Merkels „Geheimplan“ ist vermutlich vor allem ein cleverer Wahlkampftrick

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Selbst in einer kleinen Redaktion wie jener der NachDenkSeiten gibt es gelegentlich Meinungsunterschiede. Das ist selbstverständlich. Einige von Jens Bergers im Artikel Merkels Geheimplan – sind wir Zeugen einer historischen Zeitenwende? vom 29. Mai geäußerten Vermutungen teile ich nicht. Es gibt aus meiner Sicht eine wesentliche und einfache Erklärung für Angela Merkels Distanzierung von Trump, die im Münchner Bierzelt sichtbar wurde. Spontan fallen einem drei Gründe dafür ein, dass ihr Vorstoß vor allem dem Wahlkampf dient. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  1. Merkel nutzt den virulenten Antiamerikanismus, den es in Deutschland gibt. Sie gewinnt die Kritiker – aus der Friedensbewegung wie auch die Kritiker im rechten Lager. Und sie zwingt damit nicht einmal die vielen, oft unpolitischen US-Anhänger in die Konfrontation, weil ihre Gegnerschaft ja den Trump-USA gilt, und nicht dem gesamten, nicht dem „guten“ Amerika. Die Fotos und Filmchen vom Evangelischen Kirchentag mit Merkel und Obama machen das sichtbar.
  2. Merkel bedient den nationalen Stolz. Deutschland als „Hegemonialmacht“ in Europa, Merkel als Führerin dieser Hegemonialmacht – Donnerwetter, das ist doch was. Damit hält sie auch frühere CDU/CSU Anhänger vom Wechsel zur AfD ab.
  3. Merkel spielt sich damit vier Monate vor dem Wahltermin voll in die Mitte der Debatte. Sie wird zur absoluten Meinungsführerin. Sie nutzt dafür einen Konflikt, im konkreten Fall mit den Trump-USA, sie zeigt, wo’s langfristig langgehen soll. Konflikte anheizen, Meinungsführerschaft, Emotion, langfristige Orientierung anbieten – das sind wesentliche Bedingungen für einen Wahlerfolg. (Siehe dazu am Ende des Textes die schon einmal verwandte Übersicht über die Bedingungen eines Wahlerfolges)

Andere Erwägungen in den Interpretationen von Angela Merkels Vorstoß im Spiegel, in der FAS wie auch auf den NachDenkSeiten sind meines Erachtens nicht besonders schlüssig. Dazu noch einige ergänzende Anmerkungen:

  1. Dass Angela Merkel eine neue „geostrategische Doktrin“ in Szene setzt, die zugleich ein Stück Loslösung von den USA bedeutet, ist sehr unwahrscheinlich. Angela Merkel ist persönlich eng mit den USA verbunden. Sie wird von einem bemerkenswert großen Teil der USA, sichtbar beim Auftritt von Obama beim Evangelischen Kirchentag, ohne Vorbehalt und überschwänglich unterstützt. Mit den USA jenseits von Trump und mit der US-geführten NATO und vermutlich auch mit dem größeren Teil der US-Administration versteht sich Merkel bestens.
  2. Der Konflikt mit den, genauer gegen die „Trump-USA“ könnte sogar abgesprochen sein, Merkel könnte auf diese Weise wenigstens ein bisschen helfen, Trump weiter zu isolieren und ihn am Ende loszuwerden. Merkels Vorstoß macht es möglich, dass die Washington Post und die New York Times den Konflikt hochspielen, und Letztere von „tektonischer Verschiebung“ sprechen.
  3. „Hegemonialmacht in Kontinentaleuropa“ – wie soll das denn gehen? Dominanz in der NATO – wie das denn? Die USA beherrschen die Politik und die militärischen Operationen der NATO. Sie stellen den obersten militärischen Führer. Ist Generalsekretär Stoltenberg von der NATO der Mann Europas oder der Mann der USA? Haben Deutschland und die Europäer die Mehrzahl der Truppen an die russische Grenze geschickt und damit (angeblich) den Balten und den Polen das Gefühl der Sicherheit gegeben? Wer hat damit angefangen? Genießt Deutschland oder die USA das Vertrauen der baltischen Staaten und anderer Staaten in Osteuropa und Südosteuropa? Wer hat denn 5 Milliarden Dollar in den Regime Change in der Ukraine investiert? Frau Merkel hat in Klitschko investiert, die USA in den jetzigen Präsidenten.
  4. Und der Einfluss der USA und der Atlantiker auf europäische Medien und sonstige „Eliten“, vor allem auch auf die deutschen? Ist der plötzlich weg? Haben die USA ihre Finger aus der Europäischen Kommission zurückgezogen, nur weil Trump verrücktspielt? Und die Geheimdienste und ihre Kooperation? Von keiner Relevanz?
  5. Und die Kriege im Nahen und mittleren Osten und in Afrika? Die werden jetzt unabhängig von den USA von Europa geführt? Und die Militärbasen der USA in Europa, in Deutschland, im Kosovo, in der Türkei, in Italien – alles verschwunden? Drohneneinsatz über Ramstein und Militär-Kommandos aus Stuttgart und Wiesbaden – das übernehmen wir dann übermorgen? Da ist so viel Unausgegorenes im Spiel, dass schon deshalb Spekulationen unterlassen werden sollten.
  6. „Donald Trump wird womöglich als der Präsident in die Geschichte eingehen, der die Vormachtstellung der USA in Zentraleuropa nach 70 Jahren aufs Spiel gesetzt und verloren hat“ – Diese Einschätzung von Jens Berger kann ich nicht nachvollziehen. Was wir zurzeit erleben, ist ein Zwischenspiel im inner-US-amerikanischen Machtkampf. Wenn der so oder so beendet ist und der Wahltermin in Deutschland hinter uns liegt, dann wird die Welt ganz anders aussehen und Angela Merkel wird keine derartigen Bierzeltreden mehr halten und die FAS und der Spiegel werden auch solche Artikel nicht mehr schreiben wie die oben verlinkten.
  7. Es gibt eine große Macht im Hintergrund, die sich angesichts der losgetretenen Debatte über die eigenständige Hegemonialmacht Europa bzw. Deutschland die Hände reiben kann: die Rüstungswirtschaft. Sie profitiert von den proklamierten Großmachtzielen Deutschlands und Europas. Niemand redet mehr von Abrüstung, alle von Aufrüstung. Niemand redet vom Ende der NATO, jetzt reden wir quasi von zwei militärischen Organisationen – das füllt die Auftragsbücher. Niemand redet von der Beendigung des neu aufgebrochenen West-Ost-Konfliktes mit Russland. Er soll unter neuer Führung behandelt werden.

Unabhängig von dieser Einschätzung der aktuellen Verhältnisse muss es das Ziel unseres Landes und Europas sein, sich aus den Fängen der USA zu befreien. (Siehe dazu meinen Beitrag vom 12. April 2017). Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesem Ziel und der Einschätzung der aktuellen Debatte.

Anlage:

Die Gründe für den Wahlerfolg der SPD 1972 sind auf heute ohne große Abstriche übertragbar, selbstverständlich auch auf Angela Merkel und die CDU/CSU. Die folgenden mit den Seitenzahlen markierten Gründe werden von Angela Merkel bestens beachtet: 144,148,150,180, 181:

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!