Ein Blick nach Großbritannien zeigt der SPD, wie (nicht nur) Wahlkampf geht
Als Großbritanniens Ministerpräsidentin May Mitte April Neuwahlen ausrief, stellte niemand ernsthaft in Frage, dass die konservativen Tories die Wahlen deutlich gewinnen würden. Mit einem damaligen 25-Punkte-Vorsprung vor Labour war alles andere als ein Erdrutschsieg kaum vorstellbar. Doch es kam anders. Von den 25 Punkten Vorsprung sind in gerade einmal sechs Wochen bis heute 20 Punkte aufgezehrt. Projektionen, basierend auf den aktuellen Umfragen, deuten sogar darauf hin, dass die Tories ihre Mehrheit im Unterhaus verlieren. Der linke, von den Medien gehasste Labour-Chef Jeremy Corbyn hat bereits jetzt geschafft, was ihm kaum wer zugetraut hat und könnte in anderthalb Wochen sogar für eine Sensation sorgen. Dagegen wirkt der SPD-Kandidat Schulz noch blasser als er ohnehin schon ist. So kann es gehen, wenn man die Verpackung mit dem Inhalt verwechselt und denkt, der Wähler sei zu dumm, dies zu bemerken. Von Jens Berger.
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Zumindest in einem Punkt ist die SPD eine echte „Volkspartei“ – ihre schlechten Umfragewerte verteilen sich erstaunlich harmonisch über alle demoskopischen Merkmale hinweg: Egal ob die Befragten jung oder alt, arm oder reich sind, keinen Schulabschluss haben oder auf der Uni waren – die SPD liegt bei rund 25%. Bereits hier zeigt sich ein maßgeblicher Unterschied zur britischen Labour Party. Die liegt nämlich vor allem bei den jungen Wählern mit 69% der Stimmen um Längen vor den Konservativen, die bei 12% liegen. Zum Vergleich – die konservative CDU liegt in Deutschland bei den Jungwählern mit 39% sogar noch einen Prozentpunkt über dem Ergebnis in der Gesamtbevölkerung. Dürften in Großbritannien nur die „Unter-50-Jährigen“ wählen, wäre Labour der unangefochtene Wahlsieger. Die 66%, die die Tories bei den Über-65-Jährigen wohl bekommen werden, stellen das Ergebnis jedoch auf den Kopf. Und da es auch in Großbritannien deutlich mehr Alte als Jungwähler gibt, wird es für Corbyn und Labour am 8. Juni auch trotz Aufholjagd sehr schwer, die Wahlen zu gewinnen.
Das liegt auch am Mehrheitswahlsystem. Um überhaupt eine eigene Mehrheit zu bekommen, müssten sowohl Labour als auch die Tories schon mit mindestens sieben Punkten Vorsprung gewinnen. Zu den beiden großen Parteien kommen nämlich noch eine gute Handvoll Mandate für die Liberaldemokraten und 70 bis 80 Mandate für die Regionalparteien. Alleine die Scottish National Party wird wohl fast alle 59 schottischen Wahlkreise gewinnen. Interessant und unvorhersehbar sind daher vor allem die Wahlergebnisse, bei denen es ein „Hung parliament“, also ein Unterhaus ohne absolute Mehrheit einer einzigen Partei gibt. Da sind dann alle Szenarien, inklusive Neuwahlen, denkbar. Eine absolute Mehrheit der Tories zu verhindern, und genau dies wäre bereits bei den momentanen Umfrageergebnissen der Fall, wäre für Jeremy Corbyn aber bereits ein historischer Sieg.
Wir erinnern uns. Corbyn war als Parteivorsitzender von Labour eigentlich eine Art Betriebsunfall. Die von Blair und Brown stramm auf Neoliberalismus geformte Partei experimentierte Ende 2015 mit einer Urwahl des Parteivorsitzenden und die Basis wählte keinen der angepassten Vorzeigekandidaten, sondern den linken, oft leicht kauzig wirkenden Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden. Dessen linker Esprit begeisterte vor allem junge Menschen, die fortan massenweise in die Partei eintraten. Um Corbyn loszuwerden, putschte nahezu das gesamte Parteiestablishment, doch der Parteivorsitzende konnte sich völlig überraschend dank der Rückendeckung durch die Parteibasis behaupten. Der Machtkampf der letzten „Blairisten“ hatte der Partei jedoch massiv geschadet. Zum Höhepunkt der parteiinternen Auseinandersetzung stand Labour in den Umfragen nur noch auf einem SPD-Wert von vernichtenden 25%.
Den Machtkampf haben die „Blairisten“ freilich nie aufgegeben, sie haben nur die Taktik angepasst und spekulierten fortan auf eine möglichst vernichtende Niederlage bei den nächsten Wahlen. Als Theresa May im April Neuwahlen ausrief, war das auch für das neoliberale Parteiestablishment von Labour ein Signal – wartet noch ein paar Wochen, nach den Wahlen Anfang Juni wird Corbyn ohnehin nicht mehr zu halten sein. Auch dies hat sich offenbar als Irrtum herausgestellt.
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Corbyn tat das, was er am besten kann. Er blieb er selbst und ließ sich im Wahlkampf vor allem von seinen Anhängern in den Sozialen Medien und auf der Straße unterstützen, während die klassischen Medien ihn nach wie vor mit teils absurden Kampagnen attackieren – so wurde beispielsweise vom Express vermeldet, dass ein Wahlsieg Corbyn die Hoffnungen aller Briten zerstören würde, die einen Partner suchen.
Zum Glück scheinen diese Kampagnen wirkungslos zu verpuffen. Das einzige „TV-Duell“ (da Theresa May eine echtes Duell aus gutem Grund ablehnte, wurden die beiden einzeln befragt) hat Corbyn sogar laut den zähneknirschenden Eingeständnissen der politischen Konkurrenz klar gewonnen und auch ansonsten wirkt der Mann, der sonst von den Medien als Ewiggestriger, Dinosaurier, Radikalinski und Wirklichkeitsverweigerer bezeichnet wird, erstaunlich professionell. Selbst Gegner müssen einwenden, dass Corbyns Wahlprogramm durch die vorhergesehene Erhöhung des Spitzensteuersatzes zumindest seriös gegenfinanziert ist, während Theresa Mays Programm einem Wünsch-Dir-Was-Spiel ohne einen einzigen ernstzunehmenden Finanzierungsansatz gleicht.
Corbyn punktet jedoch auch und vor allem in den „neuen Medien“ und dies größtenteils unabhängig von den Wahlkampfmaschinen der Partei. In Zusammenarbeit mit der NGO „People´s Assembly Against Austerity“ veröffentlichte die bis dahin unbekannte Band „Captain SKA“ den Reggae-Song „Liar Liar“ („Lügner Lügner“), der sich auf der Textebene kritisch mit den politischen Lügen der Theresa May auseinandersetzt. Ohne jemals von den großen Radiostationen gespielt worden zu sein, kletterte der Song binnen Stunden auf den derzeit zweiten Platz der britischen Charts. Ganz ehrlich: Können Sie sich vorstellen, dass eine deutsche Band erfolgreich einen Pro-Schulz-Song einspielt, der nicht nur größtmögliches Fremdschämpotential á la Schulz-Zug hat?
Die Wahlkampfstrategen der SPD verstehen offenbar nicht, dass es nicht auf die Verpackung, sondern auf den Inhalt ankommt. Viele Positivbeispiele der letzten Zeit zeigen, worauf es ankommt: Bernie Sanders, Jean-Luc Melenchon, Jeremy Corbyn … all dies sind eben keine Kandidaten aus dem Casting-Katalog der Agenturen, die frisch geföhnt und 100% PR-kompatibel vorgefertigte Satzfragmente in die Kameras lächeln. Nein. Alle drei Kandidaten eint, dass sie eher spröde und nicht einmal unbedingt charismatisch sind, dafür aber ohne Wenn und Aber zu klassisch linken Inhalten stehen und diese glaubhaft kommunizieren. Die Drei eint auch, dass sie nicht nur gegen den politischen Gegner, sondern auch gegen das „Links-der-Mitte-Parteiestablishment“ und die gesamte klassische Medienlandschaft ankämpfen müssen. Die Drei haben echte Inhalte, vertreten klassisch linke Standpunkte und sind dabei auch noch glaubwürdig. Das unterscheidet sie auch von Werbefiguren á la Martin Schulz. Das ist sicher kein Dünnbrettbohren, aber genau dafür werden diese Kandidaten von ihren Anhängern geschätzt – vor allem von den jungen Wählern.
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Die NachDenkSeiten werden in der nächsten Woche auch noch inhaltlich auf die kommenden Wahlen in Großbritannien zurückkommen und dabei die „deutsche Brille“ auch mal absetzen. Denn auch abseits der üblichen Horse-Race-Berichterstattung birgt der Wahlkampf in UK viele interessante Aspekte, die in Deutschland kaum beachtet werden. Und wer weiß – vielleicht endet dieser Wahlkampf ja sogar mit einer handfesten Sensation?