber zwischen „Fordern“ und „Machen“ bestehen zuweilen Welten und nur ein größeres Bündnis von Verbraucherverbänden, Ökologieinitiativen und der Öffentlichkeit wäre in der Lage, eine gewisse Gegenmacht zu entwickeln. Dazu ist es aber bisher nicht gekommen, u. a. auch, weil die Gewerkschaften sich wie eine Laienspielerschar haben in das Machtkartell einfügen lassen.
Kessel brodelt: Die strukturelle Komplizenschaft von Politik und VW hat den gesellschaftspolitischen Konflikt durch Beschweigen, Umleiten und Aussitzen noch unter Kontrolle – mit dem Befund der repräsentativen Befragung, dass die Bürger es als eine Zumutung empfinden, einen solchen Skandal aushalten zu müssen – und noch eher bislang den Weg des eher leisen, individuellen Protests gehen. Angesichts der offenkundigen qualitativen Ausbreitung des Abgasskandals auf Porsche, Audi und Mercedes Benz sowie ausländische Anbieter könnte das die Glut unter der Asche erneut anfachen. Merkel und Schulz haben dazu nach wie vor nichts zu sagen. Sie müssen ja auch nicht, solange der Protest klammheimlich bleibt und der Legitimationsdruck nicht anschwillt.
[«*] Peter Grottian, Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Mitinitiator eines VW-Boykottaufrufs (vwboykott.com)