Liebe Journalisten-Kolleginnen/en, wollen Sie ihren Ruf völlig ruinieren? Jetzt mit der Kampagne gegen Sahra Wagenknecht wegen ihrer angeblichen „Selbstkrönung“.
Die jetzt in den Medien überall erzählte Geschichte von der „Selbstkrönung“ von Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht zu Spitzenkandidaten der Linkspartei und der Überrumpelung der Partei ist von Anfang bis Ende erstunken und erlogen. Die meisten Journalisten wissen das. Sie erzählen die Geschichte dennoch falsch, weil ihren Medien und den damit verbundenen Politikern die Präsenz, das Ansehen und die Qualität der Sahra Wagenknecht ein Dorn im Auge ist. Diese Frau muss weg! Diese Grundeinstellung spürt man allenthalben. Albrecht Müller
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Das ist schade. Eigentlich gäbe es für Journalistinnen und Journalisten wie auch für alle Demokraten im Blick auf den Bundestagswahlkampf 2017 eine fantastische Konstellation: Sahra Wagenknecht gegen Angela Merkel. – Das wäre doch was. Sportsgeist und Medieninteresse wie auch das Gebot, für eine interessante politische Debatte und für Alternativen zu sorgen, müsste doch jeden einigermaßen aufgeweckten Journalisten dazu bringen, sich eine solche Konstellation herbeizusehnen. Aber sie machen das Gegenteil. Sie sind auf Fertigmache gepolt. Armselig.
Wie war der Ablauf, der zur angeblichen „Selbstkrönung“ geführt hat, in den Reihen der Linkspartei wirklich?
Ich habe mich danach erkundigt und kann nach gewissenhafter Recherche folgendes berichten:
Am letzten Montag, also am 26.9., gab es eine Beratung des Geschäftsführenden Parteivorstands der Linkspartei mit den Landesvorsitzenden, zu der auch Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht als Fraktionschefs eingeladen waren. Offiziell sollte es um die Wahlstrategie gehen. Es war zu hören, dass es vorher eine interne Besprechung der beiden Fraktionschefs mit den Parteivorsitzenden gegeben haben soll, in der auch über die Varianten zur Spitzenkandidatur geredet wurde. Bereits dort sollen die beiden deutlich gemacht haben, welche Aufstellung sie für erfolgversprechend halten und für welche sie nicht zur Verfügung stünden. Dessen ungeachtet rief Katja Kipping bei der Beratung mit den Landesvorsitzenden das Thema auf und schlug ein Viererteam und ein “Damendoppel” als mögliche Optionen vor…
Das ist die ganze Geschichte von der sogenannten “Selbstkrönung”. Im Grunde ist das eine komplett überflüssige Debatte, denn eigentlich waren Bartsch und Wagenknecht schon vorher für die Spitzenkandidatur gesetzt. Aber offenbar überschätzt sich die Parteivorsitzende Kipping. Sie will in der ersten Reihe mitspielen, was man ihr persönlich nicht ankreiden kann, aber was aus dem Blickwinkel der Sorge um eine attraktive Perspektive der Linkspartei für die Spitzenkandidatur nicht gerade zielführend ist.
Ein Viererteam ist geradezu albern. Das weiß jeder, der wie ich, Wahlkämpfe geplant und durchgeführt hat. Und ein Duo Wagenknecht mit Kipping? Wie wenig praktikabel das ist, weiß jeder und jede, die das „Zusammenspiel“ der beiden Frauen und ihre verschiedenen Qualitäten auch nur einigermaßen aufmerksam beobachten.
Frau Kipping intrigiert oft gegen Sahra Wagenknecht. Manchmal ist es schon fast bewundernswert, wie offen sie ihr ans Schienbein tritt. Bewundernswert allerdings nicht, wenn man an den notwendigen gemeinsamen Erfolg denkt. Außerdem: wer es einigermaßen gut meint mit dem Ansehen der Linkspartei, wundert sich über manchen Auftritt von Frau Kipping in Talkshows. Mit Kipping als Teil eines Spitzenquartetts oder -duos wäre die Ausgangslage der Linkspartei vermutlich deutlich verschlechtert.
Im Hinterkopf muss man bei der Betrachtung dieser jämmerlichen Aufführung vermutlich auch noch die Erwägungen zur Anlage des Bundestagswahlkampfes haben. Es gibt einige in der Führung der Linkspartei, die zu einem Schmusekurs gegenüber Rot (der SPD) und Grün neigen. Und es gibt eben die anderen, die zwar ebenfalls den Wechsel von Schwarz-Rot zu Rot-Rot-Grün für anstrebenswert halten, aber eine zu frühe Ausrichtung und zu weite Konzessionen im Vorfeld der Wahl nicht für sinnvoll halten.
Zum Schluss: Sowohl die Linkspartei als auch die SPD haben, wenn sie ein Bündnis Rot-Rot-Grün nach der Bundestagswahl 2017 anstreben und erreichen wollen, allen Grund, ein maximales Ergebnis für ihre jeweilige Partei herauszuholen. Das verlangt, dass man die Spitzenkandidaturen entsprechend entscheidet. Sie müssen attraktiv sein für die Wählerinnen und Wähler und sie müssen die eigenen Anhänger und Multiplikatoren mobilisieren.
Wenn dieses Maximum nicht herausgeholt wird, dann bleibt der Wechsel in Berlin ein Traum. Die Gefahr nämlich, dass die große Koalition durch Schwarz-Grün – notfalls durch Schwarz-Grün-Gelb – abgelöst wird, ist ausgesprochen groß. Die jüngsten Äußerungen Joschka Fischers in der Süddeutschen Zeitung und seine Werbung für Angela Merkel sind ein weiteres Alarmzeichen dafür. Vorher schon gab es den Vorstoß des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann. Er hat sich mit Angela Merkel getroffen – mit dem offen bekundeten Ziel, auch auf Bundesebene Schwarz-Grün zu installieren.
Wenn man diese Gefahren sieht und sie für realistisch hält, dann kann man über die Spielchen der Parteivorsitzenden der Linkspartei nur noch lachen, ja eigentlich weinen.