Verkehrte Welt – ein Wochenrückblick auf Obamas Besuch, Merkel als „Die Anführerin der freien Welt?“ und was sonst noch auf uns niederprasselte.
Bisher hatten Sie vielleicht ähnlich wie ich als harmloser Beobachter des Zeitgeschehens gedacht, wir Europäer einschließlich der Deutschen seien von den USA verdonnert worden, die Sanktionen gegen Russland mitzumachen. Weit gefehlt. Jetzt haben unsere famosen Zeitgenossen in Berlin Angst, Trump könnte die Bestrafung Russlands lockern, und wir flehen Obama an, für die Verlängerung zu sorgen. Auch sorgen wir uns, Trump könnte keinen Streit mehr mit Russland haben und klammern uns an Obama, weil dessen Feindbild uns besser passt. Albrecht Müller.
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Obwohl wir eigentlich froh sein müssten, wenn einzelne Stimmen bei der westlichen Führungsmacht fragen, ob die NATO noch einen Sinn macht, und obwohl wir langfristig das Ziel haben müssten, auszuscheiden und jedenfalls nicht so viel Geld für Rüstung und neue Kriege und schon gar nicht für die Vorbereitung des großen Krieges auszugeben, beschwören Deutschlands Medien und die Politik gegenüber Obama die Wichtigkeit des nordatlantischen Bündnisses und seine Aufrüstung.
Wir hatten auch gedacht, die sogenannten Freihandelsabkommen seien vor allem ein Wunsch der USA. Jetzt nutzt man den Besuch des noch amtierenden Präsidenten, um die Sorge zu artikulieren, mit der Niederkunft Trumps möglicherweise darauf verzichten zu müssen. Welch ein Jammer!
Was ist der Sinn des Obama Besuchs in Deutschland?
Die Süddeutsche Zeitung hat das korrekt formuliert:
Obama ist zur Intensivpflege seiner deutschen Partnerin gekommen, um für Angela Merkels Wiederwahl im nächsten Jahr zu werben. Gouverneure muss man pflegen. Wir können davon ausgehen, dass er dies im vollem Einvernehmen mit dem neuen amerikanischen Präsidenten getan hat.
Obama hatte ein langes Gespräch mit Trump geführt und ihm versichert, dass er alles tun werde, um den Übergang zu erleichtern. Dazu gehört auch eine Auslandsreise wie die jetzige. Es ist ziemlich naiv, zu unterstellen, der scheidende Präsident habe die Werbung für die deutsche Bundeskanzlerin ohne Absprache mit dem kommenden Präsidenten in Szene gesetzt. Bei dem Gespräch mit dem neuen Präsidenten wird er ihm mit Sicherheit erzählt haben, dass man mit der deutschen Bundesregierung nahtlos zusammenarbeiten kann und dass diese jeden US-amerikanischen Wunsch zu erfüllen geneigt ist. Und vor allem mit Kritik hinterm Berg hält:
- keine Kritik an den unzähligen illegalen Kriegen der USA,
- keine Kritik am Drohnenkrieg von deutschem Boden aus,
- keine Kritik an der Überwachung durch amerikanische Dienste,
- keine Kritik an der systematisch betriebenen Einflussnahme auf sehr viele deutsche Unternehmen,
- keine Kritik an den inneren Verhältnissen, der Gewalt und der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in Reich und Arm.
Die Vorstellung der Wochenzeitung Die Zeit, jetzt müsse Angela Merkel die Rolle der „Anführerin der freien Welt“ übernehmen, ist so betrachtet ausgesprochen bemerkenswert. Diese Rolle wird Trump spielen und Obama hat gerade wieder einmal mitgeholfen, dass der deutsche Verbündete auch weiterhin ein treuer Vasall bleibt.
Dass die deutschen Medien und große Teile der Politik die Situation nicht so einschätzen und von einem bemerkenswerten Freiheitsgrad der deutschen Politik ausgehen, spricht nicht dafür, dass diese Einschätzung zutrifft. Dafür gibt es zu viele Belege für die Irrwege unserer Medien, auf die wir in den NachDenkSeiten oft hinweisen.
Aber, und das ist auch eine Erfahrung, die man in der vergangenen Woche wieder machen konnte: unsere Hauptmedien sind an Aufklärung nicht interessiert. Deshalb haben sie in diesen Tagen des Besuchs von Obama ein Bild gemalt, das mit der Realität unserer Welt nur wenig zu tun hat.
Wirklich schade, dass Frank Schirrmacher so früh gestorben ist
Er war nämlich als Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Repräsentant unserer Hauptmedien, der wie kein anderer den Zustand unseres Landes, der Politik und der Medien verstanden hat. Ich komme in diesem Wochenrückblick auf ihn zu sprechen, weil seine Erkenntnisse so einschlägig und aktuell sind und weil ich in der zu Ende gehenden Woche durch einen anderen bewundernswerten Zeitgenossen – durch Georg Schramm – wieder auf Frank Schirrmacher aufmerksam gemacht worden bin. Georg Schramm weist in einem seiner Kabarettstücke auf Frank Schirrmachers Artikel in der FAZ vom 15.8.2011 hin. Der Beitrag war überschrieben mit:
„Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“
Die Lektüre des Artikels ist auch heute noch zu empfehlen – keineswegs nur wegen der freundlichen Zeilen zu den NachDenkSeiten im sechsten Absatz. Der Artikel ist ein Teil des Vermächtnisses eines Menschen, der viel zu früh gestorben ist. Gerade heute, wo wir erleben, wie sich Medien und Politik verbunkern und die Realität nicht mehr an sich heranlassen, wäre er ungemein wichtig.
Frank Schirrmacher würden wir heute brauchen, um dem ehedem kritischen Bürgertum zuzurufen: ‚Wacht auf! Euch geht’s gut. Aber: Werdet eurer Aufgabe gerecht, für eine gerechtere Welt und eine friedlichere Welt zu sorgen. Tafeln alleine reichen nicht.‘
Ein kritisches Bürgertum ist wichtig für das Leben in einer Demokratie. Deshalb die Sorge, dass es sich verlieren könnte.
Jens Berger und ich, wir beide, haben uns in der vergangenen Woche mit diesen Fragen beschäftigt. Geht das kritische Bürgertum, womit ich nicht nur die Studierten meine, sondern auch politisch interessierte Arbeiter und Angestellte, verloren. Ist dieses Salz stumpf geworden?
Es gibt kaum mehr kritische Künstler, es gibt wenig kritische Literaten und auch viele Wissenschaftler haben sich angepasst. Ich hatte davon geschrieben, dass nach meinem Eindruck etwas ähnliches wie die Entspannungspolitik der sechziger und siebziger Jahre heute nicht mehr die breite Unterstützung unter den mitdenkenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern fände. Auch in diesen Kreisen ist der Feindbildaufbau gang und gäbe.
Leserinnen und Leser haben uns geschrieben, dass sie ähnliche Erfahrungen machen. Einen will ich zitieren. Er knüpft an den beiden einschlägigen Artikeln dieser Woche “Populisten und dumme Wähler? Ihr habt nichts, aber auch rein gar nichts, verstanden.” und “Die sogenannten Linksliberalen sind bei zentralen Fragen schon lange nicht mehr linksliberal” an und schreibt:
„Ich beobachte in meinem Umfeld auch unter Akademikern, dass viele, die sich selbst als “linksliberal” oder “sozialliberal” einordnen würden, inzwischen ziemlich den Blick für die Relationen politischer Ausrichtung verloren haben. Es ist aber auch kein Wunder, denn die subtile “Umerziehung” findet bereits seit Jahrzehnten statt, ernstzunehmende auflagenstarke gedruckte “linke” Zeitungen gibt es außer wenigen Ausnahmen wie der “jungen welt” kaum noch, linke und progressive Bewegungen wurden unterwandert oder durch zweifelhafte Klick-and-go-NGOs “ersetzt” wie z.B. avaaz, Neoliberalismus ist in einer Ellenbogengesellschaft allgegenwärtig – das fängt bereits in der Schule an, es heißt Staatsbetriebe arbeiteten schlecht und ineffektiv, Diffamierungen gewerkschaftlicher Arbeit sind an der Tagesordnung, Begriffe wurden gekapert z.B. durch die “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft”, attac wurde die Spendenabzugsfähigkeit entzogen, eine ehemalige “Friedenspartei” rät inzwischen zu Flugverbotszonen und bedient Feindbilder, Friedensdemonstrationen werden gespalten und teilweise als (angebliche) “Querfront” diffamiert z.B. weil einer es gewagt hat, das Geldsystem bzw. die “Geldschöpfung” zu kritisieren.
Doch es gibt gelungene und erwähnenswerte Beispiele für ironische aber durchaus ernstzunehmende “Staatsbürgerkunde”, wo dieses links-rechts, progressiv-konservativ Koordinatensystem erklärt wird, bei dem man gedanklich auch mal die Achsen und dadurch die Relationen verschieben darf, und die Tatsache dargestellt wird, dass es eben KEINE “Sozialdemokratisierung” der Union gegeben haben kann. Ferner wird auch gezeigt, dass viele Bürger die (neoliberale) AfD falsch einsortieren, weil sie glauben, diese sei eine Partei für den “kleinen Mann”. Die zehnminütige “Tafelnummer” aus der ZDF Politsatire Die Anstalt ist äußerst sehenswert:
Ausschnitt aus “Die Anstalt” vom 4. Oktober 2016 – Staatsbürgerkunde
Quelle: zdf
Welche Partei steht wo und für was? Die Anstalt präsentiert ein Update zum deutschen Parteiensystem.
Soweit der NachDenkSeiten Leser C. G. aus München.
Was gab’s noch in dieser Woche? Erheiterndes und Bedrückendes zugleich:
Juncker deckt Oettinger. Nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Wegen der Schlitzaugen und wegen der Nutzung einer besonderen Flugbereitschaft, einer Kombination aus ungarischer Regierung und Daimler-Benz Lobby.
Martin Schulz glaubt wirklich, er habe das Zeug zum Außenminister und zum Bundeskanzler. Am besten in Kombination. Es ist nicht ausgeschlossen, eher wahrscheinlich, dass er zumindest Außenminister wird. Die wichtigste Grundvoraussetzung erfüllt er: voll eingebaut ins transatlantische Bündnis. Die ebenfalls eingebundenen Medienvertreter werden ihn über den grünen Klee loben.
Damit reicht’s auch.
Trotz allem wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.