Das Fundament des elitären Klassenbewusstseins
Ist eine Gesellschaft, die offen von “sozial Schwachen” und “bildungsfernen Schichten” spricht, eingebettet in ein sozialdarwinistisches Fundament? Meint eine solche Gesellschaft etwa damit, dass Armut und mangelnde Bildung vererbte Mängel sind? Oder handelt es sich bei solchen und ähnlichen Begrifflichkeiten nur um unglücklich gewählte Wortkonstrukte?
Von Roberto De Lapuente
Dazu ein kurzer Abriss zur Geschichte der Evolutionstheorie:
Charles Darwin weigerte sich viele Jahre, seine gewonnenen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Er scheute den Konflikt mit der Religion, die ja seit Jahrhunderten von der Unveränderbarkeit der Natur und der Kreaturen predigte – Darwin aber hatte erkannt, dass diese Unveränderbarkeit ein Märchen sein muss. Als er sich dann doch dazu entschloss, seine Theorie offen zu legen – vielmehr wurde er dazu genötigt, weil ein anderer Laienwissenschaftler Darwins Theorie unabhängig von ihm erahnte – entstand tatsächlich ein wissenschaftlicher Disput darüber, inwiefern die Evolutionstheorie mit der Religion vereinbar sei.
Während sich diese Form der religiösen Auseinandersetzung nur in England verbreitete, wurde um den Darwinismus – wie die Theorie nun immer öfter genannt wurde – in Deutschland ganz anders gerungen. Ernst Haeckel vertrat die Positionen der Evolutionstheorie, während Rudolf Virchow sie strikt leugnete. Dies tat letzterer nicht, weil die Theorie womöglich irrig wäre, sondern weil sie nicht ins politische Konzept passte, besser verschwiegen werden sollte, um den Status quo nicht zu gefährden. Der begeisterte Darwinist Haeckel baute die Theorie allerdings aus und verband sie mit dem damals grassierenden Nationalismus. Er radikalisierte Darwins Theorie dahingehend, in der Vererbung die Grundlage allen Existierenden erkennen zu wollen – und vor allem hievte er die Theorie in Sphären menschlicher Gesellschaft. Darwin hatte sich strikt geweigert, die Evolutionstheorie anhand des Menschen zu erklären. Aus dieser Radikalisierung erwuchs überdimensionales Herrenmenschengehabe, offener Rassismus und die ersten Anklänge einer Untermenschentheorie. Da Blut alles war, da auch Intelligenz, Fleiß, Leistungsfähigkeit und dergleichen vererbt würden und nicht Produkt der Lebensverhältnisse seien, so schlussfolgerte man aus dem Haeckelismus, könne man durch eine gelenkte Zuchtwahl die positiven Erbanteile expandieren, gleichzeitig die negativen und unwerten Erbträger zurückdrängen. Dies habe mittels Sterilisationen und “erbgesunden Eheverhältnissen” zu geschehen. Die Evolutionstheorie in Deutschland hatte also keinen wirklichen Verfechter, die Diskussion war geprägt von Leugnern der Theorie und von denen, die die Theorie aus ihren niederträchtigen Gefühlen heraus interpretierten.
Der Schritt von der Sterilisation zur Tötung minderwertigen Lebens war nurmehr ein kleiner, wenngleich dieser erst mit Etablierung des Dritten Reiches zur realpolitischen Möglichkeit wurde. Davor wurde aber munter darüber spekuliert, wie man “erbungesunde Subjekte” entfernen könnte. Jetzt war der Sozialdarwinismus deutscher Schule nicht mehr auf Deutschland alleine beschränkt, sondern fand im angelsächsischen Raum Anklang. Ab 1907 verabschiedeten viele US-amerikanische Bundesstaaten Sterilisationsgesetze, die es erlaubten, “Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache” von Nachwuchs zu befreien. In einigen Fällen wurden sogar Kastrationen vorgenommen. Die Eugenik war Kind seiner Zeit, nicht alleine nationalsozialistisches Sektierertum, sondern schon vormals, seit geraumer Zeit, geisterten Herrenmenschengehabe und Untermenschentum in den Köpfen der Eliten herum. Und dies nicht nur in deutschen Köpfen, sondern überall in der industrialisierten Welt.
Der Sozialdarwinismus, Hand in Hand mit seinem Bruder, dem Evolutionsrassismus, wurde zur Weltanschauung des Bürgertums. Eines Bürgertums, welches sich mehr und mehr als Elite verstand, als Prätorianergarde ihrer jeweiligen Nation. Hierbei berief man sich vor allem auf die Schriften Herbert Spencers, in denen er Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft am Armen als Zeichen von Schwäche wertete. Denn damit würde man den “Kampf ums Dasein” und das “Überleben des Stärksten” unnatürlich beeinflussen und dem Armen (durch Vererbung) zu Vorteilen verhelfen, die für ihn von Natur aus nicht vorgesehen waren – man würde also die Natur verfälschen. Noch Jahrzehnte nach Spencers Tod, würde ein “böhmischer Gefreiter” ganz im Sinne Spencers argumentieren – manchmal so wortgetreu, dass man davon ausgehen muss, dass Hitler Spencers Schriften kannte. Durch Spencer war die Gesellschaftstheorie zum Naturgesetz erklärt worden und die Eliten aller Herren Länder konnten sich wohlig von jeglicher sozialen Verantwortung drücken, konnten weiterhin ausbeuten und Pression ausüben, weil dies ja ausdrücklich dem Naturgesetz entspräche.
Wenn heute selbsterklärte Eliten von “sozial Schwachen” und “bildungsfernen Schichten”, wenn sie zudem von so genannten “Sozialhilfekarrieren” sprechen, die “generationenübergreifend fortgeführt” werden, dann sieht es doch sehr danach aus, als ob eine altbewährte Theorie wiederbelebt worden wäre. Während Friedrich Merz frohen Mutes von “Sozialhilfefamilien” sprechen darf, in denen der soziale Status quasi vererbt würde, fabuliert Oswald Metzger davon, wie Menschen den ganzen Tag betrunken und vollgefressen vor dem Fernsehgerät sitzen, und ihre Kinder zukünftig in gleicher Weise vor sich dahinvegetieren werden. Gleichzeitig erklären die Eliten, dass das deutsche Bildungssystem durchlässig sei, dass jeder eine Chance erhielte, wenn er nur qualifiziert genug sei – dabei außer Acht lassend, dass gerade in Deutschland – so wie nirgends sonst in Europa – kaum Kinder aus der Unter- oder Arbeiterschicht in den Genuss eines Studiums kommen. Die frühe Selektion derer, die auf das Gymnasium gehen werden, der damit vorgezeichnete Weg bereits ab dem zehnten Lebensjahr, will sich die Elite zudem bewahren – eine Einheitsschule, mit der Möglichkeit später höhere Schulen – vielleicht ab der achten oder neunten Klasse – zu besuchen, kommt für sie nicht in Frage. Ihre Kinder sollen dem Elitestatus gemäß geschult werden.
Im Wirken der Eliten, gerade im letzten Punkt das Schulsystem betreffend, wird erkennbar, dass sie nicht im System oder den Lebensverhältnissen die Grundlage der Ungleichheit erkennen. Mutig genug, im Blut, in den Genen, kurz: in der Vererbung, die mögliche Ungleichheit zu vermuten, sind sie freilich in Zeiten politischer Verbalkorrektheit nicht. Aber der Unterton schwingt mit, wenn sie ganze Familien als faules, nichtsnutziges Gesindel stilisieren, wenn sie Arme zu “sozial Schwachen” degradieren, wenn sie das Schulsystem trotz aller offensichtlichen Mängel als funktionierend betrachten. Schuld ist in ihren Augen nicht die Welt, wie sie ist – nicht das System, nicht Ausbeutung, nicht Unterdrückung, nicht die Armut. Schuld hat das Individuum – in ihm liegt der Grund der Schuldigkeit. Es liegt ihm quasi im Blut, ist seine persönliche biologische Konditionierung und ist, so muss man schlussfolgern, eben Ausdruck seiner Vererbung. Er ist leistungsschwach, weil sein Vater nur Hilfskraft war; er ist dumm, weil seine Mutter die Hauptschule abbrach oder die Sonderschule besuchte – dass Leistungsschwäche und “Dummheit” womöglich auf ein falsches Schulwesen, auf die Armut der Eltern oder auf die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber Unterschichtenkindern zurückzuführen ist, auf diese Idee kommen die Eliten freilich nicht. Dürfen sie gar nicht kommen, wenn sie ihr selbsterrichtetes Weltbild nicht zerstören, wenn sie darin weiter in wohliger Weltentrücktheit leben wollen. Und wie sie eine Karriere, wie die des Albert Camus, erklären wollen, bleibt im Nebel ihrer bornierten Weltsicht gefangen. Denn Camus war Kind einer Analphabetin, die zudem nicht mit großem Intellekt gesegnet war – als Camus 1957 den Literaturnobelpreis erhielt, konnte seine Mutter nicht verstehen, was dies genau bedeuten soll. Würde die Erblehre zutreffen, die so unterschwellig das Weltbild unserer Eliten kennzeichnet, so wäre Camus niemals über den Status eines Hilfsarbeiters hinausgekommen.
Aber man muss es in drastischer Form klar formulieren: Wer heute so auftritt, wer leugnet, dass die reale Welt die Hauptschuld für soziale Ungleichheit trägt, wer damit einem (meist) latenten Sozialdarwinismus frönt, in dem er die Schuld in den Genen des Dummen, Armen, Kranken oder Leistungsschwachen sieht, der ist Bestandteil einer alten Tradition, in der von “Erbungesunden” gesprochen wurde und in der es kein Tabu mehr war, von eugenischen Radikalschritten zu schwärmen. Auschwitz nahm seinen Anfang eben nicht mit Hitlers Machtergreifung, sondern schon lange vorher – der Massenmord an Juden, Sinti und Roma, an Homosexuellen, Kranken und Behinderten, fand bereits Jahrzehnte vorher in den Köpfen der Eliten statt. Und noch etwas ist zu erwähnen: Politische Gegner und Oppositionelle wurden im Dritten Reich verfolgt und als krank betrachtet, als gesellschaftszersetzende Elemente begriffen – der Sozialdarwinismus hat es erlaubt, aus jedem Missliebigen einen “erbkranken Idioten” zu machen. Mit dieser Scheinwissenschaftlichkeit lässt sich das elitäre Bürgertum seit mehr als einem Jahrhundert blenden – und heute wieder mehr denn je.
Wer sich also in solcher Weise äußert, genauer: wer sich in solcher sozialdarwinistischen Weise äußert, der muss es sich gefallen lassen, dass man ihn als Jünger von Auschwitz bezeichnet – als jemanden, der aus der Geschichte nicht gelernt, für die Zukunft nichts begriffen hat. Freilich werden solche Zeitgenossen einen solchen Einspruch nur schwerlich dulden, werden sich so etwas nicht gefallen lassen wollen. Aber hätte man jene Sozialdarwinisten vor der Auschwitz-Ära mit Auschwitz konfrontiert, mit der Zukunft also, die aus dem Sozialdarwinismus erblühte, so hätten sie sich einen Vergleich mit den Zukünftigen auch verbeten. Auch hier stehen die heutigen Jünger ihren Vorfahren im Geiste, in nichts nach…
Geschrieben von Roberto J. De Lapuente, ad sinistram – ein oppositioneller Blog