Hartz-IV-Sätze für Kinder und Erwachsene erhöhen!
Mit dem „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV), das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, wurde die Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II ersetzt – eine reine Fürsorgeleistung, die nicht mehr den früheren Lebensstandard zum Maßstab der Leistungsgewährung für Langzeitarbeitslose macht. Dies führte zur Schlechterstellung von Millionen Menschen sowie zur Aufspaltung der bisherigen Sozialhilfeempfänger/innen in erwerbsfähige, die Alg II beziehen, einerseits und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten, andererseits. Daraus wiederum erwuchsen neue Gefahren einer Stigmatisierung dieser Personenkreise nach dem Grad ihrer Nützlichkeit bzw. ihrer ökonomischen Verwertbarkeit. Von Christoph Butterwegge.
Die drastischen Verschlechterungen trafen nicht nur frühere Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe, z.B. Frauen, deren Ehemänner mit ihrem Einkommen über den neuen, niedrigeren Freibeträgen lagen. Auch jene Empfänger/innen von Sozialhilfe, die nicht erwerbsfähig sind, also nicht mindestens drei Stunden täglich arbeiten können, müssen Einbußen hinnehmen. Durch den Wegfall der meisten wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für Kleidungsstücke wie einen Wintermantel für Kinder oder die Reparatur defekter Haushaltsgeräte wie einer Waschmaschine, die man bei der Sozialhilfe vorher zusätzlich beantragen konnte, sowie deren Umstellung auf einen neuen, pauschalierten und gegenüber dem früheren nur leicht angehobenen Eckregelsatz leiden primär Familien mit Kindern, deren Bedarf in dieser Hinsicht ausgesprochen hoch ist.
Dass die Bundesregierung die durch Hartz IV bewirkte Kürzung bei den ärmsten Kindern nur zum Teil, nämlich bei den 7- bis 13-Jährigen Sozialgeldbezieher(inne)n, und zwar ausgerechnet im Rahmen ihres „Konjunkturpaketes II“ wieder zurücknimmt, indem sie deren Regelsatz ab 1. Juli 2009 von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes (der erwachsenen Haushaltsvorstände) anhebt, zeigt zur Genüge, dass sie das Wohl der Betroffenen nie ernsthaft im Auge hatte. Die für 2009/10 geplanten Steuererleichterungen kommen zwar auch den Geringverdienern zugute, sind aber eher Tropfen auf den heißen Stein. Dringend nötig wäre eine soziale Grundsicherung, die den Namen wirklich verdient, was eine deutliche Erhöhung der Hartz-Regelsätze einschließt.
Am 27. Januar 2009 hat das Bundessozialgericht den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder als nicht grundgesetzkonform beurteilt und die Angelegenheit dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zur höchstrichterlichen Entscheidung vorgelegt. Es wird Zeit, die soziale Ungerechtigkeit zu beenden, dass Kinder unter 14 Jahren mit 60 Prozent und ältere Kinder bzw. Jugendliche mit 80 Prozent des Erwachsenen-Regelsatzes abgefunden werden. Kinder wachsen noch, weshalb sie mehr Kleidung und häufiger neue Schuhe als Erwachsene brauchen. Dem hat der Gesetzgeber bisher nicht Rechnung getragen. Vielmehr wurden die Regelsätze willkürlich festgelegt. Es handelte sich um eine politische Größe, den sog. Eckregelsatz für die Haushaltsvorstände, zum 1. Januar 2005 mit 345 Euro im Monat anzusetzen. Davon pauschal 60 bzw. 80 Prozent für Kinder abzuleiten, trägt den spezifischen Bedürfnissen von Kindern überhaupt nicht Rechnung.
Um es plastisch zu machen: Wenn man einem Kind unter 14 Jahre heute 211 Euro im Monat zubilligt, kann es 1,79 Euro im Monat für Schulmaterialien ausgeben oder 2,62 Euro pro Tag für Nahrung. Diese Beispiele zeigen, dass man mit dem genannten Beitrag gar nicht auskommen kann, denn allein das Mittagessen kostet in mancher Kita schon 2 Euro. Erst recht kann das Kind nicht an gesellschaftlichen, kulturellen und Bildungsprozessen teilnehmen, denn Nachhilfeunterricht, die Kinokarte und der Theaterbesuch kosten normalerweise Geld, das Hartz-IV-Bezieher/innen nicht haben.
Die jeweiligen Bedarfe müssen durch unabhängige Sachverständige und entsprechend ausgestattete Forschungsinstitute unter Beteiligung von Betroffenen ermittelt werden, ohne dass sie jedem Einzelfall gerecht zu werden vermögen. Für Kinder unter 7 Jahren erscheinen 280 Euro als hinreichend, für solche zwischen 7 und 13 Jahren sollte der Regelsatz mindestens 360 Euro und für 14- bis 18-Jährige müsste er ca. 400 Euro betragen, damit wenigstens ihr soziokultureller Mindestbedarf gesichert ist. Auch den sog. Eckregelsatz für den (erwachsenen) Haushaltsvorstand auf mindestens 450 Euro anzuheben. Das würde auch die Wirtschaft beleben helfen, weil Arme gezwungen sind, ihr gesamtes Einkommen fast unmittelbar in den Konsum zu stecken. Das wäre für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik finanziell tragbar, sozial gerecht und gleichzeitig ökonomisch sinnvoll.
Die der globalen Finanzmarktkrise offenbar auf dem Fuße folgende Weltwirtschaftskrise verschärft durch eine bereits wieder stark wachsende Arbeitslosigkeit die soziale Schieflage noch. Es ist zu befürchten, dass für die Armutsbekämpfung nach den für das Rettungspaket zugunsten der Banken nötigen Riesensummen in den Staatshaushalten eher weniger Geld zur Verfügung stehen. Neue, auf Leistungskürzungen zielende Reformen sind deshalb keineswegs ausgeschlossen. Wenn die staatlichen Beteiligungen wirkungslos bleiben und die staatlichen Bürgschaften fällig werden, müssen Arme und Mittelschichten die Suppe, die uns Banker und Börsianer eingebrockt haben, auslöffeln – vermutlich in Form von „Schuldengrenzen“ oder „Schuldentilgungsplänen“, welche nichts anderes als weitere „Sparprogramme“ darstellen. Gleichzeitig wird denen unter die Arme gegriffen, die ohnehin zu den Profiteuren der neoliberalen Modernisierung gehören.
Aufgrund der starken Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe, von Ehescheidungen und zahlreicher Kürzungen im Sozialbereich dürfte sich die Struktur der Armutspopulation demnächst wieder in Richtung der Älteren verschieben. Ausdrücklich genannt seien: die Teilprivatisierung der Altersvorsorge; die wiederholte Verringerung der Beiträge zur Rentenversicherung, welche die Bundesanstalt bzw. -agentur für Arbeit im Falle der Erwerbslosigkeit entrichtet; die Einführung des „Nachhaltigkeits-“ und des „Nachholfaktors“; die irrigerweise als „Nullrunde“ bezeichnete Aussetzung der jährlichen Rentenanpassung 2004 ff.; künftig zu erwartende höhere Abschläge durch die Anhebung des Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre. Mit besonderer Härte trifft die Heraufsetzung des Rentenalters (unter)durchschnittlich Verdienende. Wer von den Betroffenen eine sog. Riester-Rente abgeschlossen hat, kann darauf nicht zurückgreifen, weil sie auf die Grundsicherung im Alter voll angerechnet wird. Da es weder genügend Stellen für ältere Arbeitnehmer/innen noch Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der beruflichen Weiterbildung gibt, die eine Annäherung des faktischen Renteneintrittsalters an die bisherige Regelaltersgrenze von 65 erlauben würden, bedeutet die Rente mit 67 faktisch eine Rentenkürzung. Nach dem Auslaufen der sog. 58er-Regelung werden Langzeitarbeitslose künftig mit 63 Jahren zwangsverrentet, was ihre Rentenansprüche gleichfalls verringert.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt erschienen seine Bücher „Krise und Zukunft des Sozialstaates“, „Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland“ sowie „Kritik des Neoliberalismus“.