Der Westen tötet in Syrien und Deutschland tötet mit. Die weiße Weste hat sich blutrot gefärbt und der Bundestag muss das Mandat neu verhandeln

Jens Berger
Ein Artikel von:

Deutschland echauffiert sich gerne über die russischen Luftangriffe in Syrien. Zu Recht. Laut der NGO Airwars haben russische Luftangriffe in den letzten eineinhalb Jahren immerhin mindestens 8.324 zivile Todesopfer verursacht[1]. Wer nun mit dem Finger nach Moskau zeigt und dort einseitig die Schuldigen verortet, sollte jedoch innehalten. Denn dieser März war der blutigste Monat in der Geschichte der westlichen Luftangriffe im Bürgerkrieg in Syrien und im Irak. Laut Airwars wurden mindestens 1.300 Zivilisten durch Bomben westlicher Kampfflugzeuge umgebracht. Nun kam auch noch heraus, dass deutsche Tornados in mindestens einem Fall der westlichen „Anti-ISIS-Allianz“ offenbar strategisch wichtige Aufklärungsfotos übermittelt haben, die zu einem Luftangriff auf ein offenbar mit Flüchtlingen besetztes Schulgebäude in der Nähe der syrischen Stadt Rakka geführt haben, bei dem je nach Quelle zwischen 33 und 420 Zivilisten zu Tode kamen. Deutschland tötet in Syrien mit und die bisherigen offiziellen Statements der Bundesregierung sind ein Hohn für die Hinterbliebenen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In den hiesigen Medien tauchen Meldungen über zivile Todesopfer in Syrien und im Irak meist nur dann auf, wenn man entweder Russland dafür verantwortlich machen kann oder der Vorfall besonders spektakulär ist. In diesem Monat war dies bei zwei Bombardements auf Krankenhäuser, einem Bombardement auf ein Schulgebäude und einem Drohnenangriff auf eine Moschee der Fall. In allen diesen Fällen zeichnete das US-Militär für die zivilen Opfer verantwortlich. Diese besonders spektakulären Kriegsverbrechen – anders kann man die grob fahrlässige Inkaufnahme ziviler Opfer nicht bezeichnen – lenken jedoch davon ab, dass sich derartige Vorfälle beinahe täglich abspielen. Im Anhang habe ich für Sie einmal auf Basis der Meldungen von Airwars eine kleine Liste[*] zusammengestellt, die nur die Vorfälle beinhaltet, bei denen es mehr als zehn zivile Opfer zu beklagen gab. Eine vollständige Liste würde hier den Rahmen sprengen. Sie sehen: Der Terror gegen die Zivilbevölkerung ist keine Ausnahme, sondern tagtägliche Realität.

Deutschland beteiligt sich aktiv an diesem Terror. Begründet mit den Anschlägen in Paris vom November 2015 hat der Bundestag deutsche Tornados ins Kriegsgebiet entsandt, die vom türkischen Stützpunkt Incirlik aus Aufklärungsdaten zu vermuteten IS-Stellungen im Irak und in Syrien beschaffen und der „Koalition“ zur Verfügung stellen. Zumindest verbal wird dieser Einsatz nicht als Kriegsbeteiligung verkauft. Deutschland liefert schließlich nur Fotos und Daten – was damit geschieht, ja damit haben die Deutschen nichts zu tun. Wir sind die Guten mit der weißen Weste und zeigen mit dem Finger auf Russland.
Wie zynisch die Bundesregierung das alltägliche Töten von Zivilsten durch die westliche „Koalition“ verharmlost, zeigt sich beispielshaft in der Antwort von Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz:


Quelle: Tilo Jung via YouTube

Russland und Syrien sollen demnach „wissentlich und willentlich” Krankenhäuser und Schulen angegriffen haben. Das mag sein, aber wie sieht es bei den Angriffen auf Krankenhäuser und Schulen durch westliche Kampfflugzeuge aus? Das sei – so Seibert – etwas „vollkommen Anderes“. Dies seien natürlich nur „Unfälle“ – Einzelfälle, stets bedauerlich und natürlich nie absichtlich. Ob Steffen Seibert das selbst glaubt, vermag ich freilich nicht zu sagen. Angesichts der Liste solcher „Unfälle“ binnen eines einzigen Monats ist es jedoch eine Beleidigung unserer Intelligenz, hier von Einzelfällen zu sprechen. Wenn jeden Tag mehrere solcher Angriffe mit jeweils hohen zweistelligen zivilen Opferzahlen zu vermelden sind, dann sind dies keine bedauerlichen Einzelfälle.

Beim viel diskutierten „Raserurteil“ von Berlin hieß es, dass junge Männer, die billigend in Kauf nehmen, dass bei ihren Straßenrennen Unbeteiligte ihr Leben verlieren könnten, nach deutschem Gesetz wegen Mordes verurteilt werden können. Welcher Straftatbestand trifft dann auf Militärs und Politiker zu, die tagtäglich offenbar billigend in Kauf nehmen, dass bei den von ihnen befohlenen Angriffen zahlreiche Unbeteiligte, Zivilsten, Frauen und Kinder ums Leben kommen? Und da hilft es auch nicht, sich damit herauszureden, dass deutsche Militärs ja „nur“ Aufklärungsdaten liefern. Deutschland tötet mit – wer letzten Endes den Abzug drückt, ist dabei unerheblich.

Das Bundestagsmandat für die deutsche Beteiligung an der „Operation Inherent Resolve“ wurde nicht unter der Vorgabe erteilt, dass deutsche Militärs aktive Beihilfe zu einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung leisten. Die Liste der zivilen Opfer dieses Monats ist allerdings derart eindeutig, dass der Bundestag die deutsche Beteiligung auf Basis dieser Entwicklungen dringend neu verhandeln muss!

Liste der Militäroperationen der „Koalition“ in Syrien und im Irak, bei denen es im März mehr als zehn zivile Opfer zu beklagen gab

  • 1. März – Al Tabaqa/Syrien – 12 Zivilisten, darunter 4 Kinder, sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“.
  • 1. März – Mosul/Irak – 50-80 oder mehr Zivilisten sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“ auf eine Moschee.
  • 2. März – Mosul/Irak – 20 Zivilisten (hauptsächlich Kinder und Frauen) sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“ auf ein Wohngebäude.
  • 2. März – Mosul/Irak – 14 Zivilisten (drei komplette Familien) sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“, der gegen IS-Einheiten gerichtet war.
  • 3. März – Rakka/Syrien – bis zu 12 Zivilisten sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“.
  • 4. März – Mosul/Irak – 36 bis 40 Zivilisten (hauptsächlich Kinder und Frauen) sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“ auf einen Bahnhof.
  • 5. März – Mosul/Irak – 64 bis 130 Zivilisten sterben beim Angriff auf ein Regierungsgebäude.
  • 6. März – Mosul/Irak – 16 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 6. März – Mosul/Irak – 18 bis 33 Zivilisten sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“ auf einen Bahnhof.
  • 6. März – Mosul/Irak – 41 bis 42 Zivilisten (darunter 23 Kinder) sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 6. März – Mosul/Irak – 11 bis 55 Zivilisten (darunter 23 Kinder) sterben bei einem Luftangriff der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 6. März – Rakka/Syrien – bis zu 12 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 8. März – Rakka/Syrien – 14 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 9. März – Mosul/Irak – bis zu 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 9. März – Rakka/Syrien – 7 bis 14 Zivilisten (darunter 6 Kinder) sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Dorf nahe Rakka.
  • 9. März – Mosul/Irak – 12 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 10. März – Mosul/Irak – 19 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 11. März – Rakka/Syrien – 12 bis 22 Zivilisten (darunter 6 Kinder und 7 Frauen) sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 11. März – Aleppo/Syrien – 8 bis 10 Zivilisten (darunter 6 Kinder und 7 Frauen) sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 11. März – Mosul/Irak – 12 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf das Stadtzentrum von Mosul.
  • 13. März – Mosul/Irak – 25 bis 30 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf das Stadtzentrum von Mosul.
  • 13. März – Mosul/Irak – 29 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 14. März – Mosul/Irak – 12 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Krankenhaus.
  • 14. März – Mosul/Irak – 26 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohngebäude. Bombardiert wurde das Haus, weil ein IS-Kämpfer auf dem Dach saß.
  • 15. März – Mosul/Irak – 4 bis 24 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohngebäude.
  • 16. März – Mosul/Irak – 21 bis 34 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 16. März – Aleppo/Syrien – 37 bis 62 Zivilisten sterben bei einem US-Drohnenangriff auf eine vollbesetzte Moschee.
  • 17. März – Mosul/Irak – 61 bis 520 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel, in dem besonders viele Flüchtlinge untergebracht waren.
  • 17. März – Mosul/Irak – 40 bis 80 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 18. März – Mosul/Irak – 13 bis 50 Zivilisten sterben bei Artillerie- und Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 19. März – Rakka/Syrien – 9 bis 66 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf einen Bauernhof-Komplex.
  • 19. März – Rakka/Syrien – 10 bis 15 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 19. März – Mosul/Irak – 46 bis 47 Zivilisten (darunter 28 Kinder) sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 20. März – Mosul/Irak – mehr als 43 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 20. März – Mosul/Irak – 55 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 20. März – Mosul/Irak – 11 bis 17 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 20. März – Mosul/Irak – 49 bis 50 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 21. März – Rakka/Syrien – 33 bis 420 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Schulgebäude, in dem Flüchtlinge untergebracht waren.
  • 21. März – Rakka/Syrien – 15 bis 20 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 20. März – Mosul/Irak – 20 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 22. März – Mosul/Irak – 12 bis 24 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 22. März – Mosul/Irak – 12 bis 24 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 22. März – Mosul/Irak – 15 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 22. März – Rakka/Syrien – 40 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf eine Großbäckerei.
  • 22. März – Mosul/Irak – 12 Zivilisten sterben bei Angriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 24. März – Mosul/Irak – 15 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 26. März – Mosul/Irak – mehr als 20 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 24. März – Mosul/Irak – 23 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.
  • 26. März – Mosul/Irak – 85 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Krankenhaus.
  • 28. März – Mosul/Irak – 19 bis 53 Zivilisten sterben bei Luftangriffen der „Koalition“ auf ein Wohnviertel.

[«1] In einer früheren Version hieß es, russische Luftangriffe hätten 1.900 zivile Todesopfer verursacht. Diese Darstellung ist falsch.

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