Die sogenannten Linksliberalen sind bei zentralen Fragen schon lange nicht mehr linksliberal.
Sie verdienen den Namen mit dem guten Klang nicht. Deshalb verdient der furiose Beitrag von Jens Berger von gestern über das „linksliberale Lager“ eine Ergänzung: Linksliberale gibt es nur noch wenige. Bei den Medien nicht. Bei den Parteien nicht. Im rot-grünen Milieu und bei den gut ausgebildeten Bürgern nicht. Unsere Gesellschaft hat einen gewaltigen Ruck nach rechts gemacht. Die dort Angekommenen immer noch linksliberal zu nennen, ist zu viel der Ehre. Sie sollten sich hinter diesem ehrwürdigen Etikett nicht weiter verstecken können. Albrecht Müller.
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SPD, FDP und Grüne und mit ihnen viele Medien und Menschen aus dem bürgerlichen Milieu haben sich den neoliberalen und von Rechtskonservativen geprägten Glaubenssätzen gebeugt.
Was ist linksliberal an der Agenda 2010? Was ist linksliberal an der Einführung von Leiharbeit und der Förderung prekärer Arbeitsverhältnisse? Und am Niedriglohnsektor?
Was soll linksliberal daran sein, die sogenannten Lohnnebenkosten zur großen Ursache der Arbeitslosigkeit hochzustilisieren? Das ist im Vorfeld der Agenda 2010 geschehen und daran war nicht nur die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft beteiligt, sondern die führenden Kräfte von Rot-Grün. In meinem 2004 erschienenen Buch „Die Reformlüge“ sind auf Seite 242/3 die Bekenntnisse dieser Damen und Herren dokumentiert: Krista Sager, Gerhard Schröder, Katrin Göring-Eckardt, das Memorandum der jungen Abgeordneten und – zentral für die Vorbereitung der Agenda 2010 – das sogenannte Kanzleramtspapier vom Dezember 2002, das unter der Federführung des damaligen Chefs des Bundeskanzleramtes und künftigen Bundespräsidenten Steinmeier entstanden ist. Dort wird die steigende Arbeitslosigkeit direkt mit den gestiegenen Lohnnebenkosten korreliert. Lauter „Linksliberale“ und lauter Unsinn.
Die Agenda 2010 ist auch von als links und liberal anerkannten Größen der Zeitgeschichte befördert worden – von Günter Grass zum Beispiel. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Flaggschiffe der als linksliberal geltenden Medien wie Spiegel und Stern und Zeit und Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau wirkungsvoll dagegengehalten hätten.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Im Jahr 1971 habe ich eine, für unser Thema lehrreiche Geschichte erlebt: Damals tagte unter Vorsitz von Erhard Eppler eine SPD-Steuerreformkommission. Ich war als Mitarbeiter an der Arbeit beteiligt. Einer meiner Freunde in der Bonner Redaktion der Süddeutschen Zeitung rief mich eines Tages an und berichtete, dass er von einer leitenden, als linksliberal geltenden Person des Blattes aus München angerufen worden war. Dieser wollte wissen, ob es denn stimme, dass die SPD Steuerreformkommission die Sonderabschreibungen für Ein- und Zweifamilienhäuser/Eigentumswohnungen nach dem Paragrafen 7b EStG künftig nicht mehr für mehrere Objekte gelten lassen wolle. So habe man ja nicht gewettet, als man die Sozis im Wahlkampf 1969 unterstützt habe. – Die Information war richtig. Die Sonderabschreibung sollte nach der Vorstellung der SPD Steuerreformkommission künftig nur für eigengenutzte Objekte gelten.
Schon damals drehten Personen, die sich progressiv wähnten, ab. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das kann man den Betroffenen nicht einmal übel nehmen, aber man sollte es beim Namen nennen. Und sie jedenfalls nicht mit dem schönen Wort linksliberal zieren.
Die angeblich linksliberalen Kräfte in Medien, Politik und Bürgertum haben sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts um die sogenannte Verteilungsfrage überhaupt nicht gekümmert. Sie war tabuisiert. Und wer die Steuerentlastungen der Regierungen Kohl und Schröder für die oberen Einkommen und Vermögen damals kritisierte, wurde bestenfalls missachtet, in der Regel kritisiert. Erst mit dem Erscheinen von Bestsellern zur Verteilungsfrage ist es wieder etwas geläufiger geworden, über Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung überhaupt zu sprechen. Aber dann ganz zart, wie man auf dem letzten Parteitag der Grünen sehen konnte. Die erst 1996 abgeschaffte Vermögensteuer, die bis dahin eine Selbstverständlichkeit war, wird von vielen aus dem grünen bürgerlichen Milieu offensichtlich als Fremdkörper betrachtet.
Was ist linksliberal an der Kampagne zum demographischen Wandel und dem nahegelegten Schluss, die staatlich geförderte Privatvorsorge würde das hochgespielte demographische Problem lösen?
Was ist linksliberal an der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und an der Übereignung wichtiger Teile der Daseinsvorsorge an Investoren mit Interesse am Profit?
Was ist linksliberal an der deutschen Sparpolitik und an der aggressiven Politik des Exportweltmeisters Deutschland? Diese Politik ist geprägt von Egoismus, von Rücksichtslosigkeit und von Ignoranz. Die Wirkung auf die Menschen, denen wir auf diese Weise die kleine industrielle Basis nehmen, die Arbeitslosigkeit, der Anstieg der Selbstmordrate, die Perspektivlosigkeit für die Jugend dieser Völker interessiert uns nicht. Stattdessen sind wir scharf darauf, die gut ausgebildeten Arbeitskräfte dieser Völker hier bei uns einzusetzen und auszubeuten.
Was war linksliberal am Jugoslawien Krieg und damit an der Einübung der Mitwirkung der Bundeswehr an militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Bereichs?
Dass Rudolf Scharping und Joschka Fischer daran tatkräftig und federführend mitgewirkt haben, ist sicher kein Beleg dafür. Im Gegenteil.
Daran wird sichtbar, wie nahe sich linke und rechtskonservative Politiker gekommen sind. Sie sind jetzt alle für Kriegseinsätze. Sie wirken jetzt alle mit beim neuen und erfolgreichen Versuch, das Feindbild Russland wieder aufzubauen.
Willy Brandt und Egon Bahr konnten in den sechziger Jahren ihre neue Ostpolitik nur deshalb wagen, weil sie sich auf einen Teil der Medien und auf beachtliche Teile des sogenannten linksliberalen Bürgertums verlassen konnten. Sie würden heute scheitern, weil es diese aktive Gruppe der Unterstützer mit der notwendigen Dimension, Breite und Dichte, nicht mehr gibt. Heute sind hochgebildete und sich liberal und fortschrittlich wähnende Mitmenschen mit dabei beim Aufbau eines neuen Feindbildes.
Bei den Diskussionen mit manchen dieser aus dem linksliberalen Lager kommenden Personen werden die älteren Semester unter uns an den Streit und die Diskussionen mit Vertretern der Jungen Union und des RCDS, des Rings Christlich-demokratischer Studenten, erinnert. Ich muss aufgrund meiner Erfahrung von 1960 manchmal an den als reaktionär verschrieenen Jürgen Wohlrabe denken. Der war nicht schlimmer als manche Redakteure der Tagesschau oder von Deutschlandradio Kultur, die den Aufbau von Feindbildern schon in Kindersendungen betreiben.
Wichtige Medienorgane, die von Linksliberalen geführt und bestimmt waren, sind heute rechtskonservativ und vor allem Kampagnen verpflichtet und nicht der Aufklärung.
Der Spiegel und die Zeit und der Stern und die TAZ waren in der Vergangenheit, zumindest in den sechziger und siebziger Jahren überwiegend progressive und kritische Blätter. Das ist alles weg. Einzelne Linksliberale gibt es in den Redaktionen noch. Aber sie verschwinden hinter den neoliberal geprägten heutigen Machern.
Chefredakteur des Spiegel war mal in einer entscheidenden Phase der Entspannungspolitik und der damaligen Reformpolitik – einer Politik zugunsten der Mehrheit unseres Volkes – Günter Gaus. Unter dem später nachfolgenden Stefan Aust war das Organ nicht mehr wieder zu erkennen. Und heute sowieso nicht.
Dass die ehedem kritischen und linksliberalen Medienorgane ihre Linie maßgeblich, nahezu vollständig verändert haben, wird von vielen Mediennutzern verdrängt.
Ein Teil des sich als linksliberal verstehenden Bürgertums glaubt immer noch, der Spiegel sei ein kritisches Blatt. Oder die Zeit sei ein Organ der Aufklärung. Oder die TAZ sei verlässlich links. Immer wieder begegne ich alten Freunden, für die die Veränderung bei diesen Organen nicht stattgefunden hat, jedenfalls nicht nachhaltig. Das ist ja zu verstehen. Es gibt ja auch so etwas wie Treue.
Manche als linksliberal geltende Personen sind eine Symbiose mit den Konservativen eingegangen; sie haben dabei Schützenhilfe geleistet, diesen neoliberal gefärbten Konservativen das Mäntelchen des Fortschritts umzuhängen.
Das merkt man ganz besonders beim Umgang mit und bei der Bewertung der Person Merkel und der Union.
Da reden nicht nur rechtskonservative Gegner von Frau Merkel davon, sie hätte sich sozialdemokratisiert. Diesen Irrglauben haben auch Journalisten übernommen und genährt, die als liberal und fortschrittlich gelten.
Das von Jens Berger treffend skizzierte rot-grüne Milieu hat sich beeindrucken lassen von den offenen Armen der deutschen Bundeskanzlerin für die Flüchtlinge und dabei trefflich vergessen, welchen Inhalt der Deal mit Erdogan hat und dass die offenen Arme auch etwas mit dem Versuch der Imagekorrektur der deutschen Bundeskanzlerin zu tun haben könnten. Diese Imagekorrektur war dringend nötig, nachdem die deutsche Bundesregierung unter Merkels Führung in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern mit ihrer Austeritätspolitik soziales Elend und menschliche Tragödien verursacht hatten.
Die Konsequenz?
Aufklären. Vor allem aufklären über die Annäherung der ehedem linksliberalen Medien an den neoliberal geprägten und vom lockeren Umgang für militärische Aktionen bestimmten Hauptstrom.
Die NachDenkSeiten bieten viel Material dafür und wir setzen auf die Menschen, die das Wort mit dem guten Klang – linksliberal, sozialliberal – wirklich verdienen. Sie gibt es noch und vermutlich wächst diese Gruppe. Sie und nicht die Angepassten sind das Salz in der Suppe.