Ende mit Schrecken – Schrecken ohne Ende
Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts, die einen Tag vor der anberaumten Parlamentsabstimmung ankündigten, Andrea Ypsilant ihre Stimme bei der Wahl zur Ministerpräsidentin zu verweigern, beriefen sich darauf, dass sie eine „Zusammenarbeit“ mit der Linken im hessischen Parlament nicht ihrem Gewissen vereinbaren könnten. Ist das Glaubwürdig? Was war denn wirklich die Gewissensfrage? Ging es tatsächlich um eine „Zusammenarbeit“ mit der Partei Die Linken? Wolfgang Lieb
In der Sache ging es erstens darum, dass einem Koalitionsvertrag eine Absage erteilt worden ist. Wohlgemerkt einem über zweieinhalb Wochen mühsam zwischen SPD und Grünen ausgehandelten und mit großer Mehrheit auf deren Parteitagen verabschiedeter Koalitionsvertrag, der die hessische Regierungspolitik die laufende Legislaturperiode bestimmen sollte. Hat da denn die Linke mit am Tisch gesessen?
Und zweitens ging es darum, dass man einer SPD-Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt, die diese im Koalitionsvertrag vereinbarte Politik umsetzen sollte, die Stimme entzog. Paradoxerweise, weil zur Wahl von Andrea Ypsilanti auch die gleichfalls nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten der Linkspartei mit Ja hätten stimmen müssen. Wenn man sich schon, wie die vier Abweichler, auf das eigene Gewissen und auf das freie Mandat beruft, warum gilt das dann nicht auch für die gewählten Abgeordneten der Linkspartei.
Es gab weder eine „Zusammenarbeit“ mit der Linken beim Aushandeln des Koalitionsvertrags noch gab es eine förmliche Wahlabsprache.
Die eigentliche Gewissensfrage war also, darf man einer Kandidatin die Stimme verweigern, die zur Umsetzung einer von der Regierungskoalition beschlossenen Politik jeweils eine parlamentarische Mehrheit finden muss.
Wären aber Gesetze oder Parlamentsbeschlüsse, die den Koalitionsvertrag umsetzten, falsch oder gar unmoralisch, weil die Abgeordneten der Linken zustimmten?
Dagmar Metzger und Carmen Evers beschworen bei ihrem Presseauftritt die „Demokratie“ und das „freie Mandat“ des Abgeordneten. Gilt dies aber nicht für alle Mitglieder des Parlaments? Auch für die gewählten Abgeordneten der Linkspartei? Dürfen diese – wohlgemerkt ohne Absprache und ohne Koalition – nicht Anträgen im Parlament zustimmen, die auch sie für richtig oder hinnehmbar halten?
Carmen Everts berief sich bei ihrer Gewissensentscheidung auf ihre Doktorarbeit zur Extremismusforschung und befand Die Linke als eine „teilweise linksextreme Partei“ deren Ziel es sei „der Sozialdemokratie zu schaden“. War es linksextremes Verhalten oder schädlich für die SPD, dass die hessische Linke beschlossen hat, eine rot-grüne Regierung zu tolerieren? (Tolerieren, also weder mit dieser Regierung zusammenzuarbeiten noch mit ihr zu paktieren wollen.)
Silke Tesch nahm für sich in Anspruch, sich „für Glaubwürdigkeit entschieden“ zu haben. Wäre eine Politik auf der Basis des Koalitionsvertrages etwa eine Entscheidung gegen die Glaubwürdigkeit der rot-grünen Koalition oder der SPD gewesen?
Ist die Verweigerung der Zustimmung durch Jürgen Walter glaubwürdig, der das Koalitionspapier mit ausgehandelt hat, und dann als er erfahren hat, dass er nicht Wirtschaftsminister sondern „nur“ Verkehrsminister werden sollte, plötzlich davon sprach, dass „rot-rot-grüne Politik zehntausende Arbeitsplätze gefährdet“. War es Die Linke, die die Vereinbarung zum Frankfurter Flughafen aushandelte? War es die Linksfraktion, die ihm das ihm passende Ministeramt verweigerte?
Warum schlug eigentlich des Gewissen der drei Abtrünnigen erst 8 Monate nach der Wahl und nicht spätestens als Ypsilantis erster Anlauf aufs Regierungsamt im März nach Metzgers Absage scheiterte? Warum haben sie auf den SPD-Regionalkonferenzen ihre Gewissensnöte nicht offenbart? Warum stimmten sie für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Grünen? Warum haben sie nach mehreren Probeabstimmungen in der SPD-Fraktion nicht wenigsten unter vier Augen Ypsilantie ihre Gewissensnöte anvertraut? Warum kein Wort auf dem Parteitag im Oktober, auf dem die SPD mit 98 Prozent die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Gründen beschloss? Warum erst nach zweieinhalbwöchigen Koalitionsverhandlungen und nach einem erneuten Parteitag vor zwei Tagen?
Wie können die Abweichler vor ihrem Gewissen verantworten, dass sich tausende Menschen engagiert haben, dass nächtelang verhandelt worden ist, dass Konferenzen und Parteitage einberufen worden sind, dass zahllose Gespräche geführt wurden, dass der gesamte demokratische Prozess über Nacht zu einer Posse gemacht wurde.
Man habe Druck auf sie ausgeübt, man habe sie nicht hören wollen. Dabei hätte ein Wörtchen genügt und die gesamte Presse wäre darüber hergefallen und hätte sie, wie Dagmar Metzger zu Helden hochstisiert.
Besonderen Mut hat es nun wahrlich nicht gebraucht, um sich wenigstens schon im Vorfeld auf sein Gewissen zu berufen: Es war ja nicht so, dass die Abweichler sich nicht wenigsten der klammheimlichen Sympathie der Führungsebene der SPD von Steinmeier über Steinbrück bis zu Müntefering sicher sein konnten. („Zum guten Schluss hat es nicht hingehauen“ lautet ein Versprecher von Franz Müntefering gestern.) Und schon gar nicht hätten sie die Medien befürchten müssen. Dazu brauchte man nur den heutigen Kommentar der Bild-Zeitung zu lesen: „Noch ist Andrea Ypsilanti nicht gewählt. Sie wird es auch nicht, wenn nur ein SPD-Politiker den Satz „Erst das Land, dann die Partei“ ernst nimmt – zusätzlich zu der mutigen Abgeordneten Metzger.“ (Siehe auch den Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo: Ein linker Putsch)
Glaubwürdiger waren da schon die Aussagen, die man aus den Zwischentönen auf der Presskonferenz heraushören konnte: Es sei eine „Entscheidung im überwiegenden Interesse“ der Bürgerinnen und Bürger gewesen, sie wolle eine Politik der „bürgerlichen Mitte“ (Metzger), er könne „dieser Regierung“ seine Zustimmung nicht geben (Walter), sie wolle ein Abdriften der SPD an den äußersten linken Rand“ und eine „schädliche Wirtschaftspolitik“ verhindern (Tesch), sie wolle eine „in der Mitte verankerte Sozialdemokratie“ (Everts). Es ging also weniger um die Linkspartei, sondern um die politische Ablehnung der rot-grünen Koalitionsvertrages und um die Verweigerung der Gefolgschaft für den Kurs den Andrea Ypsilanti einschlagen wollte.
Die Gewissensentscheidung in der Wahlkabine, war eher die moralische Camouflage für eine hinterhältige Verhinderung einer Politik, die von über neunzig Prozent der SPD zwei Tage zuvor beschlossen worden ist.
Die plötzliche Gewissensnot musste also herhalten, um eine von diesen Parteirechten unerwünschte Politik links von der Mitte in Hessen zu verhindern. Dass der Wahlverlierer Koch nun triumphiert und munter weiterregiert, belastet das Gewissen offensichtlich nicht.
Dass alle vier der SPD-Rechten angehörten, soviel ist jedenfalls kaum bestreitbar: Jürgen Walter als Wortführer der SPD-„Netzwerker“ fehlte auf dem Nominierungsparteitag gegenüber Ypsilanti gerade eine Stimme. Bei ihm darf man getrost eher (Macho-)Rachegefühle als reines Gewissen vermuten. Silke Tesch gehörte zur sog. „Aufwärts“-Runde, die sich als Opponent zu Ypsilantis linker „Vorwärts“-Runde versteht. Everts gehört zu den „Walterlingen“ und Metzger hat aus ihrer politischen Einstellung nie einen Hehl gemacht, dass sie als Aufsichtsratsmitglied beim Energieversorger HSE (einer 40%igen Eon-Tochter) gegen die Schließung von Kernkraftwerken ist, versteht sich.
Und genau an dieser Stelle zeigen sich die Parallelen zur gesamten SPD. Wie schon Clement gegen Ypsilanti oder wie schon Müntefering und Steinmeier gegen Beck, die Rechten in der SPD haben schon immer keinerlei Rücksicht und schon gar keine Solidarität mit Personen Beschlüssen ihrer Partei gekannt, deren Richtung ihnen nicht passte.
Die Rechte zieht ihren Kurs gegen die Parteilinke unerbittlich durch und sei es um den Preis, dass sie ganze Partei zerlegen. Wie sagte doch Frau Metzger heute so treffend: „Der Riss ist da.“ Die Rechte in der SPD hat die Partei nun vollends auseinander gerissen. Eine Politik wie sie Ypsilanti und die überwiegende Mehrheit der Hessen-SPD vertritt, hat innerhalb der SPD auf absehbare Zeit, ja wohl sogar auf Dauer keinerlei Chancen mehr, denn die Partei wird vollends auseinanderbrechen – sehr zur Freude der Linken. Die SPD hat nun nach allen Seiten ihre Glaubwürdigkeit und vor allem ihre Verlässlichkeit verloren – auch zu den Grünen. Ihr bleibt nur noch die Rolle des Steigbügelhalters für Frau Merkel oder das Dasein einer Splitterpartei auf dem „Mist“ in der Opposition und zwar in nahezu allen Parlamenten.
Das letzte Fenster einer Option für die SPD, Politik zu gestalten, ist in Hessen von den Rechtsabweichlern vollends zugemauert worden.
Aber in der Presse werden wir wieder überwiegend lesen, dass Ypsilanti an allem Schuld sei: am Niedergang der SPD, am Verlust von Glaubwürdigkeit der Politik, sie solle zurücktreten und nicht etwa die Abtrünnigen und vor allem werden wir lesen, dass die Abweichler die Helden sind.
In den Leitmedien wird das Halali geblasen: Ypsilanti ist zur Strecke gebracht.
Siehe z.B. Uwe Vorkötter in der FR
Anders allerdings Heribert Prantl in der SZ
p.s.. Der einzige Trost ist, dass ich dieses Scheitern schon nach der Wahl vorausgesagt hatte und leider Recht behalten habe, aber das ist ja gerade das Trostlose:
Die Möglichkeit einer Wahl Andrea Ypsilantis zur hessischen Ministerpräsidentin besteht nämlich gar nicht ernsthaft. Es müssten ihr ja nur zwei SPD-Fraktionäre ihre Stimme verweigern, und sie erlitte dasselbe Schicksal wie Heide Simonis in Schleswig-Holstein. Man muss sich nur einmal an den knappen Wahlsieg von Ypsilanti bei der Kandidatenkür der SPD erinnern, so mag man erkennen, wie viel politischer Widerstand ihr selbst in ihrer eigenen Partei entgegenschlägt. Man braucht sich nur an die aktuellen Querschüsse von Peer Steinbrück bei Maybritt Illner oder an die Absetzbewegungen von Peter Struck gegenüber dem zaghaften Schachzug von Kurt Beck vor Augen halten, dann kann selbst ein im politischen Intrigenspiel Unbedarfter erkennen, dass hier sowohl das konservative Führungspersonal als auch der rechte Seeheimer Kreis mit den Wölfen von Union und FDP heulen, um in Hessen einen Politikwechsel zu verhindern.
Quelle: NachDenkSeiten