Das zerrissene Land – Eine Rezension von „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, zeigt schon mit der Wahl seines Buchtitels, wie wenig von den Verheißungen der sozialen Marktwirtschaft, die doch so gern auf den „Vater der sozialen Marktwirtschaft“, Ludwig Erhardt, und seinen geflügelten Slogan „Wohlstand für Alle“ rekurrieren, inzwischen übriggeblieben ist. Kein Wohlstand für Alle – das ist das bedrückende Resümee Schneiders schon im Titel. Doch ist dem wirklich so? Und wenn Ja, was können, was müssen wir tun, um wieder mehr Gerechtigkeit in unsere Gesellschaft einziehen zu lassen? Gerade in Zeiten, in denen die SPD vor Bundestagswahlen das Thema der sozialen Gerechtigkeit für sich (wieder einmal) neu entdeckt, sollte man diesem Thema ernsthaft auf den Grund gehen, um nicht stets aufs Neue leeren politischen Versprechungen aufzusitzen.
Von Lutz Hausstein[*].
Lesen Sie bitte hierzu eine weitere Rezension von Ulrich Schneiders Buch durch Thomas Trares: Rezension von Ulrich Schneiders „Kein Wohlstand für alle!?“
Wie sich Deutschland zerlegt
Im ersten Teil seines Buches widmet sich Ulrich Schneider der Zustandsbeschreibung des deutschen Sozialstaates in all seinen verschiedenen Bereichen. Dabei geht Schneider in seiner Analyse auch immer wieder in die Vergangenheit zurück und skizziert so, was noch vor 10, 20 oder 30 Jahren selbstverständliche Realität war und was heute gern als sozialistische Umverteilungsideologie verteufelt wird. Diese Rückschau ist nicht nur für die Jüngeren sehr lehrreich, da sie ihnen zumeist Informationen vermittelt, die heutzutage gern totgeschwiegen werden. Auch älteren Lesern, die diese Zeiten bewusst miterlebt haben, können diese Fakten in Erinnerung rufen, was schon lange verdrängt schien.
Es taucht aus der Erinnerung wieder auf, wie freudig man dazumal auf den ursprünglich noch positiv besetzten Begriff „Reformen“ reagierte, insbesondere nach den quälend langen Jahren des „ewigen Bundeskanzlers“ Helmut Kohl. Reformen dieser versteinerten, konservativen Politik weckten Hoffnungen in der Bevölkerung auf Veränderungen. Diese kamen anschließend auch – wenngleich völlig anders und gerade entgegengesetzt als man glaubte. Hatten schon die Bundesregierungen unter Kohl den Sozialstaat ausgehöhlt, so erfolgte nun unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder ein regelrechter Kahlschlag. Doch nicht nur die vielen „Reformen“ zeigt Schneider auf, auch die vielfältigen Privatisierungen von städtischer Infrastruktur wie Schwimmbädern, Wohnungsgesellschaften, Wasser- und Stadtwerken bis hin zu Post, Telekom, Bundesbahn und sogar Kranken- und Pflegeeinrichtungen lassen den Leser in dieser Kompaktheit erkennen, wie in nur wenigen Jahren sämtliches Tafelsilber verscherbelt wurde. Weil privat ja alles besser kann, so der immer wieder verbreitete Nimbus.
Doch so heftig wie Schröder hatte noch nie ein Bundeskanzler Hand an den deutschen Sozialstaat gelegt. Während die rot-grüne Regierung einerseits ein riesiges Steuersenkungsprogramm für die Vermögenden durchzog, folgten nun die Reformen, die vor allem den ärmeren Bevölkerungsteil schwer belasteten. Eine Rentenreform, die das bisherige Rentenniveau drastisch senkte und damit maßgeblich für die rapide steigende Altersarmut verantwortlich zeichnet. Eine Reform der Leiharbeit, die durch deren Deregulierung eine Vielzahl unsicherer, zumeist auch noch schlechtbezahlter Arbeitsplätze zuungunsten sicherer, besser bezahlter Arbeit schaffte. Und zu (un-)guter Letzt natürlich die „Mutter aller Reformen“, Hartz IV. Bisherige eigentliche Versicherungsnehmer der Arbeitslosenversicherung stürzten nun innerhalb kürzester Zeit auf Sozialhilfeniveau und konnten unter dem Zwang von Sanktionen und der Aberkennung all ihrer früheren Qualifikationen in einen nichtaufnahmefähigen Markt hineingepresst werden. Der Preis dafür war ein niedrigeres Lohnniveau bei schlechteren Arbeitsbedingungen und unsicheren Jobs, wobei an anderer Stelle andere Arbeitskräfte durch diesen Druck aus diesem System herauskatapultiert wurden.
All diese Fakten führt Schneider penibel an, er zeichnet die Entwicklungen der vergangenen 20, 30 Jahre nach und benennt die Ursachen in gezielten politischen Entscheidungen. Entscheidungen, die zu einer weiter zunehmenden Spaltung in immer mehr Arme und noch reichere Reiche in diesem zerrissenen Land führten und weiterhin führen. Eine Spaltung, die immer mehr Menschen unserer Gesellschaft als ungerecht empfinden. Und gerade mit Blick auf die Zukunft kann Ulrich Schneider überhaupt keine Entwarnung geben. Die schon heute über den Durchschnitt aller Altersgruppen angestiegene Altersarmut wird durch den baldigen Renteneintritt der Generationen, deren Erwerbsarbeitsleben vielfach auch von prekären Beschäftigungen und längerer oder wiederholter Arbeitslosigkeit gezeichnet sind, zukünftig noch weiter drastisch ansteigen. Nichts würde also weniger stimmen als „Wohlstand für Alle“.
Ulrich Schneider stellt sich dem Versuch entgegen, Armut mittels inhaltlicher Unredlichkeiten sowie statistisch unbrauchbarer Methoden kleinzurechnen. So geht er explizit auf die aktuelle Wendung ein, die Armutszahl mithilfe einer regionalen Armutsquote reduzieren zu wollen. Die Armut selbst würde dadurch aber nicht verringert werden. Gleichzeitig erkennt Schneider jedoch, dass in der Gesellschaft auch schon ein gewisser Gewöhnungseffekt an das hochproblematische Thema Armut eingetreten ist, dass zu viele Menschen abgestumpft sind und nur allzu gern den schönen Sonntagsreden der Politik glauben wollen. Dem stellt Ulrich Schneider die Fakten gegenüber. Zweifellos ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen seit 2005 zwar deutlich zurückgegangen, aber die Zahl der Einkommensempfänger auf Sozialhilfeniveau hat sich im selben Zeitraum von drei auf siebeneinhalb Millionen mehr als verdoppelt. Dem angeblich überbordenden Sozialstaat stellt er entgegen, dass seit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder als Bundeskanzler bis heute der Anteil der Arbeitslosenversicherung an den Sozialausgaben von 9 auf 3 Prozent und der Anteil der Rentenversicherung von 34 auf 31 Prozent gesenkt wurde.
Immer wieder wurden seit den 1980ern aus politischem Kalkül heraus meist Kürzungen bei gesellschaftlichen Randgruppen vorgenommen, die wenig politischen Widerstand aufzubauen in der Lage waren. Dabei betrifft es keineswegs nur Gesellschaftsbereiche, die einem spontan bei Sozialpolitik wie z.B. Hartz IV, Arbeitsförderung, Wohngeld o.ä. einfallen, sondern gleichfalls BAFÖG, Kindergeld, Renten, Kitas oder sozialer Wohnungsbau.
Warum wir es zulassen
Im zweiten Teil zeigt Ulrich Schneider, dass Armut schon lange kein Randphänomen ist, sondern einen zunehmenden Teil der Bevölkerung bis weit in die sogenannte Mittelschicht betrifft und warum wir das so akzeptieren. Besonders interessant wird es, als er erläutert, mit welchen Methoden und Mechanismen der Neoliberalismus es geschafft hat, dass wir alle uns von ihm immer stärker fremdbestimmen lassen und wie wir zunehmend zu selbstkasteienden Zombies geworden sind, die der Ökonomisierung privatester Lebensbereiche selbst das Wort reden. In den 1990ern gelang es dem Neoliberalismus, aus dem Menschen einen „Unternehmer seiner selbst“ zu machen, der in permanenter Konkurrenz zu allen und jedem steht und seine individuelle Position im Wettbewerb gegen jeden und ständig zu verbessern habe. Daraus ergab sich fast zwangsläufig die Auflösung der Gemeinschaft und die Darstellung des Einzelnen als scheinbar mündigen Entscheider über das eigene Leben und daraus folgender Verantwortung für Siegen oder Scheitern.
Doch der Widerspruch zwischen den Verkündungen des neoliberalen Eigenverantwortungs-Mantras sowie dem Wohlstand für alle und der zunehmenden Armut eines beständig steigenden Bevölkerungsanteils machte eine verstärkte Meinungsbeeinflussung notwendig. Teils durch großangelegte Kampagnen, teils durch permanentes Wiederkäuen der immerselben Phrasen durch Lobbyvereinigungen wie der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und durch als „Experten“ deklarierte Multiplikatoren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gelang es, die öffentliche Meinung in Richtung der gewünschten Meinung zu verschieben. Dabei scheut man auch nicht die flächendeckende Umdeutung von Begriffen ganz nach orwellschen Muster. Ein entscheidender Schritt zur Hegemonie des Neoliberalismus fand durch den Turnaround der Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder statt. Ursprünglich vor der Wahl noch mit Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit angetreten, setzte er anschließend genau das Gegenteil dessen um. Die neoliberale Umwälzung der Gesellschaft hatte damit den letzten Schritt zur Hegemonie im Parteiensystem abgeschlossen.
In einem weiteren Schritt versucht Ulrich Schneider die Annäherung an den schwierig zu erfassenden Begriff der Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit ist kein singulär definierbarer Begriff, wie auch ich in meinem 2012 erschienenen Buch „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“ versucht habe darzulegen. Sie wird erst ex negativo durch die Existenz und das Aufzeigen von Ungerechtigkeit greifbar. Schneider kämpft sich durch das Spannungsverhältnis von Ungleichheit und Gleichheit unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit und zeigt dabei auf, dass schlussendlich alle Ungerechtigkeiten der Ungleichheit durch das Totschlagargument der „Leistungsgerechtigkeit“ als angeblich gerecht umdeklariert werden. Dabei wird jedoch nicht beachtet, dass der Begriff Leistung völlig falsch interpretiert wird, nämlich als Erfolg und dieser dann ausschließlich gemessen am Geld. Letzten Endes also ein Zirkelschluss, der als Begründung für erhaltenes Geld (als Maßstab für angebliche Leistung) auf ebendieses erhaltene Geld (als Maßstab für die vermeintliche Qualität der Leistung) verweist.
Lesen Sie bitte hierzu auch den Auszug aus Ulrich Schneiders Buch: Wohlstand für alle? Mit dem Leistungsbegriff belügen wir uns gleich doppelt
Was wir dagegen tun können
Im dritten Teil seines Buches kommt Ulrich Schneider nun zum neuralgischen Punkt. So wichtig sorgfältige Analysen, das Sammeln von Informationen und Fakten und das Beklagen der festgestellten Ungerechtigkeiten ist, so bleibt es doch ohne Forderungen zur Abhilfe dieser Ungerechtigkeiten nur Stückwerk. Doch dafür, so Schneider, müssen wir wieder lernen, bisherige Dogmen und scheinbare Selbstverständlichkeiten und „Normalitäten“ infragezustellen, um überhaupt aus den langeingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern herauszukommen. So muss Gier wieder als das begriffen werden, was sie wirklich ist: eine krankhafte neurotische Störung, die unser aller Zusammenleben erheblich belastet. Statt permanenten Kampfes, Wettbewerbs und Verdrängung muss Solidarisierung und ein gemeinsames Miteinander zum Grundstock unseres Zusammenlebens werden. „Die Wirtschaft hat dem Menschen, nicht der Mensch der Wirtschaft zu folgen.“ (S. 145 f.)
Die stets vor großen Wahlen von SPD oder Grünen neuaufgelegten Forderungen bei Vermögens-, Einkommen-, Erbschaftssteuer oder die Erhöhung des Spitzensteuersatzes als maßgebliche Mittel einer Umverteilung haben jedoch nie über den Wahlkampf hinaus Bestand gehabt. Auf der anderen Seite sorgen Kürzungen der Einnahmeseite zuverlässig dafür, dass für konkrete Vorhaben der Armutsbekämpfung (Kinderarmut, Integration von Arbeitslosen oder Flüchtlingen, marode Infrastruktur, Schulen) nie das notwendige Geld vorhanden ist. Schneider verweist zurecht auf den Ausspruch des Theologen Oswald von Nell-Breuning: „Was politisch gewollt ist, ist auch finanzierbar. Was nicht finanziert wird, ist auch nicht gewollt.“ (S. 148)
Und so führt Ulrich Schneider detailliert auf, was gewollt werden müsste, was dringend notwendig ist. Für ihn ist der Umbau der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer echten Bürgerversicherung, in die alle einzahlen (also auch Selbstständige, Beamte, Parlamentarier) der zentrale Punkt seiner Forderungen. Basis müssen, so Schneider, nicht nur Löhne und Gehälter, sondern alle Einkommen (z.B. auch Mieteinnahmen und Kapitalerträge) sein. Die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze begründet Schneider damit, dass aktuell Manager mit einem mehrfachen Millionengehalt aufgrund dieser Grenze so behandelt werden, als ob sie nur 74.400 Euro jährlich verdienen würden. Dabei sollte neben dem Äquivalenzprinzip (Auszahlung entsprechend den Einzahlungen) auch zusätzlich das Solidarprinzip (der „Starke“ hilft dem „Schwachen“) angewandt werden. Eine Höchstrente ist für ihn deshalb ebenso folgerichtig wie eine Mindestrente. Am Beispiel der Schweiz beschreibt Schneider, dass es sehr wohl funktioniert, ganz entgegen dem Bild, das hiesige Meinungsmacher zeichnen.
Die Arbeitslosenversicherung hat den schlimmen Status, dem die Rentenversicherung erst noch entgegenstrebt, schon längst erreicht, so konstatiert Schneider. Deren Versicherungscharakter ist für viele Neu-Arbeitslose so ausgehöhlt, sie gleich auf Hartz-IV-Leistungen durchrutschen. Einerseits haben sie aufgrund prekärer, niedrig entlohnter Beschäftigungen – und das beginnt schon ab rund 11 Euro Stundenlohn bei einer Vollzeitstelle – Arbeitslosengeld in einer Höhe, die unter dem Hartz-IV-Regelsatz liegt. Andererseits verwehrt die Rahmenfrist, nach der der Neu-Arbeitslose innerhalb der letzten zwei Jahre vor Beginn der Arbeitslosigkeit mindestens zwölf Monate versicherungspflichtig gearbeitet haben muss, den Zugang zum Arbeitslosengeld. Um dies zu entschärfen, fordert Schneider eine Ausweitung der Rahmenfrist sowie eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld. Kritisch sei am Rande angemerkt, dass Ulrich Schneider in einem Nebensatz den Mythos des angeblichen Fachkräftemangels aufgreift, obwohl er an früheren Stellen des Buches mehrfach den Lohnverfall und zunehmend prekarisierte Arbeitsverhältnisse beklagt hatte. Diese Punkte sind jedoch, zumal in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, alles andere als Zeichen eines Mangels. Lohnverbesserungen in den betreffenden Branchen würden mehr oder minder schnell zu einem Ende des vermeintlichen Mangels führen.
Auch den Hartz-IV-Regelsatz kritisiert Ulrich Schneider, bleibt da jedoch nicht, wie die meisten anderen Kritiker, einzig an der Höhe und damit an der Oberfläche hängen, sondern er kritisiert das der Berechnung zugrundeliegende Statistikmodell grundsätzlich, denn es „gaukelt wissenschaftliche Objektivität und Seriosität vor“ (S. 172). Er kommt sogar zu dem Schluss: „Mit dem Statistikmodell wird Armut nicht bekämpft, sondern manifestiert.“ (S. 174) Er erkennt die (Un-)Logik der Berechnungsmethode, nach der anhand der Ausgaben eines an Armut leidenden Bevölkerungsteils das angebliche Existenzminimum eines anderen, ebenfalls armen Bevölkerungsteils berechnet werden soll – und hält dennoch für den Paritätischen mit seinen Forderungen bislang an dieser Methode fest. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der Paritätische in diesem Punkt in einem Umbruchprozess befindet, der erstmals in Schneiders Buch Ausdruck findet. Insofern wäre auch nachvollziehbar, dass sich Ulrich Schneider anschließend explizit für ein Warenkorbmodell ausspricht. Dass er dabei jedoch nicht den nächsten logischen Schritt geht und auf schon existente Warenkorbmodelle, wie z.B. die Studie „Was der Mensch braucht“ von 2015, zurückgreift, ist nicht konsequent. Auch mit einem weiteren, wichtigen Teil der Hartz-Gesetze, den Sanktionen, geht Schneider kritisch ins Gericht. Er arbeitet einerseits die Unsinnigkeit von Sanktionen aus, um anschließend – generell – die Verfassungsfestigkeit anzuzweifeln. So verweist er darauf, dass nur 10 Prozent der Sanktionen auf die Verweigerung einer Arbeitsaufnahme oder eines Kursbesuches zurückgehen – demzufolge auf ausschließlich die Verweigerung einer Arbeitsaufnahme entsprechend noch weniger. Zum anderen führt Schneider an, dass 2014 nur 4,9 Prozent der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger durch die Jobcenter in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten. Infolgedessen sind Sanktionen generell auch aus funktionaler Sicht im Sinne ihrer stets deklarierten, vermeintlichen „Nützlichkeit“ sinnlos.
Schneider weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors hin, der allen Arbeitslosen, auch gesundheitlich beeinträchtigten, mit einer weniger hochwertigen Bildung versehenen oder mit anderen persönlichen Problemen belasteten, abseits von Ein-Euro-Jobs und weiteren prekären Beschäftigungen eine sinnvolle Tätigkeit bietet, die eine ordentliche Lebensgrundlage darstellt. Er fordert eine bessere Familienpolitik i.S. eines solidarischen Familienlastenausgleichs; ein ausreichendes Kindergeld, damit ein Kind nicht zwangsläufig sofort in Armut führt. Er betont die Notwendigkeit von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die allen subjektiven Notwendigkeiten im Spannungsfeld von Arbeitsplatz und persönlicher Kinderbetreuung durch die Eltern oder einen Elternteil passgenau Rechnung tragen. Ein weiterer Punkt, den Schneider aufgreift, ist die Bereitstellung und Pflege der sozialen Infrastruktur vor Ort (Jugend-/Altenclubs, Vor- und Ganztagsschulen, Kitas, VHS, Beratungsstellen für Lernförderung, Schuldner-, Erziehungsberatung) und kultureller Infrastruktur (Museen, Theater, Sportstätten, Schwimmbäder, Parks).
Um dies stemmen zu können, ist eine Stärkung der kommunalen Finanzen dringend nötig, die ihnen auch angesichts der Schuldenbremse immer weniger Möglichkeit lassen, ihren ureigensten Aufgaben nachkommen zu können. Die erst kürzlich wieder in den Blickpunkt geratenen maroden Schulen bilden da nur die Spitze eines Eisberges, dessen weitaus größter Teil noch unter Wasser liegt. Der Schlüssel liegt in einer Einnahmenstärkung durch eine gerechtere Steuerpolitik, die gerade die Leistungsfähigeren, die in den letzten Jahrzehnten so massiv entlastet wurden, wieder mehr in die Pflicht nimmt. Diese zusätzlichen Einnahmen können Ausgaben für ein Investitionsprogramm zur Verbesserung der sozialen und kulturellen Infrastruktur, zur Erhöhung von Renten, der Grundsicherung und Kindergeld finanzieren, das enorme konjunkturelle Effekte erzielen würde, da jeder dorthin fließende Euro komplett in den Konsum und damit in die regionale Wirtschaftsförderung fließen würde.
Fazit
Ulrich Schneider liefert mit seinem Buch „Kein Wohlstand für alle!?“ ein Handbuch für alle, die unsere auseinanderfallende Gesellschaft, ebenso wie er, bedroht sehen. Er rüttelt auf, die schleichend hingenommene Gewöhnung an Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft wieder als das zu begreifen, was es ist: nicht hinnehmbar. Immer wieder stellt er eingeschliffene Denkmuster infrage, welche die jahrelange Indoktrination bei jedem von uns hinterlassen haben. Dabei bleibt er bei einer einfachen, leicht verständlichen Sprache und erläutert vieles an Beispielen aus der täglichen Praxis. Seine vielfachen Rückblicke in frühere Zeiten sind sowohl für Jüngere als auch Ältere nicht nur informativ und lehrreich, sondern belegen, dass die häufig von Politikern genutzte Begründung, dass etwas einfach unmöglich sei, schlicht die Unwahrheit ist. Vielmehr ist es politisch einfach nur nicht gewollt. Den öffentlichen Denkverboten setzt er damit Fakten entgegen.
In seinen Analysen wie auch seinen Forderungen ergreift Schneider Partei für alle gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, die in den letzten Jahrzehnten besonders ins Hintertreffen geraten sind. Dennoch – oder gerade deshalb – ist es kein Buch für eine kleine Klientel, denn die Gruppe der Benachteiligten bildet einen immer größer werdenden Anteil in der Bevölkerung und reicht bis weit in die vermeintliche Mittelschicht hinein. Dies grundlegend zu ändern, bietet das Buch reichlich Material. Damit „Wohlstand für alle“ nicht mehr wie eine Erzählung aus „Tausendundeiner Nacht“ klingt, sondern wieder als ernstzunehmende, erreichbare und gewollte Vision.
[«*] Lutz Hausstein, Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010, 2011 und 2015 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen (2012) sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“ (2012).