Unser linksliberales Establishment verblödet zusehends
Wenn Frankreich am Sonntag seinen neuen Präsidenten wählt, so haben die Wähler die Wahl zwischen Pest und … stopp! Hätte ich diesen Satz ausgeschrieben, wäre ich für den linksliberalen Publizisten Robert Misik bereits ein „unterschlauer“ Teil der „dummen Linken“. Misik weiß zwar nicht, was an Macron nun löblich sein soll – aber keine Wahlempfehlung für den Kandidaten der extremen Mitte zu geben, sei für ihn eine „kriminelle Dummheit“. Ganz ähnlich argumentiert – ebenfalls via taz – sein Bruder im salonlinken Geiste: Neoliberalismus hin, Austeritätswahnsinn her – für Daniel Cohn-Bendit liegt der „eigentliche Skandal“ der Wahlen in Frankreich darin, dass die politische Linke sich weigert, eine klare Wahlempfehlung für Macron auszugeben. Man mag da nur noch mit dem Kopf schütteln. Deutschland, wo sind nur Deine Intellektuellen geblieben? Von Jens Berger.
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Misiks Alternativlosigkeit
Robert Misiks Motto für Frankreich ist klar: Le Pen soll mit allen Mitteln verhindert werden. Dass ein Wahlsieg Le Pens eine Katastrophe wäre, ist ja auch unstrittig. Die interessantere Frage ist da schon, warum ein Sieg Macrons kein großes Problem sein sollte. Und auf diese Frage hat ein Robert Misik auch keine Antworten. Selbst nach mühevoller journalistischer Schweißarbeit findet der österreichische Publizist als Pluspunkte für Macron nur den lauwarmen Satz. „Innenpolitisch ist sein Weltbild eher gemäßigt blairistisch, europapolitisch aber eher keynesianisch. Das sollte man schon auseinanderhalten können“. Bitte? Vielleicht kann mir Robert Misik ja mal bei einem Grünen Veltliner erklären, was am innenpolitischen Weltbild Tony Blairs löblich gewesen sein soll – Stichwort: Überwachungsstaat – und welche Europapolitik der 1946 verstorbene Lord Keynes überhaupt verfolgt hat. Es ist ja bekannt, dass vor allem linksliberale Intellektuelle gerne mit Formulierungen um sich schmeißen, die sie selbst nicht verstehen. Aber wenn ein Robert Misik in einem Meinungsartikel, in dem er der europäischen Linken „Dummheit“ vorwirft, an der zentralen Stelle nur mit zwei inhaltslosen Nullsätzen daherkommt, kann man schon sagen, dass der Vorwurf der „Unterschläue“ hier auf den Verfasser zurückfällt.
Was will Misik eigentlich von uns? Dass wir nun alle Macron für einen Retter des Abendlandes halten, der zwar kleinere Schönheitsfehler hat, aber „leider“ alternativlos ist? Nein! Wir Linksliberalen müssen endlich aufhören, den Neoliberalismus zu verharmlosen. Macron ist kein netter Kerl mit kleinen Fehlerchen. Er ist ein Überzeugungstäter aus der extremen Mitte, dessen Politik sehr vielen Menschen Leid zuführen und die europäische Idee ad absurdum führen wird. Das ist keine Petitesse, Herr Misik!
Cohn-Bendit und die Lifestyle-Linken
Robert Misik und Daniel Cohn-Bendit seien daran erinnert, dass es vor allem die Grünen und Lifestyle-Linken waren, die durch die Wahl des hoffnungslos abgeschlagenen Benoit Hamon erst den Einzug von Marine Le Pen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen ermöglich haben. Madame Le Pen lag in der ersten Runde gerade einmal 1,6 Prozentpunkte vor dem linken Kandidaten Mélenchon. In meiner ersten Analyse zur Wahl machte ich daher auch die Sozialisten mitverantwortlich für den Sieg Le Pens über Mélenchon. Doch das war wohl voreilig. Zahlreiche Freunde und Leser aus Frankreich erklärten mir, dass die 6,4% der Wähler, die für Hamon gestimmt haben, eher zu den liberalen Lifestyle-Linken und –Grünen gehören, die ohnehin nie einen wirklich linken Kandidaten gewählt hätten und daher eigentlich eher dem Macron-Lager zuzuordnen wären. Aktuelle Wahlanalysen, nach denen 75% der Hamon-Wähler nun Macron ihre Stimme geben, bestätigen dieses Urteil.
Misik, Cohn-Bendit und die anderen linksliberalen Verharmloser des Neokapitalismus sind nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Der Eine echauffiert sich vor allem über „kriminell dumme Linke“ und nicht über die eiskalte Menschenverachtung des Neoliberalismus. Der Andere ist vor allem darüber entsetzt, dass „zahlreiche Linke, die [er] gut [kennt], leichtfertig Macron denunzieren“. Die Verbrechen des Neoliberalismus und die Folgen eines fehlgeleiteten Finanzkapitalismus scheinen für den ehemals „roten Daniel“ dagegen lässliche Sünden zu sein. Derartige linksliberale Intellektuelle sind Steigbügelhalter des Neoliberalismus, profane Schwätzer ohne Anspruch und ohne Rückgrat, die es sich im linksliberalen Establishment bequem gemacht haben und meilenweit von der Lebenswirklichkeit ihrer Mitmenschen entfernt haben. Wer echte Intellektuelle sucht, muss da schon über den deutschen Tellerrand[*] hinausblicken.
Todd und Eribon – was für ein Kontrast zu den deutschen Denkabstinenzlern
Schade, dass die WELT ihr Interview mit dem linken französischen Historiker Emmanuel Todd hinter einer Paywall versteckt hat. Wenn Sie heute noch am Kiosk vorbeikommen, kaufen Sie sich ruhig ausnahmsweise mal die WELT. Was Sie auf Seite 6 zu lesen bekommen, ist äußerst interessant. Für Todd sind sowohl der Macronismus als auch der Lepenismus „das Schlimmste, was Frankreich in den letzten zwei Jahrzehnten hervorgebracht hat.“ Beide seien jedoch zwei Seiten ein und derselben Medaille. Lepenismus heißt – so Todd – „sich für den Rassismus zu entscheiden“. Und Macronismus bedeutet für ihn, „die freiwillige Knechtschaft zu akzeptieren, zu resignieren“, sich „unter die Banken, unter Deutschland [und] unter Europa“ zu unterwerfen. „Wir haben“, so Todd, „nur die Wahl zwischen Knechtschaft und Rassismus. Aber man kann sich nicht freiwillig für die Knechtschaft entscheiden“. Macron würde als Präsident dafür sorgen, dass Frankreich „durch die eigene Elite zerstört“ wird.
Wann haben sie das letzte Mal von einem Intellektuellen derart scharfe Kritik am allgegenwärtigen Neoliberalismus deutsch-brüsseler Spielart gelesen? Vielleicht dann, wenn Sie ein regelmäßiger Leser der Texte und Interviews von Didier Eribon sind. Eribon weigert sich ebenfalls, vorschnell der Deutungshoheit der Eliten nachzugeben. Der momentan zu beobachtende Siegeszug der sogenannten Rechtspopulisten sei vor allem die Schuld der Sozialisten. Die hätten „mit ihrer Verbeugung vor dem Neoliberalismus die Grundsätze von Sozialismus und Sozialdemokratie verraten“, „damit das Band zwischen der Arbeiterklasse und den linken Parteien zerschnitten [und] den Raum freigemacht, der dann von den Rechtsradikalen besetzt werden könnte“. Der Wechsel so vieler abgehängter Wähler vom linken ins rechtsextreme Lager sei eine Art „politische Notwehr der unteren Schichten“. Wenn Sie nach einer Erklärung für den Höhenflug des Front National suchen – hier haben Sie sie.
Lesen Sie dazu bitte auch: Warum sind rechte Parteien und Ideologien so einflussreich geworden? Der französische Soziologe Eribon hat eine plausible Antwort
Es ist schon fast peinlich, mit welch intellektueller Kleingärtnerei Deutschlands Linksliberale auf die Situation reagieren, die Todd und Eribon messerscharf analysiert haben. Weil es ja nun gegen die Rechten ginge, sei es die moralische Pflicht des Wählers, über das vorgehaltene Stöckchen zu springen und den neoliberalen Dandy Macron zu wählen; also die Knechtschaft freiwillig zu begrüßen. Diese Argumentation geht in ihrer gesamten Groteske natürlich erst auf, wenn man sich einmal das ganze Bild betrachtet.
Zunächst haben die alten politischen Kräfte den Neoliberalismus an Bord gebracht und dessen Opfer haben sich mehr und mehr von diesen Kräften ab- und dem Rechtspopulismus hinzugewandt. Und nun soll eine Überdosis Neoliberalismus Europa vor dem Rechtspopulismus bewahren? Das ist doch absurd.
Sogar noch absurder ist, dass nun eine alternativlose Situation konstruiert wird, in der der Wähler aufgefordert wird, dem Neoliberalismus ein sagenhaftes Plebiszit zu verschaffen; nur um den Rechtspopulismus zu verhindern. Und dann? Dann erzeugt die Überdosis Neoliberalismus eine Überdosis Rechtspopulismus und wir sitzen in genau der Patsche, in die uns unsere linksliberalen Eliten zielsicher manövriert haben. Zuerst unterwerfen wir uns freiwillig der Knechtschaft und laufen dann den Faschisten hinterher, die uns „befreien“ wollen.
Macron wählen?
Im Guardian stellt Olivier Tonneau unter Berufung auf Pariser Journalisten fest, dass die Konstellation der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen wahrscheinlich das Ergebnis einer umfassenden Kampagne sei; auch um zu verhindern, dass ein linker Kandidat in den Élysée-Palast einzieht. Auch wenn sich Tonneaus Anschuldigungen kaum beweisen lassen, so dürfte da schon etwas dran sein. Es ist natürlich kein Zufall, dass ausgerechnet die beiden linksliberalen Blätter Liberation und Le Monde ungewöhnlich deutlich gegen Mélenchon und für Macron Position bezogen haben.
In den aktuellen Umfragen liegt Macron mit stolzen 19 Punkten vor Le Pen. Das Argument, man müsse nun auf jeden Fall Macron seine Stimme geben und den vor der Tür stehenden Faschismus in letzter Sekunde verhindern, ist also ohnehin unsinnig. Im Gegenteil. Ein 60:40 Sieg würde von Macron und den Medien als klarer Wählerauftrag interpretiert, das Land nach seinen neoliberalen Vorstellungen umzubauen. Jedoch würde auch ein knapper Sieg Macrons als Signal für mehr Neoliberalismus gewertet – denn dann gelang es ihm ja nur knapp, den Faschismus zu verhindern, und nun müsse die gesamte Gesellschaft sich hinter Macron stellen, um Europa zu retten. Misik und Cohn-Bendit würden applaudieren. Aber das will nichts heißen.
Auf die Idee, dass man dem Faschismus durch eine Bekämpfung des Neoliberalismus den Sauerstoff entziehen kann, kommt seltsamerweise niemand. Spätestens wenn Angela Merkel im Bundestag „den Neoliberalismus in seinem Lauf, hält weder Ochs´ noch Esel auf“ singsangt, sollte auch unsere linksliberalen Eliten der Verdacht kommen, dass sie auf der falschen Seite stehen. Doch dann könnte es bereits zu spät sein.
Wenn ich die Wahl zwischen Pest und Cholera – nun habe ich es doch geschrieben und bin für Robert Misik ein „unterschlauer Linker“ – habe, wähle ich … gar nicht. Und genau dies haben auch rund zwei Drittel der Wähler vor, die in der ersten Runde Jean-Luc Mélenchon ihre Stimme gegeben haben. Aber diese Entscheidung muss natürlich jeder selbst treffen. Auch Didier Eribon und Emmanuel Todd haben bereits angekündigt, eine ungültige Stimme abzugeben. Jean-Luc Mélenchon wird wählen – wen, das sagt er nicht; nur, dass es nicht Marine Le Pen sein wird.
[«*] Misik und Cohn-Bendit sind zwar Österreicher und Deutsch-Franzosen, beschäftigen sich in ihrem jüngeren publizistischen Schaffen aber vornehmlich mit Deutschland und sind deutsche Muttersprachler, weshalb ich sie – vollkommen ohne völkische Hintergedanken – zu den deutschen Intellektuellen zähle.