Venezuela – Rechte Offensive, defensiver Chavismus und die “plombierte” Politik
Auch gestern waren die Demonstrationen in Venezuela eine der Top-Nachrichten in Deutschland. Leider konzentrieren sich die meisten deutschen Medien jedoch auf die Proteste gegen die venezolanische Regierung und ignorieren meist die nicht minder kleinen Aufmärsche der Anhänger der Regierung. Unser Südamerika-Korrespondent Federico Füllgraf versucht für die Leser der NachDenkSeiten eine Einordnung der jüngsten Geschehnisse in Venezuela vorzunehmen.
Massenaufmärsche der Opposition konterkariert von Aufmärschen der Regierungsanhänger
Wie bereits gegen die Anfang April vom Obersten Gericht verordnete und wieder zurückgenommene Ausschaltung des Parlaments und die Immunität der Abgeordneten griff auch am Vorabend der Proteste die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wieder in die öffentliche Debatte ein: Es sei ein “verfassungsmäßiges Recht, zu friedlichen Demonstrationen aufzurufen… Die Verantwortlichen für die Sicherheitsorgane müssen das Recht auf friedliche Proteste bei strikter Einhaltung der Menschenrechte garantieren. „Verhandlungsbereitschaft sollte vor jeder Anwendung staatlichen Gewalt voll ausgeschöpft werden”, forderte Ortega, doch umsonst. Opposition und Regierung hatten längst auf Eskalierung gesetzt.
Die Bolivarische Nationalgarde (GNB) geriet unter Dauerbeschuss von Molotow-Cocktail-Artillerie sowie Steinhagel rechter Demonstranten und konterte mit Tränengas und Gummigeschossen. Dutzende Festgenommene, Dutzende Verletzte, drei Tote. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig der Erschießungen friedlicher Demonstranten in Caracas und Táchira.
Während die vom Oppositionsführer Henrique Capriles landesweit angeführten Protestler “¡No más dictadura!” (“Schluss mit der Diktatur!”) skandierten, verkündete seinerseits Präsident Nicolás Maduro vor tausenden regierungstreuen Demonstranten, die Sicherheitskräfte hätten “einen terroristischen Staatsstreich auseinandergenommen”. In einem Atemzug bot er der Opposition die Wiederaufnahme des seit Monaten unterbrochenen Dialogs an, machte jedoch gleichzeitig einen Rückzieher: Er werde “keinen Millimeter nachgeben”.
Soweit die vorläufige Zahlen- und Wortbilanz der “Mutter aller Demonstrationen”, wie die konservative Opposition ihre dieswöchigen Aufmärsche ankündigte, die jedoch längst nicht den Zulauf der Massenproteste vom Monatsbeginn hatten.
Forderungen und Auftritt der Opposition
Die neuerlichen, lautstarken Proteste sind u.a. eine Reaktion auf die vor wenigen Wochen von der Regierung Maduro dem Hauptführer der Opposition und bisherigem Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, auferlegte Aberkennung seiner politischen Rechte und Ämterbekleidung für die Dauer der nächsten 15 Jahre. Das Verbot wurde mit der angeblichen Verwicklung Capriles in Korruption begründet.
Der rechte Oppositionsführer nannte jedoch vier Hauptforderungen der Massenproteste: die “Ausrufung freier Wahlen”, die “Freilassung politischer Gefangener” – darunter an erster Stelle der seit 2014 wegen Aufrufen zum gewaltsamen Sturz der Regierung inhaftierte Ex-Bürgermeister des Landkreises Chacao, Leopoldo López -, ferner die Schaffung sogenannter “humanitärer Kanäle” zur effizienteren Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten und schließlich die “volle Anerkennung der Nationalversammlung”, die mit Zweidrittelmehrheit von der rechten Opposition kontrolliert wird.
„Die Mission der venezolanischen Opposition besteht darin, die kapitalistischen Triebkräfte wieder in den Griff zu bekommen. Also Bedingungen zu schaffen für die Durchsetzung einer tiefgreifenden, wirtschaftspolitischen Radikalkur, mit Lohnkürzungen und Demontage des chavistischen Schutznetzes zur sozialen Absicherung der überwiegenden Mehrheit der werktätigen Bevölkerung, damit das Kapital wieder Überschüsse erzielt ”, kommentierte der uruguayische Wirtschaftswissenschaftler Rodrigo Alonso in der renommierten Wochenzeitschrift Brecha (“El mismo laberinto”, 10,04.2017).
Doch in der Einschätzung Alonsos „sind die besonneneren Köpfe der Opposition nicht darauf aus, schon kurzfristig den Regierungspalast Miraflores zu stürmen, sondern weiterhin auf den Verschleiß der Regierung [Maduro]” zu setzen“.
Kurzfristig, so folgert der Uruguayer, komme eine Übernahme der Regierung durch die Opposition nicht in Frage. Das Programm der venezolanischen Rechten hätte keine Aussichten auf Erfolg, es sei denn als Reaktion auf einen tosenden Zusammenbruch des Chavismo, der trotz aller Rückschläge noch über beachtliches politisches Kapital verfüge.
Demnach fällt der Nationalversammlung die realpolitische Rolle in der Strategie der Rechten zu, die Regierungsfähigkeit systematisch zu torpedieren und abzunutzen.
Reaktionen der USA und ihrer lateinamerikanischen Verbündeten
Donald Trumps Außenminister Rex Tillerson warf am Mittwoch, den 19. April, Maduro vor, er “verletze seine eigene Verfassung”, vermied es aber, auf die Anschuldigung Maduros einzugehen, wonach die USA einen “Staatsstreich” gegen Venezuela vorbereiteten.
Kevin Sullivan wies als Vertreter der USA vor dem Ständigen Rat der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) die Anschuldigung als völlig “unbegründet” zurück. „Nichts liegt den USA ferner, so etwas haben wir nicht getan und würden es nicht tun” (sic!), erklärte Sullivan mit dem Brustton der Überzeugung.
Schärfere Töne schlug allerdings Mark Toner, Sprecher des State Department, an. In einem Communiqué forderte er, dass die Verantwortlichen für die “kriminelle Repression der friedlichen und demokratischen Aktivitäten und die Untergrabung der demokratischen Institutionen und Handlungen wegen ihrer frontalen Verletzung der Menschenrechte einzeln zur Rechenschaft gezogen werden”.
Angeführt von den Regierungen Brasiliens und Argentiniens schlossen sich Chile, Kolumbien, Costa Rica, Mexiko, Paraguay, Peru und Uruguay einer Erklärung an, die „aufs Energischste die in Venezuela entfachte Gewalt verurteilt und den Verlust weiteren menschlichen Lebens bedauert”.
Allerdings bemühte sich die am Abend des 20. April der Presse überreichte Erklärung nicht um politische Entspannung, sondern schloss sich nahezu 1:1 den Forderungen der rechten venezolanischen Opposition unter Führung Henrique Capriles an.
„Es ist ein Imperativ der Stunde, dass die brüderliche Bolivarische Republik Venezuela auf den Boden der demokratischen Institutionen zurückkehrt und dass ihre Regierung verbindliche Termine des Wahlkalenders einhält, die inhaftierten politischen Gefangenen freilässt und die Trennung der verfassungsmäßigen Gewalten sicherstellt”.
“Wie entkommt man dem Labyrinth?”
Die Frage soll Hugo Chávez einst mit Blick auf die Zukunft seiner “bolivarischen Revolution” gestellt haben. Sie ist aktueller denn je.
Zwischen 2013 und 2016 schrumpften die Deviseneinnahmen Venezuelas aus dem Ölexport von jährlich 80 Milliarden Dollar auf 18 Milliarden Dollar. Die Devisenverknappung machte eine gleichzeitige Abbremsung der Importe nötig, die allein zwischen 2015 und 2016 um 50 Prozent einbrachen und das Land vor zusätzliche Versorgungsprobleme stellte.
„Der Chavismo zögert mit der Durchsetzung der einschneidenden wirtschaftlichen Maßnahmen, die der venezolanische Kapitalismus einfordert, ist aber gleichzeitig zu schwach, um eine radikalere Rationierung und eine Wirtschaftsplanung zur Überwindung der Krise und zum Schutz der sozioökonomischen Rechte seiner Bevölkerung durchzusetzen”, gibt Rodrigo Alonso zu bedenken.
Einerseits versucht die Regierung Maduro mit der Wette auf den Wiederanstieg des Ölpreises und dem Werben für ausländische Investitionen den Devisenfluss wiederherzustellen, ohne jedoch die Verschuldung mit noch drakonischeren Importkürzungen zu stabilisieren. Andererseits bemüht sie sich um die soziale Absicherung ihrer politischen Basis mit der direkten Preis- und Versorgungskontrolle von lebensnotwendigen Gütern und der Beibehaltung von Zuschüssen und Sozialprogrammen.
„Doch angesichts der tiefgreifenden Probleme verliert die soziale Förderung ständig an Kaufkraft, die Preiskontrollen bewirken nur noch mehr Versorgungsengpässe und die Schwarzmärkte verschärfen die Szenerie um ein Vielfaches mehr”, kommentiert Alonso. Und sieht keinen Ausweg aus dem Labyrinth: „So gesehen, befindet sich der Kapitalismus in Venezuela im plombierten Zustand… Um diesen Widerspruch kreist die Konjunktur des Landes seit drei Jahren”.
Das Grundproblem Venezuelas dreht sich daher um die Frage, wie kann das gegenwärtige Gleichgewicht der politischen Kräfte überwunden werden, das das Land in ein Szenario des handlungsunfähigen, “katastrophalen Patts” versenkt hat.