Die Renaissance der Klassengesellschaft. Ein Interview mit dem Soziologen Prof. Dr. Klaus Dörre über Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland.
„Deutschland geht es gut“ betont Angela Merkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Eine Botschaft, die durchaus auf fruchtbaren Boden fällt. Das kann man in Alltagsgesprächen immer wieder feststellen. Da heißt es dann: „Uns geht’s doch gut“. Deshalb wollten wir dieses Thema einmal gründlicher aufarbeiten. Udo Brandes hat für die NachDenkSeiten mit dem Arbeitssoziologen Prof. Dr. Klaus Dörre (Universität Jena) ein Interview geführt. Es ist interessant und lesenswert – mit vielen Informationen über die soziale Lage im Land und insbesondere über die Konkurrenz der Lohnabhängigen in den Betrieben. Albrecht Müller.
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Prof. Dörre forscht unter anderem über Kapitalismustheorie/Finanzmarktkapitalismus, flexible und prekäre Beschäftigung, Partizipation in Unternehmen und Arbeitsbeziehungen. Im Interview beschreibt er die Arbeitsbedingungen in Deutschland, die zur Bildung einer neuen Klassenstruktur und dem Phänomen der exklusiven Solidarität geführt haben.
Das Interview ist lang geworden. Lassen Sie sich bitte von der Länge nicht abschrecken:
„Mit diesem Status ist man so etwas wie ein Halbbürger“
Exklusive Solidarität in der neuen Klassengesellschaft
Ein Interview mit dem Soziologen Prof. Dr. Klaus Dörre über Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland
Von Udo Brandes
Herr Prof. Dörre, „Deutschland geht es gut“ ist die Botschaft unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie sehen Sie das? Geht es Deutschland gut?
Dies kann man bis zu einem gewissen Grade nicht abstreiten. Im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn sinkt die Arbeitslosigkeit und die Erwerbstätigkeit ist bei uns auf einem Rekordniveau. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass das deutsche „Jobwunder“ auf der Ausbreitung von schlecht entlohnter, wenig angesehener, unwürdiger und deshalb prekärer Arbeit beruht. Wenn man sich das Volumen an bezahlten Arbeitsstunden anschaut, wie es sich zwischen 1991 und 2013 entwickelt hat, dann wird man sehen, dass es beständig gesunken ist, insgesamt um etwa 12%. Seit 2013 steigt das Arbeitsvolumen zwar wieder etwas an, es ist aber immer noch nicht auf dem Stand von 1991. Wir haben also zwar deutlich mehr Erwerbstätige, aber das Volumen an bezahlter Arbeit insgesamt ist geringer geworden. Das wäre ja gar nicht mal schlecht, wenn wir alle Arbeit hätten und weniger arbeiten müssten. Aber es kommt eben noch hinzu, dass das Arbeitsvolumen extrem ungleich verteilt ist.
Das bedeutet konkret?
Im hochqualifizierten Bereich gibt es viele, die weit über 40, 50 Stunden, zum Teil sogar über 60, 70 Stunden pro Woche arbeiten. Aber im unteren Teil der Pyramide gibt es viele Menschen, die gern mehr arbeiten möchten, aber nur für 12 Stunden die Woche Arbeit haben. Dazu gehören viele Minijobber. Wir haben ca. 5 Mio. Menschen, bei denen ist der Minijob die Haupteinnahmequelle. In der Zeit zwischen 2000 und 2013 beruhte der Zuwachs an Beschäftigung ausschließlich auf atypischer Beschäftigung (Minijobs, Leiharbeit, befristete Tätigkeiten und Teilzeittätigkeit) sowie auf Soloselbständigkeit. Dies wird in der Statistik zum Teil dadurch vertuscht, dass Teilzeitbeschäftigungen über 20 Wochenstunden als Vollzeitbeschäftigung bewertet werden. Wenn man aber unter Vollzeitbeschäftigung mindestens 35 bis 38 Stunden versteht, dann ist es eindeutig: Wir haben zwischen 2000 und 2013 zwar eine Abnahme der Arbeitslosigkeit um 1 Mio., aber gleichzeitig ist die Vollzeitbeschäftigung um 1,5 Mio. Stellen zurückgegangen. Und wir haben ein starkes Anwachsen von Teilzeit, geringfügiger Teilzeit, Befristung, Leiharbeit und Soloselbständigkeit.
Wie groß ist der Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse insgesamt in Deutschland?
Das Problem ist, dass die Statistiken Prekarität nicht erheben. Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens ein Viertel aller Arbeitsverhältnisse prekär sind. Ich vermute aber, dass der Prozentsatz noch höher liegt, weil auch Niedriglohnbezieher in Vollzeit prekär arbeiten.
Atypische Beschäftigung muss im Übrigen nicht zwangsläufig prekär sein. Wenn Sie sich entscheiden, um Beruf, Kind und Familie vereinbaren zu können, in Teilzeit zu arbeiten, ist dies nicht unbedingt prekär. Allerdings: Wenn sich die Familienstrukturen verändern, beispielsweise ein Ehepaar sich scheiden lässt, haben Sie als Teilzeitbeschäftigter schnell ein Problem, weil ihr Einkommen nicht mehr ausreicht. Dies gilt natürlich auch für die Rente, die dann viel zu niedrig ausfallen wird. Genauere Zahlen gibt es zur Beschäftigtenzahl im Niedriglohnsektor. In Deutschland arbeiten kontinuierlich 22% -24% aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor.
Das ist dann Beschäftigung zum Mindestlohn?
Es ist Beschäftigung zu zwei Dritteln des sogenannten Medianlohnes, also noch unterhalb des Mindestlohnes. Außerdem kann der Mindestlohn über Soloselbständigkeit ausgehebelt werden. Hinzu kommen viele Ausnahmeregelungen. Das heißt, im Niedriglohnbereich wird in vielen Fällen unterhalb des Mindestlohnes von 8,84 Euro gearbeitet. Aber mindestens genauso wichtig ist: Jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor. Wenn Sie sich nur die atypischen Beschäftigungsverhältnisse anschauen, haben Sie kein vollständiges Bild von Prekarität. Denn Sie sind natürlich auch mit einem Lohn von 8,84 Euro in regulärer Vollzeitbeschäftigung nicht in einer komfortablen Lebenssituation. In diesem Bereich kommt es oft vor, dass es einen Vollzeitverdiener in der Familie gibt, in der Regel der Mann, und die Ehefrau noch einen prekären Job hat. Die Familie lebt dann nicht in prekären Verhältnissen, ist aber mit allen laufenden Kosten am äußersten Limit finanziert – und kann schnell Probleme bekommen, wenn der prekäre Job der Ehefrau wegbricht.
In meiner Kindheit in den 60er und 70er Jahren konnten Arbeiter als einziger Verdiener die Familie ernähren und nicht selten sogar ein, wenn auch bescheidenes, Eigenheim finanzieren.
Das kriegen Sie heute so nicht mehr hin! Dieses Modell war ja auch nicht unproblematisch, Stichwort Abhängigkeit der Frauen. Aber es macht deutlich, was eine sichere Beschäftigung ohne großes Risiko von Arbeitslosigkeit bedeutet und ermöglicht hat.
Die Ausbreitung unsicherer, prekärer Arbeitsverhältnisse heute ist dabei aber nur eine Schattenseite vom sogenannten „Modell Deutschland“. Die andere Schattenseite ist der Druck auf die Löhne und die zunehmende Einkommensungleichheit. Hinzu kommt die zunehmende Vermögensungleichheit. Diese war in Deutschland schon immer sehr ausgeprägt, hat aber in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Das oberste Tausendstel der deutschen Bevölkerung besitzt 17 Prozent des gesamten Vermögens. 10 Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen 64 Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland. Und das ist noch konservativ geschätzt! Zugleich haben wir einen immer größer werdenden Bevölkerungsanteil, der kaum über nennenswertes Vermögen verfügt. Und es gibt eine Spaltung innerhalb der Beschäftigten. Die unteren 40 Prozent der Lohnbezieher haben seit 1995 real an Einkommen verloren. Damit sind Sie nicht unbedingt prekär, aber der Abstand zu anderen Einkommensgruppen hat sich vergrößert. Und die Gegensätze bestehen nicht nur zwischen prekärer Beschäftigung und Normalarbeitsverhältnis, sondern auch zwischen Exportsektor und den reproduktiven Dienstleistungen, wie Pflege, Erziehung, Bildung usw. Man kann sagen, dass die Beschäftigten in diesen Bereichen, häufig Frauen, deutlich unterbezahlt sind.
Was bedeutet dies im Alltag? Ich will dies mal an einem typischen Fallbeispiel verdeutlichen, das wir bei unseren empirischen Forschungen immer wieder erlebt haben: Ein Ehepaar mit zwei Kindern. Der Mann arbeitet in einem ausgegründeten Betrieb in der ostdeutschen Metallindustrie und bekommt etwa 1600 bis 1700 Euro brutto. Die Frau verdient in Vollzeitbeschäftigung in etwa das Gleiche. Nach Abzug aller fixen Kosten für Miete, Kita, Telefon etc. bleiben da etwa 1000 Euro übrig. Aber dann haben Sie noch keine Lebensmittel und keine Kleidung gekauft. Das ist ein Einkommen, mit dem Sie weder in Urlaub fahren noch am Wochenende mal essen gehen können. Auch unvorhersehbare größere Ausgaben, z. B. wenn der Herd in der Küche kaputt geht oder das für die Fahrt zur Arbeit notwendige Auto repariert werden muss, werden bei diesem Einkommen schnell zum Problem. Und medial bekommen Sie vorgespiegelt: Wir leben in einer Gesellschaft, in der ständig alles besser wird. Die Wirtschaft wächst und brummt, und den Deutschen geht es so gut wie noch nie zuvor. Und da fragen sich solche Leute natürlich: Sind wir eigentlich Deutsche? Gehören wir eigentlich dazu? Wenn das Durchschnittseinkommen bei 3300 Euro liegt, wieso habe ich nur 1700 Euro, obwohl ich in Vollzeit arbeite? Und das erzeugt das Gefühl, in einem Eisenbahnwaggon zu sitzen, der vom Zug Richtung Wohlstand und Prosperität abgekoppelt ist. Sie müssen im Waggon auf dem Abstellgleis sitzen bleiben und kommen nicht von der Stelle. Die davon Betroffenen, das haben unsere Interviewreihen ergeben, bezeichnen sich nicht als arm oder prekär. Die ordnen sich selbst alle in der Mitte der Gesellschaft ein und sagen, im Vergleich zu anderen Ländern geht es uns noch gut. Und dann kommt das Aber: Sie fühlen sich unverschuldet abgehängt. Und das erzeugt Verdruss und das Empfinden von Ungerechtigkeit. Im Ergebnis führt dies dazu, dass ein Teil der Arbeiter und selbst manche Gewerkschafter rechte Parteien wie die AFD politisch unterstützten.
Dann geht es also großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland ganz und gar nicht gut?
Richtig! Die Grunderfahrung vieler Menschen ist erstens: Unsichere, prekäre Arbeitsverhältnisse haben massiv zugenommen. Zweitens: Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hat extrem zugenommen. Und drittens: Wir haben nach wie vor Millionen von Menschen, die keine Chance haben, überhaupt jemals in reguläre Arbeit reinzukommen. Wir haben eine Million Menschen, die seit der Einführung von Hartz-IV nie aus dem Leistungsbezug rausgekommen sind. Wir haben insgesamt 3,7 Mio. Menschen, die schon über mehrere Jahre im Leistungsbezug sind. Nur die Hälfte davon ist wirklich arbeitslos. Die anderen hangeln sich von einer Maßnahme zu einem Gelegenheitsjob zur nächsten Aushilfstätigkeit usw. Die sind überwiegend hochmobil und haben etliche Positionswechsel hinter sich. Und das alles nur, um am Ende wieder in Hartz-IV zu landen. Oder aber sie arbeiten prekär und müssen mit Hartz-IV aufstocken, weil das Geld nicht reicht.
Was bedeutet dies gesellschaftlich?
Menschen, die in so einer Lebenslage sind, bilden eine neue Unterklasse, die scheinbar ökonomisch nicht mehr gebraucht wird. Diese Menschen werden auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung stigmatisiert als faul und leistungsunwillig, als Menschen, die nicht arbeiten wollen. Wenn Sie lange im Hartz-IV-Bezug sind, haben Sie kaum eine Chance, da wieder rauszukommen, weil die einstellenden Arbeitgeber diese Klientel nicht haben wollen. Und das heißt letztlich: Sie müssen unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität leben. Und damit wirken Sie abschreckend für den Rest der Gesellschaft. Denn nichts fürchtet ein Angestellter oder Arbeiter mehr, als arbeitslos zu werden und auf diesen stigmatisierten gesellschaftlichen Status zurückzufallen. Denn mit diesem Status ist man so etwas wie ein Halbbürger.
Ist diese Stigmatisierung von Hartz-IV-Beziehern, und zwar auch von Menschen, die selber wirtschaftlich abhängig beschäftigt sind und arbeitslos werden können, das Phänomen der „exklusiven Solidarität“, wovon Sie in einigen Ihrer Vorträge und Aufsätze sprechen?
Ja, das hat etwas damit zu tun. Diese Frage berührt eine klassenpolitische Dimension. Man darf nicht von der Vorstellung ausgehen, dass Menschen mit einer ähnlichen Klassenlage und ähnlichen Interessen automatisch solidarisch handeln. Der Normalzustand ist, dass zwischen und innerhalb von Klassen Spaltung, Fraktionierung und Konkurrenz stattfindet. Wir haben in unserer Forschung bei Stammbeschäftigten in der Automobil- und Elektroindustrie festgestellt, dass diese zwar solidarisch sind, aber primär mit ihresgleichen, also anderen Stammbeschäftigten. Dies geht im Extremfall soweit, dass entlassene Stammbeschäftigte, die als Leiharbeiter wieder eingestellt wurden, nicht mehr Teil dieser Solidarität waren. Diese galt exklusiv nur den anderen Stammbeschäftigten. Da hat sich deutlich etwas geändert, auch weil Betriebsräte und Gewerkschafter auf inklusive Solidarität drängen. Dennoch: Bei Befragungen im Werk eines großen Endherstellers stimmten die Mehrzahl der Produktionsarbeiter in einem Automobilwerk Aussagen wie „Eine Gesellschaft, die versucht, jeden mitzunehmen, ist auf Dauer nicht überlebensfähig“ zu. Daraufhin sagten uns die Betriebsräte, die Kollegen hätten die Frage nicht verstanden. Dann haben wir Vertrauensleute befragt. Gleich einer der Ersten sagte uns:
„Ich habe nichts gegen Hartz-4-Leute. Aber eins muss man doch mal sagen: Die Hälfte davon will doch nicht arbeiten.“
Ist dieses Verhalten eine Folge des Dauerbeschusses mit neoliberaler Propaganda, also zum Beispiel so einer Formel wie „Fordern und Fördern“, die ja unterschwellig vermittelt, dass Arbeitslose gefordert werden müssen, weil sie eigentlich nicht arbeiten wollen? Der ehemalige SPD-Wirtschaftsminister Clement verglich Arbeitslose in einer regierungsamtlichen Broschüre ja sogar mit Parasiten.
Das ist sicher auch ein Ausfluss dieser individualisierenden, neoliberalen Schuldzuschreibungen. Man könnte es vielleicht so formulieren: Die Politik der Agenda 2010 war schon Klassenpolitik, Klassenpolitik von oben. Die Eliten verbünden sich mit den vermeintlichen Leistungsträgern der Gesellschaft. Dazu gehören nach diesem Verständnis auch die hart arbeitenden Lohnabhängigen in der Industrie. In der Struktur und Begründung der Hartz-IV-Gesetze steckt tatsächlich latent der Vorwurf, dass sich Arbeitslose nicht genügend anstrengen. Ziel dieser Gesetze war es dementsprechend, den Unterklassen, die es sich angeblich in der sozialen Hängematte bequem machten, Beine zu machen. Das war die Grundphilosophie von Hartz-IV. Und die ist von Talkshows und Medien allgemein transportiert worden. Und Leute wie Clement haben da richtig gezündelt.
Ist die Formulierung von Martin Schulz, der in seiner Antrittsrede sagte, er wolle sich für die „hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten“ einsetzen, vielleicht als eine Distanzierung von Arbeitslosen zu verstehen und das Signalisieren exklusiver Solidarität an bestimmte Klassen, die sich mit dieser Formel identifizieren?
Ich würde sagen, Martin Schulz’ Formel ist offen in verschiedene Richtungen. Ursprünglich geht diese Formel übrigens auf Bill Clinton zurück. Sie sollte eine Antwort auf die Klassenpolitik der Neokonservativen in den USA sein. Diese hatten sich den Klassenbegriff zu eigen gemacht, weil die liberale Linke in den USA diese Kategorie aufgegeben hatte. Die Neokonservativen bezogen den Klassenbegriff dann auf weiße Arbeiter und deren konservative Werte, die vermeintlich von der liberalen Intelligenz in den Schmutz gezogen wurden. Um diese neokonservative Vereinnahmung der Arbeiterklassen zu kontern, hat Bill Clinton diese Politik „für hart arbeitende Menschen“ entworfen (gemeint ist die sogenannte Aktivierungspolitik, das „Beine machen“; U. B.). Diese stand dann Pate für den sogenannten dritten Weg von Tony Blair und für die Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Und sie hat dazu geführt, dass sich die sozialdemokratischen Parteien entproletarisiert haben. Damit meine ich, dass sich ihre Kontakte zu den Arbeitermilieus sehr stark gelockert haben oder gänzlich verloren gegangen sind. Dies verlief z. T. ähnlich bei den kommunistischen Parteien Europas. Das hat zum Teil auch mit dem Strukturwandel der Wirtschaft zu tun. Im Ergebnis führte dies dann zu einem politischen Vakuum in Arbeitermilieus.
Wie die Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen, schaden die sozialdemokratischen Parteien mit ihrer neoliberalen Politik nicht nur ihren Wählern, sondern auch sich selbst. Wie ist es zu erklären, dass sie trotzdem stur daran festhalten?
Ja, das ist richtig, aber so ist es zunächst einmal unter Schröder und auch bei anderen sozialdemokratischen Parteien entschieden worden. Die Politik des Dritten Weges hieß: Wir können uns der Globalisierung nicht widersetzen. Was wir tun können ist, den sozialen Kapitalismus in Europa an die Globalisierung anzupassen. Mehr ist nicht möglich. Das war die Botschaft. Und die beinhaltete auch, dass man Gewerkschaften als bevorzugte strategische Partner außen vor ließ. Dass man vom sozialen Kapitalismus abrückte und eine Fülle von marktwirtschaftlich orientierten Reformen durchsetzte. Dass Privatisierungen und Deregulierungen der Finanzmärkte umgesetzt wurden. Dies alles wäre nicht möglich gewesen, wenn man an den starken Verkoppelungen mit Gewerkschaften und Arbeitermilieus festgehalten hätte. Im Zuge dieser Politik hat sich auch die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Parteien verändert. Sie finden ja auch in der SPD fast keine Arbeiter mehr. Es hat auch dazu geführt, dass eine Sprache dafür fehlt, um die gesellschaftlichen Probleme von einfachen Arbeitern und Angestellten aus der Perspektive von unten politisch wirksam zu formulieren. Dazu haben leider auch die Soziologen beigetragen. Seit Mitte der achtziger Jahre, als Ulrich Becks Buch „Die Risikogesellschaft“ erschien und damit auch die Individualisierungsthese in aller Munde war, hat der Mainstream der Soziologen nicht mehr von Klassen gesprochen.
Sind die sozialdemokratischen Parteien quasi nur ideologischen Irrtümern aufgesessen, oder war dies ein bewusster Bruch mit ihrer sozialdemokratischen Identität und Weltanschauung? Also sozusagen ein Überlaufen zur Kapitalseite?
Also ich denke, dass dieser Kurswechsel seinerzeit durchaus gut gemeint gewesen sein kann. Die Sozialdemokraten hatten eine Serie von Wahlniederlagen hinter sich. Ausgelöst durch die französische Linkskoalition, die noch einmal den Ansatz neokeynesianischer Politik verfolgt hatte (der Staat investiert und kurbelt die Nachfrage an; U.B. ) und damit gescheitert war, überlegte man in den sozialdemokratischen Parteien, wie man aus diesem Dilemma herauskommt. Aber die Konsequenzen, die man daraus zog, waren letztlich falsch.
Eine dieser wirtschaftspolitischen Konsequenzen war, dass die Einführung von Leiharbeit für Unternehmen erleichtert wurde. Schröders rot-grüne Regierung begründete dies damit, so mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Hatte Leiharbeit in der Vergangenheit diesen Effekt?
Nein. Wer behauptet, das „deutsche Jobwunder“ habe mit den Hartz-Reformen zu tun, sagt ganz klar die Unwahrheit. Das Versprechen war ja, durch „Fördern und Fordern“ die Menschen ganz unten aus ihrer Misere zu befreien. Und das ist offensichtlich, wie ich ja mit den von mir genannten Zahlen deutlich gemacht habe, vollkommen misslungen. Die soziale Ungleichheit und Unsicherheit hat sich verfestigt. Was aber erreicht wurde, ist, dass die soziale Lage unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität, wie ich sie beschrieben habe, abschreckt. Und das führt dazu, dass die Konzessionsbereitschaft derjenigen, die noch in Beschäftigung sind, aber rausfallen könnten, zugenommen hat. Die sind jetzt eher bereit, einen miesen Job anzunehmen. Leiharbeit spielt bei prekärer Arbeit quantitativ betrachtet zwar keine so große Rolle, wird aber von wichtigen exportorientierten Unternehmen strategisch genutzt. Im Automobilcluster um Leipzig (BMW und Porsche) existieren z. B. mehrere Klassen von Beschäftigten. Da gibt es Leiharbeiter, die genau das Gleiche machen, wie die Stammbeschäftigten, aber zu deutlich schlechteren Konditionen. Dann gibt es Leiharbeiter in ausgegründeten Unternehmen. Vor Einführung des Mindestlohnes hatte das dazu geführt, dass Arbeiter im Extremfall zu 5,80 Euro die Stunde arbeiten mussten, während die Stammbelegschaft ein Vielfaches erhielt. Das wäre ohne Hartz-Reformen nicht möglich gewesen.
Leiharbeit bedeutet einen ständigen Wechsel in der Belegschaft und erschwert die interne Kommunikation, da z. B. selbständige Werkvertragsarbeiter keine Anweisungen erhalten dürfen. Da frage ich mich: Sind Stammbelegschaften nicht wesentlich produktiver?
Das können die Unternehmen gar nicht genau erfassen, da die Leiharbeiter gar nicht als Personalkosten sondern als Sachkosten verbucht werden. Das hängt damit zusammen, dass die Manager für ihre Produktionsvorgaben sogenannte Kopfzahlen haben, mit dem sie die Produktionsziele erreichen müssen. Reicht dies nicht, müssen sie auf Leiharbeit zurückgreifen oder ausgründen. Die Kosten dafür werden dann als Sachkosten verbucht. Es spricht allerdings einiges dafür, dass Stammbelegschaften mit den dazugehörigen Sicherheiten effizienter arbeiten. Man darf allerdings auch nicht den Konkurrenzmechanismus zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaft unterschätzen. Die prekär Beschäftigten wollen natürlich zeigen, dass sie besonders willig und leistungsbereit sind. In einem Betrieb der Elektroindustrie, den wir untersucht haben, haben wir festgestellt, dass dieser Konkurrenzmechanismus dazu geführt hat, dass der normalerweise erreichte Akkord von 130% durch die Konkurrenz der Leiharbeiter auf 170% hochgetrieben wurde. Man darf auch nicht übersehen: Eine Stammbelegschaft von 30.000 Mitarbeitern kann sich von 500 Leiharbeitern unter Druck gesetzt fühlen. Das heißt, durch Leiharbeit wird ein enormer disziplinierender Druck auf die Stammbelegschaften ausgeübt, da die Festangestellten Angst haben, dass genau dies, die Leiharbeit, in der nächsten Krise ihre eigene Zukunft sein könnte. Obwohl dies bei einer so großen Belegschaft natürlich unrealistisch ist, sind die Ängste da.
Da ist so ein Phänomen wie exklusive Solidarität natürlich kein Wunder.
Ganz genau. Aber diese hat mehrere Ursachen. Die Konkurrenzerfahrung ist eine Ursache. Aber auch 30 Jahre Standortpolitik hinterlassen Spuren. Da wird den Belegschaften immer wieder neu gesagt „Ihr müsst euch einbringen, damit ihr das nächste neue Produkt bekommt und der Standort erhalten bleibt“. Das hat natürlich auch Auswirkungen. Darüber hinaus gibt es eine sozialpsychologische Ursache für exklusive Solidarität. Wenn man erlebt, dass Langzeitarbeitslose, die dauerhaft aus dem System ausgeschlossen sind, sich langfristig mit unwürdigen Lebensverhältnissen arrangieren müssen, empfindet man dies als große Bedrohung für die Solidarität unter Lohnabhängigen. Und ist dann empfänglich für exklusive Solidarität. Das ist eine spontane Tendenz, die muss sich allerdings nicht zwangsläufig durchsetzen. Entscheidend ist, wie Betriebsräte und Gewerkschaften sich dazu verhalten. Wenn Gewerkschaften eine Politik inklusiver Solidarität entwickeln, die prekär Beschäftige einbezieht und klarstellt, dass Solidarität ganz unten bei den Schwächsten anfangen muss, und sie das argumentativ gut unterfüttern, dann kann das auch bei den Stammbeschäftigten Gehör finden. Teilweise haben Gewerkschaften dies auch erkannt. Dafür gibt es Beispiele.
Die Regierungskoalition aus SPD und CDU hat das Leiharbeitsgesetz nach eigenen Angaben 2017 zugunsten der Leiharbeiter verbessert. Ist das neue Gesetz wirklich eine Verbesserung für die Leiharbeiter?
Nein. Das was die Gewerkschaften erhofft haben, Leiharbeit unattraktiver zu machen, wird mit dem Gesetz nicht realisiert. Die neuen Befristungsregelungen z. B. können leicht unterlaufen werden, indem die Leiharbeiter öfter ausgewechselt werden. Statt solcher Regelungen müsste Leiharbeit teurer gemacht werden. Das wäre auch logisch. Denn Leiharbeiter müssen sich im Schnitt nach drei Monaten wieder auf eine neue Arbeitsstelle, neue Kollegen, neue Arbeitssituationen usw. einstellen und dazulernen. Das wird nach dem jetzigen System überhaupt nicht belohnt. Im Grunde müssten Leiharbeiter eine Prämie für ihre Flexibilität bekommen. So ist das in Frankreich geregelt. Das würde Leiharbeit teurer machen und die Attraktivität von Leiharbeit für Unternehmen reduzieren. Aber das neue Gesetz schafft keine großen Motive für Unternehmen, Leiharbeiter in die Stammbelegschaft zu übernehmen.
Warum unterstützen Gewerkschaften indirekt Leiharbeit? Die IG Metall hat in einem Tarifvertrag ausgehandelt, dass die neue Regelung, die Leiharbeit auf 18 Monate begrenzt, auf 4 Jahre pro Person ausgedehnt werden kann.
Die Gewerkschafter haben versucht, aus der Not, nämlich dass die geltenden Regelungen ohnehin unterlaufen werden können und wenig bringen, eine Tugend zu machen. Nämlich, dass sie Leiharbeitern das Leben erleichtern, indem sie ihnen eine gewisse Kontinuität ihrer Arbeit in einem Betrieb ermöglichen. Dabei spielt natürlich auch die Hoffnung eine Rolle, bessere Bedingungen auf Betriebsebene aushandeln zu können. Ich fürchte aber, dass das nicht funktionieren wird. Denn Betriebsräte sind erpressbar, sobald eine Krisensituation eintritt und das Thema Standortkonkurrenz ins Spiel kommt. Dann wird es sehr schwierig für Betriebsräte, eine Verhandlungsposition durchzuhalten. Wenn, dann können dies vor allem Betriebsräte in der Exportindustrie. Aber für Betriebe im Osten Deutschlands halte ich dies für unwahrscheinlich. Deshalb befürchte ich, dass diese Politik der IG Metall ein Rohrkrepierer wird. Außerdem ist diese Politik auch nach außen kaum vermittelbar.
Für den Abbau von Arbeitslosigkeit werden oft mehr Investitionen in Bildung gefordert. Ist eine zu geringe Qualifikation wirklich das Problem, das Arbeitslosigkeit und Prekarität verursacht?
Es ist zumindest nicht das einzige Problem. Man kann damit nicht alle Probleme lösen. Ich glaube, für die Ausgegrenzten, die kaum Chancen haben, in den regulären Arbeitsmarkt reinzukommen, braucht man so etwas wie einen sozialen Arbeitsmarkt, der ihnen ein würdiges Leben ermöglicht, und das heißt: einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Das wollen die meisten Betroffenen. Und das wäre auch gut für die Gesellschaft, denn in den Gemeinden, in den Vereinen, liegt ja vieles brach, was man fördern könnte. Und zwar ohne Repressionen. Denn die Repressionen sind es ja, die stigmatisierend wirken. Sie werden in diesem System ja extrem überwacht, das geht tief ins Privatleben. Ansonsten ist Bildung grundsätzlich natürlich gut. Das Arbeitslosengeld Q, das Martin Schulz vorgeschlagen hat, wäre ein Ansatz. Aber nur ein kleiner.
Wie sieht es mit der Digitalisierung aus? Wird die Arbeitsplätze kosten?
Selbstverständlich wird die Digitalisierung Jobs kosten. Und zwar nicht nur bei Routinetätigkeiten, sondern wahrscheinlich auch bei Tätigkeiten im mittleren und anspruchsvollen Qualifikationsbereich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu einer noch stärkeren Polarisierung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse kommen wird, also unterschiedlichen Klassen von Belegschaften wie bei der Leiharbeit. Wenn man trotzdem die Lohnabhängigen motivieren will, sich auf die Digitalisierung einzulassen, braucht man robuste soziale Sicherungssysteme, die einen sozialen Absturz und Stigmatisierung verhindern. Dazu würde gehören, erheblich in Bildung und Weiterbildung zu investieren, aber auch in sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten. Da steht die Gesellschaft vor Grundfragen. Zum Beispiel: Wollen wir eine Roboterpflege von älteren, pflegebedürftigen Menschen? Oder wollen wir das nicht? Wollen wir Menschen im Arbeitsprozess halten? Wenn ja, dann kostet das was, zumindest wenn es würdige Bedingungen sein sollen. Denken Sie mal an den Streik der ErzieherInnen zurück. Vordergründig ging es dabei um höhere Löhne. Aber wenn Sie genau hingeschaut haben, konnten Sie erkennen, dass es um eine Aufwertung und höhere gesellschaftliche Anerkennung der sozialen Berufe ging. Dahinter steckte aber auch die Unzufriedenheit darüber, dass diese Arbeit immer mehr mit bürokratischen Tätigkeiten überfrachtet wird, die nichts mehr mit der eigentlichen fachlichen Aufgabe zu tun haben. Also z. B. Übernahmen von Dokumentationspflichten und Leistungsverdichtung, die daraus resultiert. Wenn Sie das zu Ende denken und eine Aufwertung dieser sozialen Bereiche anstreben, stellt sich die Frage: Wer bezahlt es? Die Kommunen, die Länder? Dann sind wir schnell bei der Steuergerechtigkeit und Umverteilung von oben nach unten und von den sehr produktiven Sektoren wie der Exportwirtschaft in die reproduktiven Arbeitsbereiche, also Erziehung, Gesundheit, Pflege usw. Das erfordert eine ganz andere Art von Gesellschaft ein, eine erheblich solidarischere Gesellschaft.
Schlagen wir doch jetzt mal einen Bogen. Sie hatten schon von „Klassenpolitik“ gesprochen. Die Klassentheorie erlebt eine Renaissance. Es gibt offensichtlich das Bedürfnis nach mehr sozialer Sicherheit, aber politisch drückt sich dies nicht durch einen Linksruck aus. Es gelingt der Linkspartei nicht, die SPD zu beerben. Könnte man mit der Klassentheorie erklären, was anders gemacht werden müsste, damit auch linke Politik eine Renaissance erlebt?
Die Linkspartei hätte die Chance gehabt, Klassenpolitik von unten zu machen. Als die Linkspartei bei etwa 12% lag, gab es viele Gewerkschafter und Betriebsräte, die bereit waren, die Linkspartei zu unterstützen. Dieses Potential wurde leider zu einem gewissen Grad wieder verspielt. Ich kann nicht sagen, ob dies endgültig so sein wird, aber zeitweilig hat die Linkspartei dieses Potential auf jeden Fall verspielt. Dies hängt damit zusammen, dass die Linkspartei eine linkspluralistische Partei ist, in der eine entschiedene Klassenpolitik, in der sich Stammbeschäftigte wiedererkennen können, teilweise nicht sehr hoch im Kurs steht.
Bedeutet dies, dass es zu wenig Arbeiter in der Linkspartei gibt?
Ja, das ist richtig. Allerdings haben das Problem alle Parteien. Es ist aber auch ein Problem der Ansprache. Wenn man sich die Rhetorik der Linkspartei anschaut, dann kommen typische Klassenprobleme dort selten in einer Sprache vor, in der sich die Leute wiedererkennen. Ich habe insbesondere bei der Linkspartei hier im Osten nicht den Eindruck, dass sie ein besonderes Sensorium für gewerkschaftliche Forderungen hat oder dazu in der Lage ist, unterschiedliche Fraktionen von Lohnabhängigen klassenpolitisch wirkungsvoll anzusprechen. Das hängt auch damit zusammen, dass manche in der Linkspartei sagen „Wir wollen keine reine Gewerkschaftspartei sein“, was durchaus nachvollziehbar ist, denn im Osten sind die Gewerkschaften eher schwach.
Ich habe erlebt, dass z. B. Paketboten, Wachdienstleute etc. die Linkspartei wahrnehmen, als kümmere die sich nur um – Zitat – „Feministinnen, Flüchtlinge und Hartz-IV-Leute“.
Diese Sichtweise würden Repräsentanten der Linkspartei weit von sich weisen, und sie ist in dieser Allgemeinheit auch nicht berechtigt. Außerdem müssen wir uns davor hüten, Prekarität und patriarchalische Herrschaft gegen Klassenpolitik auszuspielen. Solidarische Klassenpolitik schließt diese Konfliktachsen ein und beachtet deren Eigenständigkeit. Aber die Tatsache, dass die geschilderte Wahrnehmung entstehen kann, sagt natürlich was. Mein Eindruck ist, dass die Linkspartei die Gruppen, die zwar nicht prekär leben, aber bei Einkommen und Lebensbedingungen benachteiligt sind und ohne große Aussichten auf gesellschaftlichen Aufstieg, überhaupt nicht erreicht. Junge Leute sagen, wenn du Realschulabschluss hast und Arbeiter bist, kann danach nicht mehr viel kommen, außer vielleicht noch, Gewerkschaftsfunktionär zu werden. Dort herrscht die Weltsicht, das Empfinden vor, es gibt ein klar getrenntes Oben und Unten, und wer unten ist, kommt auch nicht raus aus seinen unbefriedigenden Lebensbedingungen. Diese Gruppen müssten so angesprochen werden, dass sie für sich eine realistische Aussicht auf eine bessere Gesellschaft erkennen können. Und das leistet die Linkspartei gegenwärtig zu wenig.
Wie sieht es bei den Sozialdemokraten aus?
Dort haben wir erfreulicherweise auch eine Gegenbewegung zum sogenannten „Dritten Weg“ a’ la Schröder und Blair. Ich meine die Bewegung von Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien, aber auch die Sozialistische Partei Portugals mit ihrer von zwei anderen Linksparteien geduldeten Minderheitenregierung. Die programmatisch interessanteste und innovativste Entwicklung finden wir derzeit aber in der sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Die haben im Dezember 2016 ein Papier zur Wirtschaftsdemokratie verabschiedet, das ganz junge Leute geschrieben haben, nämlich Cedric Wermuth und Pascal Zwicky. Sinngemäß steht dort drin, wir brauchen eine Alternative zum Kapitalismus, a) weil wir es können, b) weil der Prozess ohnehin schon im Gange ist und c) weil wir eine Perspektive bieten müssen. Der Kern des Programms ist die Umverteilung von wirtschaftlicher Entscheidungsmacht. Es geht in diesem Papier also nicht nur um materielle Umverteilung und Arbeitszeiten, sondern um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht in den großen Unternehmen und der Gesellschaft. Das ist ein Versuch, das anzusprechen, was uns viele in unseren Forschungsinterviews auch sagen. Auch Gewerkschafter und Arbeiter, die zur AFD und PEGIDA tendieren, sagen uns, da sind Fehler im System. Nur rechnen sie die Ursachen falsch zu. In ihrem Relevanzsystem steht nicht mehr der Klassengegensatz ganz oben, sondern der Gegensatz von innen und außen, von Inländern und Ausländern usw. Eine populäre Klassenpolitik, also eine, die wirklich in das Alltagsbewusstsein Eingang findet, müsste diese Hierarchie der Gegensätze verändern und deutlich machen, dass der entscheidende Gegensatz der zwischen Reich und Arm, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist. Wenn man dies nicht tut, dann wirken Klassenverhältnisse nicht in Richtung Solidarität, sondern führen zu sozialer Abgrenzung, Ausgrenzung, Konkurrenz und Abwertung ganzer Gruppen. Und genau das erleben wir derzeit. Dem müsste man ein anderes Erklärungsmuster, das des Klassengegensatzes, entgegensetzen. So dass deutlich wird: Es sind nicht die Flüchtlinge, sondern andere Interessen, die eure Probleme verursachen. Das passiert in der deutschen Sozialdemokratie nicht nur zu wenig, sondern fast gar nicht. Auch nicht bei Martin Schulz. Er startete mit dem Gerechtigkeitsversprechen. Aber anstatt offensiv anzusprechen, wo konkret die Gerechtigkeitsprobleme bestehen, weicht er wieder zurück und bleibt inhaltlich vage. Und so, wie er vorher hochgeschrieben wurde, wird er nun wieder demontiert (Hinweis für die Leser: Das Interview fand bereits vor der Wahl in NRW statt! Prof. Dörres Einschätzung wurde mit dem Wahlergebnis und den Medienreaktionen exakt bestätigt; U.B.).
Welche Rolle spielen die Medien? Die Politologin Chantal Mouffe meint, wenn die sozialdemokratischen Parteien wieder eine echte politische Alternative zum neoliberalen Kapitalismus böten, dann würden auch die Medien offener für Alternativen sein.
Ja, das stimmt. Aber man muss dazu sagen: Es gibt bei den Medien noch ein weiteres Problem. In den meinungsführenden Medien gibt es einen Überhang von JournalistInnen, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind und im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen in den 70er Jahren und durch die Grünen sozialisiert worden sind. Von ihrem Habitus her haben diese Leute kein Gespür dafür, was die sogenannten „kleinen Leute“ umtreibt. Dafür finden die auch nicht die richtige Sprache. Das ist denen einfach nicht gegeben. Deshalb ist es auch schwierig, mit klassenpolitischen Ansätzen in den Medien zu punkten. Das ändert aber nichts daran, dass es notwendig ist, eine populäre Klassenpolitik zu betreiben. Von rechtspopulistischen Parteien wird uns ja vorexerziert, dass man mit einer populären Ansprache etwas erreichen kann. Aber dazu fehlt den Sozialdemokraten offenbar der Mut. Und die Linkspartei wird, mit Ausnahme von Sahra Wagenknecht, die etwa zur Fluchtmigration höchst problematisch argumentiert, von den Medien geschnitten. Deshalb ist es wirklich schwierig, mit einem populären klassenpolitischen Ansatz in die Medien vorzudringen. Aber wenn eine große Partei wie die SPD das nicht angeht, dann wird sich an den Verhältnissen wahrscheinlich absehbar wenig ändern.
Die SPD müsste vielleicht eine Gegenbewegung von unten organisieren, wie es zur Zeit von Willy Brandt so gut funktioniert hat.
Exakt, wenngleich die 68er-Bewegung nicht von Brandt initiiert wurde und wir uns nicht zu sehr nach alten Zeiten zurücksehnen sollten. Die kommen nicht wieder! Dennoch: Willy Brandt war eine Leitfigur, die mit Leidenschaft Politik betrieben hat und für eine demokratische Polarisierung in der Gesellschaft gesorgt hat. Das ist ja das Richtige am Populismus: Mit Leidenschaft Politik zu betreiben. Das bräuchten wir heute wieder von links. So ist es ja auch Willy Brandt gelungen, politische Konzepte durchzusetzen, etwa die Ostverträge, die machtpolitisch eigentlich als aussichtslos galten, weil es zu viel Widerstand in der Gesellschaft dagegen gab, insbesondere auch in den Medien. Diesen Mut, den Willy Brandt hatte, sehe ich gegenwärtig nicht in der SPD, auch nicht bei Martin Schulz. Ich habe den Eindruck, dass die Partei innen von latenten Konkurrenzkämpfen der führenden Persönlichkeiten geschwächt ist. Da fehlt eine Grundsolidarität im Inneren, die vermittelt, dass die SPD-Politiker sich in erster Linie ihrer Sache verpflichtet fühlen, nämlich die Gesellschaft zu verändern, und nicht primär ihrer persönlichen Karriere verpflichtet sind. Diesen Eindruck der Authentizität hat man bei der SPD nicht. Martin Schulz hatte bei vielen Leuten offensichtlich diesen Vertrauenskredit. Aber im Moment sieht es so aus, als ob er dieses Kapital wieder verspielt hätte.
Herr Prof. Dörre, ganz herzlichen Dank für diese interessanten Informationen und Einschätzungen!