Sachverständigenrat: Die alte Leier mit ein paar leisen Zwischentönen
Jahr für Jahr mussten wir auf den NachDenkSeiten den Gutachten des Sachverständigenrats vorhalten, dass sie den wirtschaftspolitischen „Holzweg“ stur fortsetzen und statt einer kritischen Bestandsaufnahme der tatsächlichen Wirkung ihrer neoliberalen „Reformvorschläge“ ständig nur eine weitere Erhöhung der „Reform“-Dosis vorschlugen. Daran hat sich auch im Jahresgutachten 2008/2009 unter dem Titel „Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte steigern“ nichts Grundlegendes geändert. Mit der Ausnahme, dass diesmal ein (viel zu kleines) staatliches Konjunkturprogramm in Höhe von 0,5 bis 1 Prozent des BIP (also etwa im Umfang von bis zu 25 Milliarden Euro) vorgeschlagen wird, das über eine staatliche Kreditaufnahme finanziert werden soll. Wolfgang Lieb
Die Prognose des Sachverständigenrates (SVR) ist deprimierend:
- Im Jahr 2009 ist das vom Sachverständigenrat entwickelte Kriterium einer Rezession erfüllt. Der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland wird stagnieren.
- Die Erwerbstätigenzahl sinkt im Jahresdurchschnitt um 81 000 Personen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen steigt von durchschnittlich 3,27 Millionen Personen im Jahr 2008 auf 3,30 Millionen im nächsten Jahr.
- Seit etwa acht Jahren stagnieren die privaten Konsumausgaben in Deutschland. Während der private Verbrauch in den übrigen Ländern des Euro-Raums seit Anfang des Jahres 2001 real um rund 15 v.H. zulegte, ist er hierzulande seit dem Jahr 2000 nahezu konstant. Eine schwache Reallohnentwicklung und sinkende monetäre Sozialleistungen bremsen die Konsumausgaben.
Als alleinige Ursache für die Rezession sieht der SVR die weltweite Finanzkrise:
Die Schockwellen der Krise trafen die deutsche Wirtschaft in einer Phase der zyklischen Abkühlung… Mit einer merklichen Belebung der deutschen Konjunktur ist nicht zu rechnen. Die direkten real-wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise auf die deutsche Volkswirtschaft halten sich zwar bislang in Grenzen, die indirekten Folgen sind dafür umso markanter…
Deutschlands wichtigste Handelspartner sind von den weltweiten rezessiven Entwicklungen besonders stark betroffen. Da Deutschland in diesem Jahrzehnt eine äußerst lebhafte Exportkonjunktur verzeichnete, während die binnenwirtschaftliche Nachfrage weitgehend stagnierte, stieg die Exportquote auf 48 v.H. und ist damit höher als in anderen großen Volkswirtschaften. Da wichtige Handelspartner wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Spanien und die Gruppe der osteuropäischen Länder besonders stark von der derzeitigen Finanz- und Immobilienkrise betroffen sind, wirkte sich dies sehr stark über den Handelskanal auf die deutsche Konjunktur aus.
Da nun keine Rettung mehr von der alten Rezeptur der „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ zu erwarten ist, ringen sich die Wirtschaftsweisen – endlich – zu einem Konjunkturprogramm durch:
In Anbetracht der Tatsache, dass auf absehbare Zeit kaum mit nennenswerten außenwirtschaftlichen Impulsen zu rechnen ist, hängt die weitere konjunkturelle Entwicklung vor allem von der Binnennachfrage ab. Eine Abweichung nach oben würde sich bei einer deutlich dynamischeren Binnennachfrage einstellen.
Immerhin ringt sich der SVR zu einer bemerkenswert harschen Kritik des von der Bundesregierung vorgelegten „Sicherheitsnetzes für Beschäftigte“ durch:
Tatsächlich handelt es sich (dabei) aber um ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen, das zwar den Eindruck vermitteln mag „Wir tun was“, ansonsten aber nur bedingt auf die Erhöhung des Potenzialwachstums bei gleichzeitigem konjunkturellen Impuls zielt… In Ergänzung des mit einem Volumen von 480 Mrd. Euro ausgestatten „Schutzschirms für Banken“ sieht die Bundesregierung im Rahmen ihres Maßnahmenpakets ein „Sicherheitsnetz für Beschäftigte“ vor. Im Vergleich zu dem mit 480 Mrd. Euro ausgestatteten Stabilisierungsfonds wirkt die Schaffung von 1 000 zusätzlichen Vermittlerstellen in den Arbeitsagenturen als wesentlicher Bestandteil eines Schutzschirms für die Beschäftigten dann aber doch einigermaßen putzig.
Viel deutlicher haben wir auf den NachDenkSeiten unsere Kritik an dem “Schutzschirm” für die Beschäftigten (Steinmeier) auch nicht formulieren können. Und es lohnt sich zu lesen, wie der SVR etwa mit der „Reform“ der Kfz-Besteuerung ins Gericht geht.
Statt des „Sammelsuriums von Einzelmaßnahmen“ schlägt der SVR „langfristig wirksame wachstumsfördernde Maßnahmen auf das Jahr 2009 vorzuziehen”:
Dazu gehören in erster Linie öffentliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sowie der Abbau kommunaler Infrastrukturdefizite, höhere Bildungsausgaben insbesondere für die frühkindliche Erziehung sowie „Aufräumarbeiten“ zur Korrektur investitionshemmender Bestandteile der Unternehmensteuerreform.
Das ist ohne Zweifel ein neuer Ton und ein Schritt in die richtige Richtung.
Dass die „Wirtschaftsweisen“ aber beileibe nicht von ihrem neoliberalen Glauben abgefallen sind, erweist sich darin, dass im Zweifel die Kreditaufnahme durch „eine veränderte Ausgabenstruktur zu Lasten konsumtiver Staatsausgaben gegenzufinanzieren“ sei. Und „konsumtive“ Ausgaben sind in der Sprache des SVR eben vor allem Sozialleistungen. D.h. durch Einsparungen bei den Ärmsten der Armen soll das Konjunkturprogramm refinanziert werden.
Jenseits der neuen Forderung nach einem (m.E. viel zu niedrig angelegten, China setzt 460 Mrd. ein) Konjunkturprogramm und vielleicht noch über den Appell an die Europäische Zentralbank hinaus, die Zinssenkungsspielräume auszunutzen, bleibt der SVR aber bei seiner alten Rezeptur und verlangt wieder einmal ausschließlich eine Erhöhung der „Reform“-Dosis.
Nicht einmal die Finanzkrise ist Anlass zu einer Selbstkritik. Der SVR tut so, als sei (auch) er von der Krise völlig überrascht, ja „geschockt“ worden. Gehörten aber Deregulierung, Rückzug des Staates und die Durchsetzung gerade auch freier Finanzmärkte nicht zur Litanei der früheren Gutachten?
Geradezu ignorant heißt es im Gutachten, die Kritik an angeblich ungezügelten Finanzmärkten verfehle den Kern des Problems:
Wenn es darum geht, Verantwortlichkeiten auszumachen, gehen Schuldzuweisungen in diesem Zusammenhang an die Geldpolitik, an die staatliche Aufsicht über das Finanzsystem, an die Rating-Agenturen und (erst zuletzt) an andere Entscheidungsträger auf den Finanzmärkten…
Auch Bankmanager sind nicht frei von einer Verantwortung. Sie haben eine der Grundregeln der Finanzmärkte, dass sehr hohe Renditen nur unter Inkaufnahme sehr hoher Risiken zu erzielen sind, zu wenig Beachtung geschenkt und sich zu sehr auf die Bewertungen der Rating-Agenturen verlassen. Sicherlich haben einige Vergütungssysteme das kurzfristig orientierte Handeln der Bankmanager unterstützt, wenn nicht sogar herausgefordert. Insoweit tragen die Aufsichtsräte eine Mitschuld.
Herr Ackermann und die anderen Bankmanager werden mit diesem sanften Tadel gut leben können. Dass sie mit völlig überzogenen Renditezielen das Spekulationsgeschäft erst angeheizt und das Spiel mit den Kettenbriefen in Gang gesetzt haben, ist dem SVR keiner Erwähnung wert.
Bevor das staatliche 480-Milliarden-Rettungspaket überhaupt seine Bewährungsprobe bestanden hat, fordert der SVR schon wieder den Rückzug des Staates:
Es muss also darum gehen, die Möglichkeiten des Staates zu nutzen, um in den nächsten Monaten eine Restrukturierung des Finanzsystems voranzutreiben, sodass Deutschland möglichst bald wieder über eine effiziente und wettbewerbsfähige Bankenlandschaft verfügt. Das erfordert, dass sich der Staat nach einer erfolgreichen Stabilisierung und Restrukturierung wieder zurückzieht und auf seine Kernaufgaben konzentriert.
Zu warnen ist ausdrücklich vor einer Überregulierung und ebenso vor einem Aufleben protektionistischer Tendenzen.
Statt Forderungen (wenigstens auch) an die deutsche Politik zu richten, die zahllosen gesetzlichen Maßnahmen etwa zur Förderung von Heuschrecken und des Handels mit Derivaten zurückzunehmen, wird die Lösung des Problems auf die „internationalen Finanzarchitektur“ verlagert und der Internationale Währungsfonds (IWF) als Aufsichtsorgan und für das Krisenmanagement empfohlen. Damit soll also gerade der „Bock“, der die Deregulierung weltweit am aggressivsten vorangetrieben hat und der geradezu zu einem Appendix des US-Schatzamtes und der Wallstreet geworden ist, zum „Gärtner“ gemacht werden.
Die Vorschläge des SVR dafür, wir künftig solche Krisen vermieden werden können, sind mehr als dürftig. (Wie sollten sie auch zupackender sein, wenn sich der SVR dabei vor allem auf den Schreibtisch der Bundesbank gestützt hat.)
Auch auf den übrigen Feldern der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik spielt der SVR die alte Leier:
Zwar stellt der SVR eine „ausgeprägte Konsumschwäche“ fest und er räumt ein, dass „die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre“ nicht ausreichte, „um insbesondere deutlich negative Entwicklungen der monetären Sozialleistungen sowie die schwache Reallohnentwicklung in diesem Zeitraum“ auszugleichen.
Die schwache Reallohnentwicklung hindert den SVR aber nicht an der Forderung, die staatlichen Schutzvorschriften im Bereich des Arbeitsmarktes noch weiter zu reduzieren, auch für die Zukunft moderate Lohnabschlüsse anzumahnen und (wie sollte es anders sein) den Mindestlohn abzulehnen.
Der SVR stellt zwar zu Recht fest, dass sich „die Einkommen derjenigen Bevölkerungsgruppe, die üblicherweise einen höheren Anteil ihrer Einkünfte für den Konsum verwenden, besonders träge entwickelt haben“, dass die „weitere konjunkturelle Entwicklung vor allem von der Binnennachfrage“ abhängt und dass sich „eine Abweichung nach oben…bei einer deutlich dynamischeren Binnennachfrage einstellen“ würde, aber er macht keinen Vorschlag, wie die schwache Reallohnentwicklung überwunden werden könnte oder wie die „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ (Leih-, Zeit- oder Teilzeitarbeit oder prekäre Beschäftigung im Niedriglohnsektor) wenigstens wieder eingegrenzt werden könnten.
(Siehe dazu im Anhang die Kritik im Minderheitenvotum das SVR-Mitglieds Peter Bofinger)
Die Auswirkung der negativen Entwicklung der monetären Sozialleistungen (sprich Hartz IV, Rentenkürzungen etc.) auf den Konsum spielt keine Rolle mehr, wenn es dem SVR um die Kritik an der letzten (1,1%igen !)) Rentenerhöhung durch Aussetzung des sog. „Riester-Faktors“ geht. Im Gegenteil: Die Wirtschaftsweisen richten an die Sozialpolitik einen flammenden Appell „wider die Halbherzigkeit“ bei der sozialen Sicherung und fordern damit, die „Reformen“ konsequent weiter voran zu treiben.
Selten konnte man so ungeschminkt lesen, worum es bei den Renten-„Reformen“ tatsächlich ging: nämlich die Rente zu senken, um den flächendeckenden Ausbau der privaten Vorsorge voranzutreiben:
Nachdem mit dem Altersvermögens-Ergänzungsgesetz (2001), dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz (2004) und dem Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz (2007) alle wichtigen Maßnahmen zur finanzwirtschaftlichen Konsolidierung der Gesetzlichen Rentenversicherung umgesetzt und mit dem Altersvermögensgesetz (2001), dem Alterseinkünftegesetz (2004) und dem Gesetz zur Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge (2007) gute Voraussetzungen für einen flächendeckenden Ausbau der privaten und betrieblichen Altersvorsorge geschaffen wurden…
Die Rentenreformen der letzten Jahre und hier insbesondere die Ergänzung der Rentenanpassungsformel um den Altersvorsorgeanteil (und den Nachhaltigkeitsfaktor) haben in der jüngeren Vergangenheit sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland zu einer Abkopplung der Renten von der Entwicklung der durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer beigetragen (Schaubild 76). Dieses Zurückbleiben der Renten hinter den Löhnen war Bestandteil einer politischen Entscheidung mit dem primären Ziel, den Beitragssatzanstieg aufgrund der demografischen Veränderungen zu begrenzen. Infolge der vergleichsweise niedrigen Entgeltsteigerungen sind jedoch die Rentner seit dem Jahr 2003 wie auch die Personen im erwerbsfähigen Alter mit Realeinkommensverlusten konfrontiert.
Nichts anderes haben wir über die ganzen Jahre kritisiert. Wer uns Verschwörungstheorien vorgeworfen hat, muss also künftig den SVR mit zu den Verschwörern zählen.
Der SVR kommt um eine weitere Feststellung nicht herum:
Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit einer gesamtwirtschaftlichen Steuerquote von 22,9 v.H. im Jahr 2007 im unteren Drittel von 24 OECD-Ländern und nimmt mit einer Abgabenquote von 36,2 v.H. als Summe von Steuer- und Sozialabgabenquote einen unteren Mittelplatz ein.
Diese Feststellung hindert die „Wirtschaftsweisen“ aber nicht, im gleichen Atemzug weitere Steuersenkungen zur fordern und den Mythos der zu hohen „Lohnnebenkosten“ weiter zu pflegen. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten der Widerspruch zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und ideologischen Borniertheit der Mehrheit der Mitglieder des SVR:
Denn die beiden wichtigsten Ziele einer finanzierungsseitigen Reform der Krankenversicherung, die Abkopplung der Beiträge von den Arbeitskosten sowie die Schaffung eines einheitlichen Versicherungsmarkts, blieben weiterhin ungelöst. Aus diesem Grund sollte in einem zweiten, wirklichen Reformschritt der Gesundheitsfonds – wie bereits im Jahresgutachten 2006/07 aufgezeigt – als Ausgangspunkt genutzt werden, um in der nächsten Legislaturperiode das Finanzierungssystem auf die vom Sachverständigenrat vorgestellte Bürgerpauschale umzustellen.
(Nicht ohne Hoffnung wird dabei auf eine andere Regierungskoalition spekuliert.)
Die Senkung der „Lohnnebenkosten“, die privat finanzierte „Kopfpauschale“ für alle in gleicher Höhe und dazu noch die Einführung einer Zweiklassen-Gesundheitsversorgung mit einer „Basisversicherung“ und über die Basisversorgung hinausgehende Leistungen im Rahmen von Zusatzversicherungen bleiben also das eigentliche Ziel des Gesundheitsfonds.
Gerade so, als hätte die Finanzmarktkrise niemals stattgefunden, plädiert der SVR auch bei der Pflegeversicherung für die „Abkoppelung“ von den Arbeitskosten und für einen „Übergang zu einem kapitalgedeckten System“.
Natürlich darf auch die Forderung nach einer strikten Aufrechterhaltung der Sparpolitik im diesjährigen Gutachten wieder einmal nicht fehlen. Zwar sei „gemessen am strukturellen gesamtstaatlichen Finanzierungsdefizit … das Ziel der Haushaltskonsolidierung weitgehend erreicht. Jetzt muss dieses Ziel durch eine grundgesetzlich verankerte Schuldenschranke längerfristig gesichert werden“.
Auch dabei ist wohl niemand aufgefallen, dass im gleichen Gutachten der Satz steht:
Auch die Regierungen haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie wissen, dass es falsch und gefährlich wäre, in einem starken wirtschaftlichen Abschwung eine restriktive Finanzpolitik zu betreiben.
Da man den Fluss nicht gleichzeitig aufwärts und abwärts schwimmen kann, also nicht gleichzeitig ein kreditfinanzierte Konjunkturprogramme auflegen und eine Schuldenschranke herunterlassen kann, bleibt nur der Druck auf den Abbau der Sozialleistungen als Ausweg. Deshalb also das eiserne Festhalten an den Rentensenkungen, deshalb die Privatisierung der Gesundheitsvorsorge und der Pflege, als ob damit die Binnennachfrage gesteigert werden könnte.
Das Gutachten des SVR ein typisches Beispiel dafür, wie ideologischer Dogmatismus sich der Empirie verweigert. Der Rat ist eine Glaubenskongregation, der nicht viel mehr einfällt als das Beharren und ständige Wiederholen ihrer eindimensionalen und letztlich primitiven Rezepte (und mögen sie noch so gut in mathematischen Modellen verpackt sein).
Da will die neue amerikanische Regierung unter Obama gerade ein staatliches soziales Sicherungssystem aufbauen, und bei uns wird vorgeschlagen, es weiter zu privatisieren.
Die Ökonomen außerhalb Deutschlands können über die Borniertheit unserer „Wirtschaftsweisen“ eigentlich nur noch in Hohngelächter ausbrechen.
Das einzige, worüber man bei diesem Gutachten noch lächeln könnte, das ist die Kritik des SVR etwa an der „Reform des Erbschaftssteuerrechts“:
Reform des Erbschaftsteuerrechts droht zu einem Fiasko zu werden. Die vorliegenden Beschlüsse sind im Ansatz verfehlt, da in erster Linie Partikularinteressen bedient werden. Verschonungsabschläge von 85 v.H. für Betriebsvermögen, land- und forstwirtschaftliches Vermögen und für Anteile an Kapitalgesellschaften, an deren Nennkapital der Erblasser (oder Schenker) zu mehr als 25 v.H. beteiligt ist, sind in jeder Hinsicht ungerechtfertigt.
Die Ungleichbehandlung zu vermieteten Immobilien mit einem Verschonungsabschlag von 10 v.H. ist evident. Auch der angestrebte Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland wird nicht erreicht, da der Verschonungsabschlag auch dann gewährt werden muss, wenn ein Unternehmen nach Erbanfall in das EU-Ausland verlagert wird und dort die Kriterien für eine steuerbefreiende Fortführung eingehalten werden.
Der spezielle Verschonungsabschlag für Unternehmensvermögen setzt Anreize, die Unternehmensnachfolge innerhalb der Familie zu regeln. Das ist genauso wenig sinnvoll, wie die Rekrutierung von Fußballnationalspielern auf die Familien früherer Nationalspieler zu beschränken.
Anhang (Hervorhebungen ganzer Sätze durch Fettdruck wurden von den NachDenkSeiten vorgenommen):
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Minderheitenvotum des SVR-Mitglieds Bofinger:
Die in diesem Kapitel von der Mehrheit erneut vorgeschlagenen Reformen für den Arbeitsmarkt zielen durchweg darauf ab, die noch bestehenden und nach wie vor erheblichen Beschäftigungsprobleme dadurch zu lösen, dass der Rahmen setzende Einfluss des Staates noch weiter abgebaut wird.
Die Mehrheit spricht sich dafür aus, staatliche Schutzvorschriften im Bereich des Arbeitsmarkts zu reduzieren:
- Der Kündigungsschutz soll „reformiert“ werden, indem der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen gestrichen wird. An dessen Stelle sollen Abfindungszahlungen treten.
- Das Arbeitslosengeld soll für eine längere Dauer der Arbeitslosigkeit reduziert werden, wobei es allerdings im Gegenzug für die ersten Monate erhöht werden soll.
- Im Rahmen eines „Kombilohnmodells“ soll für erwerbsfähige Bezieher des Arbeitslosengelds
II der Regelsatz um 30 v.H. abgesenkt werden, allerdings bei verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten.
Arbeitsmarkt: Anhaltende Belebung – Ungleiche Verteilung der Chancen
Die im Jahr 2008 wieder eingeführte Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Arbeitnehmer sollte baldmöglichst zurückgenommen werden. Ein zusätzlicher Einfluss des Staates auf den Arbeitsmarkt in der Form von branchenspezifischen wie flächendeckenden Mindestlöhnen wird grundsätzlich abgelehnt. Schließlich hält es die Mehrheit für erforderlich, die Bindungswirkung kollektiver Tarifverträge zu reduzieren, indem das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Absatz 3 Tarifvertragsgesetz neu geregelt wird. Dies wird als Voraussetzung für einen weiteren Beschäftigungsaufbau angesehen, den sich die Mehrheit von einer Lohnpolitik erhofft, die auch weiterhin die Verteilungsspielräume nicht ausschöpft.
Wie erfolgreich waren die letzten Jahre?
In ihrem Plädoyer für noch mehr Markt am Arbeitsmarkt sieht sich die Mehrheit des Sachverständigenrates durch die positive wirtschaftliche Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre bestätigt. Hierfür seien neben einer lebhaften Konjunkturdynamik vor allem die „moderate Tariflohnpolitik“ und die Reformen auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich. Beim Urteil über den Erfolg der beiden zuletzt genannten Faktoren bietet es sich an, die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands mit der konjunkturellen Dynamik ähnlicher Volkswirtschaften zu vergleichen. Ein dafür geeigneter Zeitraum ist die Phase von 2004 bis 2007. Das Jahr 2004 ist das erste Jahr nach Verkündung der Agenda 2010 und das Jahr 2007 ist das letzte Jahr, für das amtliche Daten vorliegen.
Bei der Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts ist Deutschland mit einem durchschnittlichen Wert von 2,1 v.H. rund einen halben Prozentpunkt weniger dynamisch gewachsen als die Vereinigten Staaten, der Euro-Raum und die EU-15, beide ohne Deutschland gerechnet (Tabelle 32). Nur in Japan war der Anstieg der Wirtschaftsleistung identisch mit dem in Deutschland. Bei der Beschäftigung weist Deutschland eine durchschnittliche jährliche Zuwachsrate von 0,8 v.H. auf, während in den Vereinigten Staaten sowie im Durchschnitt der übrigen Länder des Euro-Raums und der EU-15 die Veränderungsrate rund doppelt so hoch ausfiel. In Japan erhöhte sich die Beschäftigung lediglich um 0,4 v.H.. Es ist also bei dieser aggregierten Betrachtung nicht zu erkennen, dass die mit den Hartz-Gesetzen eingeführten arbeitsmarktpolitischen Reformen einen besonderen Schub bei der Beschäftigungsentwicklung ausgelöst hätten. Im Gegenteil: Während der Abstand von den in der Tabelle aufgeführten Wirtschaftsräumen bei der Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,4 und 0,5 Prozentpunkte ausmacht, liegt er bei der Beschäftigungsentwicklung zwischen 0,7 und 0,9 Prozentpunkten. Bei der von der Mehrheit des Sachverständigenrates für mehr Beschäftigung als zentral angesehenen Lohnpolitik kommt Deutschland auf einen durchschnittlichen jährlichen Zuwachs des Arbeitnehmerentgelts je Beschäftigten in Höhe von 0,6 v.H..
Dies unterscheidet sich gravierend von der Entwicklung in den Vereinigten Staaten (3,9 v.H.), im Euro-Raum (3,1 v.H.) und der EU-15 (3,2 v.H.), beide wiederum ohne Deutschland gerechnet. Die stärkste lohnpolitische Zurückhaltung ist in Japan zu beobachten, wo es zu einem jährlichen Rückgang der Arbeitnehmerentgelte um 0,2 v.H. gekommen ist.
Der entscheidende Effekt einer zurückhaltenden Lohnpolitik ist in der Entwicklung von Binnennachfrage und Exporten zu sehen. Deutschland und Japan weisen eine sehr schwache Zunahme der Binnennachfrage auf, dafür ist die Exportentwicklung überdurchschnittlich dynamisch.
Diese kann jedoch den Wachstumsverlust bei den inländischen Nachfragekomponenten nicht kompensieren, was die unterdurchschnittliche Wachstumsentwicklung von Japan und Deutschland erklärt.
Die schwache Entwicklung der Binnennachfrage ist in Deutschland wesentlich auf eine weitgehende Stagnation der privaten Konsumausgaben zurückzuführen, die sich seit dem Jahr 2004 – anders als in der Vergangenheit – weitgehend von der Veränderung entkoppelt hat (Schaubild 73). Für die Vertreter einer zurückhaltenden Lohnpolitik lässt sich eine solche Entwicklung nur schwer erklären, da sie stets darauf gesetzt haben, dass der dadurch ausgelöste Beschäftigungszuwachs auch für eine entsprechende Ausweitung des privaten Konsums sorgen würde.
Mit dem Befund, dass eine so starke Reduktion der Arbeitslosigkeit, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten gewesen ist, ohne jeden Effekt auf den privaten Verbrauch bleibt, ist ein wesentlicher theoretischer Stützpfeiler dieser Argumentation zusammengebrochen. Das ist im Grunde nicht überraschend, da Arbeitslose, die wieder in ein Beschäftigungsverhältnis wechseln, häufig netto über keine wesentlich größeren Einkommen verfügen als das Arbeitslosengeld. Zudem führt die zunehmende Verunsicherung über die Arbeitsplatzsicherheit auch dazu, dass die Sparquote deutlich angestiegen ist.
Die Löhne sind zu wenig gestiegen
Das Problem der letzten Jahre ist also nicht eine zu hohe, sondern eine zu niedrige Lohnentwicklung, die es verhindert hat, dass der Aufschwung in Deutschland eine selbsttragende Dynamik entfalten konnte. Wenn der Lohnanstieg in den letzten fünf Jahren pro Jahr um einen Prozentpunkt höher ausgefallen wäre, hätte dies – bei einem Lohnkostenanteil der Industrie von rund einem Fünftel – die Exportdynamik kaum beeinflusst, wohl aber deutliche Impulse für die Inlandsnachfrage gesetzt. Durch das Nebeneinander von binnenwirtschaftlicher Stagnation und starker außenwirtschaftlicher Dynamik hat sich zudem die Auslandsabhängigkeit der deutschen Wirtschaft in diesem Jahrzehnt enorm erhöht. Der Anteil der Exporte von Waren und Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt hat sich von 32 v.H. zu Beginn dieses Jahrzehnts auf zuletzt 48 v.H. erhöht.
Es gibt keinen Grund dafür, die Bindungswirkung von Tarifverträgen durch den Gesetzgeber noch weiter zu schwächen, zumal betriebliche Abweichungen im Rahmen von Öffnungsklauseln durch das Pforzheimer Abkommen schon seit längerem möglich sind und intensiv genutzt werden. Auch für das Jahr 2009 ist eine zurückhaltende Lohnpolitik nicht angebracht. Bei der massiven Abkühlung der Weltkonjunktur wäre es fatal, wenn es im nächsten Jahr auf diese Weise auch noch zu einem Einbruch beim privaten Verbrauch käme, der nach allen Prognosen – neben dem Staatskonsum – die einzige noch verbleibende Stütze der deutschen Wirtschaft darstellt. Eine sich an dem Produktivitätsfortschritt und der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank orientierte Lohnentwicklung ist auch unter dem Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen vertretbar, da diese in den letzten Monaten durch die gravierende Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar wie auch gegenüber dem japanischen Yen erhebliche Vorteile bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit erfahren haben.
Deutschlands Sonderweg bei den Mindestlöhnen
Auch in den anderen Bereichen des Arbeitsmarkts erscheint das Plädoyer der Mehrheit für mehr Markt und gegen den Staat wenig überzeugend. Dies gilt insbesondere für die Ablehnung von Mindestlöhnen. Hier irrt die Mehrheit, wenn sie behauptet, dass die Beweislast bei den Befürwortern von Mindestlöhnen läge. Branchenspezifische oder flächendeckende Mindestlöhne sind in nahezu allen europäischen Ländern gängige Praxis, ohne dass dort merkliche Beschäftigungsprobleme bei Geringqualifizierten zu identifizieren sind. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschland als eines der wenigen Länder ohne umfassende Regelungen weist in diesem Segment des Arbeitsmarkts die höchste Unterbeschäftigung von allen OECD-Ländern auf (Schaubild 74). Die Mehrheit verkennt zudem die Ratio solcher Regelungen, die darin zu sehen ist, dass für den Wettbewerb zwischen Unternehmen die Qualität ihrer Produkte und ihre Produktivität entscheidend sein soll, nicht aber ihre Fähigkeit, ihre Arbeitnehmer besonders schlecht zu bezahlen. Im Übrigen sei in diesem Punkt auf das Minderheitsvotum aus dem Jahresgutachten 2006/07 (Ziffern 576 ff.) verwiesen.
„Flexibilisierung“ für alle?
Die Ausführungen der Mehrheit zum Kündigungsschutz sind eindeutig (Ziffer ): „Die Literatur gelangt jedoch zu uneinheitlichen und wenig robusten Ergebnissen, wenn es darum geht, die Beschäftigungswirkungen vereinbarter Kündigungsschutzregeln zu evaluieren.“ Aus diesem Grund spricht wenig dafür, das bestehende System durch eine Lösung zu ersetzen, bei der Abfindungszahlungen geleistet werden sollen. Hier ist die Gefahr groß, dass zwar die Schutzbestimmungen beseitigt werden, ohne dass es jedoch zu ausreichend stringenten Verpflichtungen bei der Zahlung von Abfindungen kommt.
Zudem hat die dynamische wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre eindrucksvoll verdeutlicht, dass Unternehmen bei einer guten Wirtschaftslage durchaus bereit sind, neue Mitarbeiter einzustellen. Es trifft zu, dass dabei in größerem Umfang auch Leiharbeitsverhältnisse und damit Arbeitsplätze zweiter Klasse entstanden sind. Die von der Mehrheit des Sachverständigenrates beklagte „ungleiche Verteilung von Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt“ ist in der Tat bedauerlich, aber sie sollte keinesfalls zum Anlass dafür genommen werden, die rechtlichen Bestimmungen so zu ändern, dass es in Zukunft nur noch Arbeitsplätze zweiter Klasse gibt.
Negative Einkommensteuer statt Kombilohn
Auch das von der Mehrheit des Sachverständigenrates in diesem Jahr erneut in die Diskussion gebrachte Kombilohnmodell ist nicht überzeugend. Insbesondere ist offen geblieben, wie es möglich sein soll, den mehr als zwei Millionen Arbeitslosen im Rechtskreis des SBG II eine ausreichende Zahl von Beschäftigungsverhältnissen in Form von „1-Euro-Jobs“ anzubieten, ohne damit massive Verdrängungseffekte auf dem regulären Arbeitsmarkt auszulösen. Auch diese Thematik wurde im Minderheitsvotum im Jahresgutachten 2006/07 ausführlich diskutiert (Ziffern 565 ff.). Eine sinnvolle Lösung für das Problem von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern, die gleichwohl kein existenzsicherndes Einkommen erzielen können, besteht in der Einführung einer negativen Einkommensteuer, für die ein detailliertes Konzept entwickelt wurde (Bofinger et al., 2007). Auch wenn es gelingen würde, einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen, wäre ein solches Konzept zumindest für Arbeitnehmer mit Kindern erforderlich.