Die oberen 10% der Einkommensteuerzahler bestreiten 54% des Steueraufkommens?
Mit diesem Argument „hinterfragt“ Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Süddeutschen Zeitung vom 2./3.10.04 den Vorwurf, Hartz IV sei ungerecht, weil nur die Langzeitarbeitslosen ihren Beitrag leisten müssten, die Besserverdiener aber nicht. Schafft Hartz IV also etwa wieder mehr Gerechtigkeit?
- Wenn diese Aussage des Bundeskanzlers über die Verteilung der Einkommensteuerlast richtig ist, müsste er dann nicht zunächst „hinterfragen“, wie hoch eigentlich die Einkommen der oberen zehn Prozent der Einkommensteuer-Zahler über dem der übrigen neunzig Prozent liegen müssen, wenn diese – selbst unter Berücksichtigung eines Spitzensteuersatzes von 45% oder gar 48,5% – zu über der Hälfte des Steueraufkommens beitragen? Wird nicht umgekehrt ein Schuh draus? Ist diese Relation richtig, so ist das – mindestens auch – ein Indiz für das dramatische Auseinanderklaffen der Einkommen der überwiegenden Mehrheit der Einkommensteuerzahler und den Spitzeneinkommensbeziehern.
- Wenn man schon mit den „oberen zehn Prozent“ argumentiert, müsste man dann nicht auch erwähnen, dass die „oberen zehn Prozent“ der privaten Haushalte über mehr als 50 Prozent des Geldvermögens von unvorstellbaren 3730,5 Milliarden Euro verfügen? (Franz Segbers, Im Namen der Gerechtigkeit, FR v. 24.4.2004). Von einem Bruchteil der Zinseinnahmen könnte man locker die gesamte Arbeitslosenhilfe finanzieren.
- Selbst wenn sich der Anteil der Spitzeneinkommensbezieher beim Einkommensteueraufkommen in den letzten Jahren erhöht haben sollte, dann hieße das auch, dass deren Einkommen gestiegen sein muss. Kann es aber dann gerecht sein, dass die Langzeitarbeitslosen die unterste Einkommensbezieher weniger bekommen sollen?
- Ist es selbst unter der Annahme dieses hohen Anteils der Spitzeneinkommen am gesamten Einkommensteueraufkommen gerecht, den Spitzensteuersatz von 48,5 (bis 2003) auf 45% (in 2004) und auf 42% (in 2005) zu senken, das Nettoeinkommen dieser Einkommensgruppe also beachtlich zu steigern und gleichzeitig die ohnehin meist geringe Arbeitslosenhilfe auf den Sozialhilfesatz zu verringern?
- Auf dem „Marsch in den Lohnsteuerstaat“ (Dieter Eißel) ist zwar der Anteil der Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen von 1950 von 18,5% auf über 30% deutlich angestiegen (BMF), ihr Anteil (einschließlich Lohnsteuer und Zinsabschlag) machte aber 2003 an den gesamten Steuereinnahmen lediglich einen Anteil von 32,7%, also ein knappes Drittel aus (BMF). Einen erheblich größeren Anteil an der Steuerlast aller Bürgerinnen und Bürger machen die Umsatz- und Verbrauchssteuern aus, nämlich rd. 46% (Zeit-Grafik, Wo stehen die Reichen?, www.zeit.de/2004/40 /Reiche). Es ist also eine – vorsichtig gesagt – ziemlich suggestive Verengung des Blickfeldes, wenn man auf die Frage nach einer gerechten Verteilung der Lasten ausschließlich auf den Anteil an der Einkommensteuer abhebt?
- Was der Bundeskanzler bei seiner Hinterfragung nämlich völlig außer acht lässt, ist die Tatsache, dass bis auf ein paar Top-Manager mit einem Millionensalär die wirklich Reichen in unserem Land ja nicht die Menschen mit einem Arbeitseinkommen, also die Lohn- und Einkommenssteuerzahler sondern die Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen sind. (Siehe dazu den recht aufschlussreichen Beitrag von Wolfgang Uchatius in „DIE ZEIT“ v. 23.09.04 unter dem Titel „Wo stehen die Reichen“, www.zeit.de/2004/40/Reiche.)
- Der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern ist von 1977 auf 2002 von 29% auf 14% gefallen ist (WSI-Info Nr. 3/2004; zu einer etwas anderen Senkungsrate kommt das Institut für Wirtschaftsforschung – Hamburg, HWWA, in seinem Wirtschaftsdienst Nr. 3/2004 S. 153: danach ist die gesamte relative Abgabenbelastung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen allein von 1999 auf 2003 von 22,9% auf 15,7% geradezu „abgestürzt“) Der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern ist zwar erheblich gesunken und das obwohl die Anzahl der Bundesbürger mit einem Nettovermögen von mindestens einer Million Euro von 1997 bis 2003 von 510.000 auf 756.000 gestiegen ist. (DIE ZEIT ebd.)
Kein Wunder also, dass nach Schätzung von Finanzexperten bis zum Jahre 2010 in Deutschland ein Vermögen von zwei Billionen Euro vererbt wird. (DIE ZEIT ebd.)