Sozialwahlen – wenig bekannt, aber wichtig. Was sind Sozialwahlen und seit wann gibt es sie?
Versicherte und Arbeitgeber wählen die paritätisch besetzten Verwaltungsräte bzw. die Mitglieder der Vertreterversammlung der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Nach Bundestagswahl und Landtagswahl sind die Sozialwahlen die drittgrößten Wahlen Deutschlands. Ein Beitrag von Anette Sorg.
Die ersten Sozialwahlen gab es bereits 1953. Seit 1962 finden sie regelmäßig alle sechs Jahre statt. Im Jahre 2011 haben sich rund 30 % der Wahlberechtigten dafür entschieden, diese Wahlen ernst zu nehmen und haben die übersandten Unterlagen ausgefüllt in den Briefkasten geworfen. Bei den anderen 70 % sind die Wahlzettel wohl beim Altpapier gelandet.
Im Frühjahr 2017 werden gesetzlich Kranken- und Rentenversicherte erneut aufgefordert, ihre Arbeitnehmervertreter in den Selbstverwaltungsgremien ihrer Krankenkasse oder Rentenversicherung zu bestimmen. Warum sollten sie das tun?
Möglichkeiten der Einflussnahme
Bei den Krankenkassen entwickeln und beschließen die Verwaltungsräte Satzungsleistungen, wie z.B. Bonusprogramme oder neue Versorgungsformen, sie wählen und kontrollieren den hauptamtlichen Vorstand, beschließen den Haushalt und ernennen die Mitglieder der Widerspruchsausschüsse.
Bei der Rentenversicherung koordiniert die Vertreterversammlung das Netz der Rehabilitationszentren, sie wählen die hauptamtliche Geschäftsführung und treffen wichtige Entscheidungen im Bereich Finanzen und Personal. Auch sie richten die Widerspruchsausschüsse ein.
Angriff auf das Prinzip der Selbstverwaltung per Gesetz?
2008 gab es bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine Publikation „Soziale Selbstverwaltung und Sozialwahlen. Traditionsreiche Institutionen auch von morgen?“. Dort wird von Skepsis und Kritik berichtet:
„Die soziale Selbstverwaltung der deutschen Sozialversicherungen ist ein wesentliches Strukturmerkmal des deutschen Sozialstaates. Doch seit einiger Zeit findet eine kritische Debatte darüber statt, ob diese Beteiligungsstrukturen sowie die sie legitimierenden Sozialwahlen noch zeitgemäß sind. Dabei werden kurzfristige Effizienzgesichtspunkte überbewertet; dagegen werden Herkunft und Funktion der sozialen Selbstverwaltung für das System der sozialen Sicherung in Deutschland nur unzureichend gewürdigt.“
Aktuell steht ein Gesetzentwurf aus Hermann Gröhes (CDU) Gesundheitsministerium in der Kritik, in dem die 2008 von der FES formulierten Befürchtungen wahr zu werden drohen. Der Entwurf trägt den wohlklingenden Namen „Selbstverwaltungsstärkungsgesetz“. Dabei ist eigentlich genau das Gegenteil geplant. Das Gesundheitsministerium möchte mit diesen Regelungen die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) „treffen“. Diese sieht sich mit Missbrauchsvorwürfen (Korruption, Intrigen und Selbstbereicherung) konfrontiert. Die Reaktion per Gesetz würde allerdings alle Spitzenorganisationen im Gesundheitsbereich mit Selbstverwaltung treffen und zur Beschneidung deren Kompetenzen führen. Der Gesetzentwurf plant den Weg von der Rechts- zur Fachaufsicht, was einen Eingriff in das Prinzip der Selbstverwaltung darstellen und de facto aus der Selbstverwaltung eine Fremdverwaltung machen würde. Es bleibt zu hoffen, dass der Widerstand gegen diese Planungen heftig bleibt und letztlich erfolgreich sein wird.
Mehr Transparenz wagen
Der Politikwissenschaftler Bernard Braun hatte 2011 festgestellt: “Umfragen haben ergeben, dass sich deutlich mehr Versicherte für die Sozialwahl interessieren, wenn sie wissen, wer da zur Wahl steht und wofür derjenige eintritt.”
Um in diesem Sinne die Wahlen stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern und damit die Wahlbeteiligung zu steigern, hat die Gewerkschaft ver.di eine Transparenzinitiative gestartet:
Nach dem Prinzip von abgeordnetenwatch.de und in Kooperation mit den Betreibern dieser Internetplattform bietet ver.di die Möglichkeit zum Dialog mit den jeweiligen 10 Spitzenkandidaten an (sozialversicherung.watch)
Weitere Kritik
Die Kritik an der bei vielen Krankenkassen durchgeführten Friedenswahl, bei der keine echten Wahlhandlungen stattfinden, ist berechtigt. Auskungeln und Demokratie passen nicht zusammen. Auch die Zusammensetzung der Selbstverwaltungsgremien (Alter, Geschlecht, „Platzhirsche“ und dergleichen Verwerfungen, Kandidatenfindung- und -platzierung) darf sicherlich auf den Prüfstand. Aber die Kritik an Ausgestaltungen sollte nicht dazu führen, das Prinzip als solches in Frage zu stellen. Sie muss dazu führen, die Modalitäten zu ändern. Ver.di geht hier – wie oben beschrieben – in punkto Transparenz in Vorleistung, indem sie die Kommunikation mit den von ihr entsandten Kandidatinnen und Kandidaten möglich macht. Man kann natürlich kritisieren, dass nur die ver.di-KandidatInnen auf dieser Plattform zu finden sind. Ja, das ist optimierbar. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Appell
Setzen Sie sich mit den Sozialwahlen und den kandidierenden Personen auseinander. Spätestens dann, wenn Sie die Wahlunterlagen im Briefkasten finden. Seien Sie nicht wahlmüde, sondern signalisieren Sie mit Ihrer Stimmabgabe, dass Sie das Prinzip der Selbstverwaltung für notwendig und schützenswert erachten.
Angesichts nicht unerheblicher Kosten für die Urwahl und angesichts (zu) niedriger Wahlbeteiligung wird es sonst immer wieder Initiativen geben, dieses Prinzip mindestens zu kritisieren oder es gar ganz abzuschaffen.
Vertiefende links: