Wie alles anfing – Zum Verhältnis von 2. Juni 1967 und Deutschem Herbst 1977
Heute vor 50 Jahren starb der Student Benno Ohnesorg durch die Kugel eines Polizisten. Aus Anlass des 40. Jahrestages dieses Mordes entstand der folgende Text. Er stammt also aus dem Jahr 2007. Er erschien damals in einer „Jubiläumsausgabe“ der Gießener Alternativzeitung „Elephantenklo“, die zwanzig Jahre zuvor ihr Erscheinen eingestellt hatte. Der Text scheint mir nach wie vor aktuell und die in ihm getroffenen Aussagen stimmen im Wesentlichen auch zehn Jahre später. Von Götz Eisenberg[*].
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Zwei Ergänzungen müssen allerdings erfolgen: Dass der „islamistische Terror“ Deutschland bisher verschont hat, lässt sich nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt nicht mehr sagen. Als im Jahr 2009 bekannt wurde, dass der Polizist Kurras, der Ohnesorg völlig unbedrängt und aus geringer Distanz in den Kopf geschossen hatte, für die Stasi gearbeitet hatte, meinten einige, dass die Geschichte der Studentenrevolte umgeschrieben werden müsse. Selbst ehemalige Linke behaupteten nun, Benno Ohnesorg sei im Auftrag des MfS getötet und die Bewegung insgesamt von der DDR gelenkt worden. Für die These vom Auftragsmord gibt es indessen keine Belege. Kurras war ein alter Nazi, der angesichts rebellierender Studenten die Kellerratten der Revolution aus der Tiefe herausdrängen sah. Im Bann alter Affektmuster und Vorurteile glaubte er, handeln zu müssen. Mit den Stasi-Honoraren soll er seinen kostspieligen Waffenfetischismus finanziert haben.
Auch im Jahr 2017 droht die Erinnerung an die Ereignisse um die RAF im Jahr 1977 diejenige an die Ermordung Benno Ohnesorgs im Jahr 1967 zu überlagern. Dabei fing mit diesem von einem Polizisten begangenen Mord „alles an“, wie Bommi Baumann seine Erinnerungen überschrieb. Die Tat des Polizisten Kurras raubte der noch recht naiven linken Opposition ihre Unschuld und wurde zum Auslöser einer Radikalisierung, die dann irgendwann auch die RAF hervorbrachte. Aus den Biographien von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin ist bekannt, dass der Tod von Benno Ohnesorg für sie ein einschneidendes Ereignis war. Endlich sei es mit der „falschen Harmonie“ vorbei, schrieb Ulrike Meinhof. Und Gudrun Ensslin soll am Abend nach dem Mord auf einer spontanen Versammlung gesagt haben, man müsse nun den Widerstand gegen diesen Staat organisieren, Gewalt könne nur mit Gewalt beantwortet werden. Horkheimers berühmtes Diktum abwandelnd könnte man sagen: Wer über die Ermordung Benno Ohnesorgs nicht reden will, sollte auch von der RAF schweigen!
Es liegt wahrscheinlich daran, dass die Zahl 50 im Jubiläumsabstand zum 2. Juni 1967 vorkommt und die 40 zum Deutschen Herbst “sticht”, dass dieses Mal die Ermordung Ohnesorgs nicht komplett übergangen wird. Obwohl auch dieses Jahr bereits die approbierten RAF-Kommentatoren in Talkshows auftraten: Stefan Aust und Gerhard Baum waren zum Beispiel Ende April in der Sendung Lanz zu Gast. Und man kann schon ahnen, was im Herbst noch alles auf uns zukommen wird. Es gab bisher zwei erwähnenswerte und erstaunlich gute Dokumentationen zum Mord an Benno Ohnesorg: Die ARD zeigte den Dokumentarfilm Wie starb Benno Ohnesorg von Margot Overath und Klaus Gietinger und am 16. Mai lief auf Arte der Film Benno Ohnesorg – Sein Tod und unser Leben.
Nun aber zu meinem Text aus dem Jahr 2007.
„Der Revolutionär dient der Sache, das Mittel heiligt die Ziele. Und das Mittel verselbständigt sich und wird zum Ziel, und das Ziel krepiert. Man stampft auf ihm herum und sagt, man hat es erreicht.“
(Manès Sperber)
„Die Freunde, die hier sich trafen und umarmten, sind fort,
Jeder zu seinen eigenen Fehlern.“
(W. H. Auden)
Dieser Tage bricht eine wahre Erinnerungslawine über uns herein. Die 30. Wiederkehr des Deutschen Herbstes 1977 wird medial groß in Szene gesetzt, um – wie es heißt – der Opfer des Terrorismus zu gedenken. Eigentlich sind 30 Jahre kein traditioneller „Jubiläumsabstand“ wie 10 oder 50 Jahre. Wieso also diese Medienpräsenz des Linksterrorismus in diesem Jahr? Öffentliche Erinnerung wird von gesellschaftlichen Bedürfnissen gesteuert und reguliert, und gegenwärtig scheint ein virulentes Interesse daran zu bestehen, sich mit der Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ und der von ihr begangenen Verbrechen zu beschäftigen. Aber neben den offiziell proklamierten Motiven für diese Auseinandersetzung existieren noch andere, unausgesprochene. Noch einmal möchte man die 68er Revolte in Bausch und Bogen für den Terror der RAF verantwortlich machen und die Gesellschaft in Panik versetzen, um sie gegen ihre eigenen besseren Möglichkeiten zu immunisieren. Dabei ist es ein Gespenst, das da umgeht und beschworen wird, denn realiter hatte sich die RAF 1998 endgültig für aufgelöst erklärt. Die Blutspur, die sie durch die Geschichte der Bundesrepublik gezogen hatte und die 1970 mit der Baader-Befreiung begann, endete 1993 auf einem Bahnsteig in Bad Kleinen.
Leider gehen inzwischen auch ehemalige Linke mit der These hausieren, das Wesen der antiautoritären Revolte sei in der RAF zur Erscheinung gekommen und zur Kenntlichkeit gebracht worden. Dass die RAF ein Zerfalls- und Spaltprodukt der Revolte ist, kann und soll nicht bestritten werden. Die Revolte hatte die unterschiedlichsten Intentionen für knapp zwei Jahre in sich gebündelt und zu einer gemeinsamen Praxis vereint, die sich dann nach 1969/70 wieder entmischten und gegeneinander verselbständigten. Die RAF ist dabei genauso entstanden wie die K-Gruppen, die Spontis, die Frauenbewegung und der Psycho-Boom; Produkte der Revolte sind die Grünen, Kinderläden, die taz, Naturkostläden und Frauenhäuser. Die Geschichte der Revolte auf die Vorgeschichte der RAF zu verkürzen, ist genauso töricht, wie Auschwitz zur Inkarnation der abendländischen Vernunft zu erklären, was ja unter dem Einfluss gewisser französischer Philosophen auch einmal eine Weile im Schwange war. Wer das ambivalente und mitunter laxe Verhältnis der Revolte zum Thema Gewalt für die Entstehung der RAF verantwortlich macht, sollte auch die überzogenen, harten Reaktionen des Staates auf die anfangs noch recht harmlosen Regelverstöße der APO und deren Anteil an ihrer Radikalisierung in sein Kalkül einbeziehen.
Der Deutsche Herbst 1977 begann eigentlich bereits im Frühjahr, als Generalbundesanwalt Buback erschossen wurde, und gipfelte in der Entführung und Tötung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, der Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu und der Selbsttötung der ersten RAF-Generation, bestehend aus Baader, Ensslin und Raspe, in Stammheim. Ulrike Meinhof hatte sich bereits im Jahr zuvor das Leben genommen, nachdem ihr wohl bewusst geworden war, dass der Versuch, das „Konzept Stadtguerilla“ von Lateinamerika nach Europa zu übertragen, gescheitert war, wie hoffnungslos sich die RAF in ihre eigene Militanz entfremdet hatte und wie weit sie sich dadurch von der Mehrheit der Bevölkerung entfernt hatte. Der „bewaffnete Kampf“ hatte seine eigene Dynamik entfaltet und dabei moralische Erwägungen über Bord geworfen. Die Durchtrennung des Bandes zwischen Gewalt und Vernunft hatte dazu geführt, dass die RAF auch innerhalb der Linken mehr und mehr an Unterstützung einbüßte und sich isolierte. Marcuse, Negt, Dutschke, Böll, Brückner und andere hatten Theorie und Praxis der RAF zeitig einer heftigen Kritik unterzogen, sich im Namen ehemals gemeinsamer Ziele von der Praxis des bewaffneten Kampfes in den westlichen Metropolen distanziert und die RAF zur Umkehr aufgefordert.
Man hätte im Jahr 2007 auch den 2. Juni zum Anlass des Gedenkens nehmen können, an dem vor 40 Jahren der 26-jährige Theologiestudent Benno Ohnesorg erschossen wurde. Hier und da wurde an dieses Ereignis erinnert, aber das war nichts im Vergleich zur medialen Mobilmachung, die wir jetzt erleben. Mit den Schüssen des Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras, der – ohne in Bedrängnis zu sein – das Feuer eröffnete und später auch noch vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen wurde, fing tatsächlich alles an. Alles andere ergibt sich, wenn man so will, aus dieser Tötung eines unbewaffneten und zu jeder Gewalt unfähigen Studenten, der an jenem Abend friedlich gegen die Anwesenheit des Schahs von Persien in Berlin und dessen Terrorherrschaft im Iran protestieren wollte. Uwe Timm hat seine Erinnerungen an den einstigen Freund und Mitschüler in dem Buch Der Freund und der Fremde festgehalten, das jedem zur Lektüre empfohlen sei, der wissen möchte, wer dieser Benno Ohnesorg war, wie er gelebt und gedacht hat.
Ohne die Schüsse des Polizisten Kurras hätte es möglicherweise gar keinen Deutschen Herbst gegeben. In diesem Moment verlor die Bewegung ihre Unschuld und wurde eigentlich auch erst jetzt zu einer Bewegung, die über die Grenzen von West-Berlin hinaus Massen junger Leute im Bundesgebiet zu mobilisieren vermochte. Die Bewegung verlor ihre Unschuld meint auch, dass sich ab jetzt starke Zweifel gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Polizei breit machten und immer weniger junge Leute davon überzeugt waren, dass sich in einer Demokratie alle und alles dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu beugen habe. Nicht umsonst ereignete sich bei der Trauerfeier für Benno Ohnesorg jener berühmte Zusammenstoß zwischen Jürgen Habermas und Rudi Dutschke, als jener diesem wegen seines Plädoyers für den aktiven Widerstand und „direkte Aktionen gegen die etablierte Ordnung“ vorwarf, einem „linken Faschismus“ das Wort zu reden.
Die Gewaltfrage hat zu Beginn das herrschende System selbst auf die Tagesordnung gesetzt und sie zu einer für die Studentenbewegung höchst praktischen Frage gemacht. Als dann Ostern 1968 der Malergehilfe Josef Bachmann, von der monatelangen Hetze der Bild-Zeitung angestachelt, aus München anreiste und auf Rudi Dutschke schoss, hatten die Verfechter der Gewaltlosigkeit einen immer schwereren Stand. Die Verhältnisse selbst nötigten einer anfangs beinahe naiv und blauäugig agierenden und demokratisch denkenden und argumentierenden Bewegung einen Lernprozess auf, der sich so beschreiben lässt: Wenn an dem dünnen Firnis demokratisch-rechtsstaatlicher Verkehrsformen gekratzt und das herrschende System, wie partiell auch immer, in Frage gestellt wird, kommt, wie Kai aus der Kiste, die Gewalt hervor. Als Kern des bürgerlichen Friedens wurde die permanente Kriegsdrohung erkennbar. Die manifeste Gewalt kann sich im bürgerlichen Alltag in die Kulissen der Institutionen zurückziehen und „strukturell“ werden, bleibt aber stets in Reserve. Eine Desillusionierung fand auch im Bezug auf die anfangs idealisierte westliche Demokratie statt, die sich der Bewegung nun als die dem hemmungslosen Geldverdienen günstigste Herrschaftsform erschloss, die das Privateigentum vor den Menschen sehr stark, den Menschen vor dem Privateigentum hingegen nur sehr dürftig oder gar nicht schützt.
Staatliche Überreaktionen auf studentische Proteste bewirkten eine Radikalisierung der Bewegung, in der Auseinandersetzung mit der Militanz des Staates wird die Bewegung selber militant. Im Sommer 1967 traf man sich im Audimax der Freien Universität in Berlin, um Herbert Marcuse zuzuhören, der am Schluss eines Vortrags über „Das Problem der Gewalt in der Opposition“ unter Beifall ausrief: „Und selbst wenn wir noch keine Änderung sehen, müssen wir weitermachen; müssen wir widerstehen, wenn wir noch als Menschen leben, arbeiten und glücklich sein wollen. Im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr.“
Warum fällt die Wahl des staatlich und medial inszenierten Gedenkens in diesem Jahr auf den Deutschen Herbst und nicht auf den 2. Juni? Weil man die Gesellschaft nachträglich noch einmal gegen die Gefahr des gewaltsamen Umsturzes mobil machen möchte. Dabei schieben sich, wie bei einem mehrfach belichteten Foto (so etwas kam früher gelegentlich vor), verschiedene Formen des Terrorismus übereinander: Der „bewaffnete Kampf“ der RAF aus den 70er Jahren, der islamistische Terror seit dem 11.9.2001 und ein sich möglicherweise in Zukunft radikalisierender Widerstand gegen die Folgen der Globalisierung und Umweltzerstörung. Da Deutschland (trotz Kofferbomben und den von den kürzlich im Sauerland Verhafteten möglicherweise geplanten Anschlägen) im Vergleich zu den USA, England und Spanien vom islamistischen Terror bislang weitgehend verschont geblieben ist, lässt sich ein gesetzgeberischer Ausnahmezustand und ein neuerliches Drehen an der sicherheitspolitischen Schraube durch ihn allein schwerlich rechtfertigen. Also wird noch einmal die RAF bemüht, um alle möglichen Gesetzesvorhaben durchzupauken und den Umbau des demokratischen Rechtsstaats in den präventiven Sicherheitsstaat voranzutreiben. Dazu hatte sie in den 70er Jahren bereits einmal gedient, als man serienweise Gesetze verschärfte, die Rechte der Verteidigung beschnitt und die Zwangsmittel der Polizei ausbaute. An eine vom Schrottplatz der Geschichte geholte Lokomotive mit der Aufschrift „RAF“ sollen jetzt noch einmal viele, viele Güterwaggons angehängt werden, voll beladen mit allen möglichen neuen Paragraphen und sicherheitspolitischen Vorhaben, die überwiegend mit Terrorismusbekämpfung wenig oder gar nichts zu tun haben, sondern das schier grenzenlose Kontrollbedürfnis des Staates befriedigen und die Bürger im Namen der Sicherheit ihrer Freiheitsrechte berauben. Ein vom Denken der Studentenrevolte, also von Agnoli, Brückner, Marcuse und Krahl geschärfter „böser Blick“ auf die von Innenminister Schäuble, Beckstein und anderen geplanten Maßnahmen wird in ihnen Instrumente einer „präventiven Konterrevolution“ (Herbert Marcuse) erkennen. Heute schon möchte man Vorkehrungen gegen zukünftige organisierte Ausbruchsversuche der Massen aus dem System treffen. Man will gewappnet sein, wenn dereinst die Massenloyalität bröckelt und die aus dem System des losgelassenen Marktes Herausgefallenen und Überflüssigen sich daran begeben, den „Wahnsinn der rasenden Industrie“ (Max Horkheimer) zu stoppen und diese in eine neue und wahrhaft solidarische Gesellschaftlichkeit einzubinden. Auf die selbst produzierte Lockerung der inneren Selbstzwänge und den antizipierten Schwund der Massenloyalität antwortet der Staat mit der Militarisierung der inneren Sicherheit. Immer offensichtlicher werden Ghettos produziert, in denen sich die Erniedrigten und Beleidigten sammeln, deren Unterdrückung immer weniger aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital herrührt, sondern aus Erfahrungen von Ausschluss und Überflüssigkeit, die irgendwann zu blinder Wut werden und sich raptusartig entladen können.
Man macht der RAF schließlich noch einmal den Prozess, weil sie gegenwärtig sehr viel mehr Sympathien auf sich zieht als zu der Zeit, da sie agierte, wobei diese Sympathien teilweise von trüben Quellen dumpfen kleinbürgerlicher Ressentiments gespeist werden. Unlängst sagte der Metzger, bei dem ich seit Jahrzehnten auf dem Wochenmarkt meine grobe Bratwurst kaufe, unvermittelt zu mir: „Die Baader-Meinhof-Gruppe war 30 Jahre zu früh. Heut bräuchten wir Leute wie die!“ Damals gehörte er zu denen, die die Stammheimer Gefangenen am liebsten „an die Wand stellen“ wollten. Die RAF bevölkert inzwischen die Rachephantasien des von Konkurrenz- und Verlustängsten umgetriebenen und durch die sozialen Umbrüche der Gegenwart verunsicherten „kleinen Mannes“ und verschafft ihr nachträglich so etwas wie die ehemals vergeblich ersehnte Resonanz. Um den Leuten diese aufkeimenden Sympathien auszutreiben und sie bei der Stange der herrschenden Realität zu halten, werden ihnen massiv die Bilder des von der RAF verbreiteten Schreckens noch einmal vor Augen geführt.
Zur Ehrenrettung der Erinnerungskampagne sei angemerkt, dass sie in ihren aufklärerischen Varianten (zum Beispiel beim damaligen Staatssekretär und späteren Innenminister Gerhart Baum) auch ein Element von Schuldeingeständnis und später Wiedergutmachung enthält und transportiert. Schuldgefühle darüber, dass man in maßloser Überschätzung der terroristischen Bedrohung der Bundesrepublik und ihrer staatlichen Ordnung durch eine Handvoll zu allem entschlossener Desperados glaubte, hart bleiben zu müssen und den Forderungen der Entführer nicht nachgeben zu dürfen. Der Krisenstab unter der Führung von Helmut Schmidt hätte die Gefangenen freilassen und das Leben Schleyers retten können, wie man es zwei Jahre vorher im Falle des entführten Peter Lorenz getan hatte. Stattdessen beschwor Kanzler Schmidt die Gefahr ständig neuer Erpressungsversuche und neuen Blutvergießens, das dann ja auch trotz (oder vielleicht sogar wegen) der gezeigten Unnachgiebigkeit die nächsten 15 Jahre noch stattfand und mit dem Tod Schleyers und der Stammheimer Häftlinge ja bereits einsetzte. Aus der Distanz von 30 Jahren setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass ein seiner freiheitlich-demokratischen Identität sicheres Gemeinwesen sich nichts vergeben hätte, nachzugeben, um das Leben eines seiner Repräsentanten zu retten. In Uwe Wesels Buch Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen (München 2002) heißt es abschließend zu diesem Thema: „Wofür ist Hanns Martin Schleyer geopfert worden? Die Antwort ist leider eindeutig: für die Staatsraison, ein imaginäres Gebilde aus längst vergangenen Zeiten, das einer freiheitlichen Demokratie und Bürgern mit aufrechtem Gang fremd sein sollte.“ In diesem Sinne wäre es ein deutliches Zeichen gewesen, wenn man den 2. Juni 1967 ins Zentrum der erinnernden Aufmerksamkeit gerückt hätte. Es wäre das einer demokratischen Gesellschaft angemessene Eingeständnis, dass staatliche Überreaktionen und pure Härte am Anfang einer Entwicklung standen, die schließlich den Terrorismus und den Deutschen Herbst hervorgebracht hat.
[«*] Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er im Herbst 2016 unter dem Titel: »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.