Die Mühen der Integrations-Ebene
Vor rund einem Jahr fiel Merkels berühmter Satz „Wir schaffen das!“ Die Euphorie der Willkommenskultur ist schnell verflogen, die geflüchteten Menschen sind geblieben. Die Auseinandersetzung, wie mit ihnen umgegangen werden soll, spaltet zunehmend die Gesellschaft. Die auftretenden Schwierigkeiten und Zwischenfälle mit Migranten leiten Wasser auf die Mühlen der Rassisten und Rechtspopulisten. Am Beispiel eines kleinen nordhessischen Dorfes und einer dort untergebrachten afghanischen Familie berichtet Götz Eisenberg [*] von den Höhen und Tiefen des Integrations-Alltags.
Kunst statt Tünche
An einem schönen Sommertag nutze ich die Freiheiten des mir gerade zugewiesenen Rentnerstatus und fahre an einen Stausee in Nordhessen. Nach einem ausgiebigen Bad im See begebe ich mich auf eine Wanderung. Ich durchquere ein Dorf oberhalb des Sees. An einer Scheunenwand stoße ich auf ein großflächiges Mosaik. Verblüfft, ein derartiges Kunstwerk in dieser dörflichen Umgebung anzutreffen, bleibe ich stehen. Es erinnert mich an Darstellungen des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten, wie ich sie vom Kindergottesdienst her in Erinnerung habe. Auch Frantz Fanons Buch Die Verdammten dieser Erde fällt mir ein, das ich vor ein paar Tagen wieder einmal aus dem Regal geholt habe. Auf dem Cover der Rowohlt-Ausgabe sind Menschen in ähnlicher Haltung und Kleidung zu sehen. Hier nun bedecken zwölf bis fünfzehn lebensgroße Figuren in allen Hautfarben und verschiedensten Gewändern den rechten unteren Teil der Scheunenwand. Es sind offensichtlich Menschen auf der Flucht: Frauen, Männer, Alte, Junge, Hinfällige und Kinder. Ihre Körper sind aus Bruchstücken von Fliesen zusammengefügt, die Gesichter aus Ton modelliert und plastisch. Ich entdecke ganz unterschiedliche Gesichtsausdrücke, die von Angst, Schrecken und Skepsis zeugen und bis hin zu Hoffnung und Zuversicht reichen. Aus dem rechten Teil des Mosaiks wächst eine Skulptur hervor: ein Gesicht und darunter überdimensional große, betende Hände. Das Bemerkenswerteste aber ist, dass eine der Figuren anstelle des Gesichtes einen Spiegel trägt. Als ich näher herantrete, entdecke ich mich selbst unter den Flüchtlingen. Ich bin einer von ihnen. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack und mache ein erstes Foto.
Als ich noch dabei bin, nach der besten Perspektive zu suchen, tritt eine Frau auf mich zu und spricht mich an. Ob ich mich für das Mosaik interessiere und etwas über die Geschichte seiner Entstehung erfahren wolle, fragt sie. Sie sei dessen Urheberin. Das Mosaik sei im Frühjahr 2016 entstanden. Eines Morgens habe sie an der Wand ihrer Scheune fremdenfeindliche Schmierereien entdeckt. „Flüchtlinge raus“ habe da gestanden und eine Art Signatur. Neben die Skulptur mit den betenden Händen, die schon vor dem Mosaik existierte, habe man, wohl als Ausdruck der Verachtung ihrer Kunst und Person, einen Penis gesprüht. Es habe noch an anderen Gebäuden des Dorfes ähnliche Schmierereien gegeben. So habe an der Eingangstür ihres Hauses „Hurre“ (Schreibweise im Original!) gestanden und daneben habe man ein Hakenkreuz gesprüht. Im Dorf lebten vier Flüchtlinge: eine Frau aus Afghanistan mit drei Kindern. Sie hätten im Haus eines älteren Ehepaars Aufnahme gefunden. Auf dem Weg zum Bus passierten die Kinder jeden Tag die Scheunenwand, vor der wir gerade stünden und auf der sich die Parole „Flüchtlinge raus“ befunden habe. Deswegen sei es für sie vordringlich gewesen, diese zum Verschwinden zu bringen. Die Frage sei gewesen, wie man das bewerkstelligen solle. Sie habe sich dann dafür entschieden, die Schmierereien nicht einfach zu übertünchen, sondern eine künstlerische Lösung zu finden. „Das Übertünchen ist der in dieser Gesellschaft vorherrschende Modus im Umgang mit Unangenehmem, das aus der Vergangenheit immer wieder auftaucht.“ Das Übertünchte schlage immer wieder durch. „Ich wollte mit meinen Mitteln reagieren und aus dem Destruktiven etwas Positives entstehen lassen“, sagt sie und weist auf das von ihr geschaffene Mosaik. Als Künstlerin sei sie von der Mosaikkunst des Österreichers Friedensreich Hundertwasser beeinflusst und so habe sie sich für diese Möglichkeit entschieden. „Ich hoffe, es ist mir einigermaßen gelungen“, fügt sie hinzu. Wir gehen ins Haus und sie zeigt mir ein Foto von der Scheunenwand mit den Schmierereien drauf.
Sie habe tagelang an der Scheunenwand gearbeitet und währenddessen zahlreiche Rückmeldungen von Passanten bekommen. Das sei ein nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Form öffentlicher Kunst. „Raus aus dem Atelier, rein ins wirkliche Leben“, sagt sie. Fragen danach, was sie mit ihrer Kunst sagen wolle, beantworte sie aber in der Regel nicht. „Lass die Leute phantasieren und erforschen, dann werden sie mehr entdecken, als du ihnen jemals mit Worten beschreiben kannst. Kein Künstler sollte seine Werke erklären. Das nimmt die Spannung weg“, erläutert sie ihre Haltung. Was sie denn mit dem Spiegel beabsichtige, sei sie häufig gefragt worden. Da habe sie manchmal eine Ausnahme gemacht und geantwortet: „Jeder ist ein Flüchtling.“ Mehr aber auch nicht, um die Fülle der möglichen Assoziationen nicht vorschnell zu verengen. Auch ich könne mir meinen eigenen Reim auf die Bedeutung des Spiegels machen. Ob sie wisse, wer für die Schmierereien verantwortlich sei, frage ich zum Schluss. „Wir haben eine Vermutung, wissen aber nichts“, sagt sie sibyllinisch. Es sei letztlich auch nicht so wichtig. Wichtiger und schlimmer sei, dass die Schmierereien Ausdruck einer Stimmungslage in der Bevölkerung seien. Gerade hier auf dem platten Land, wo es kaum Ausländer gebe, sei die Fremdenfeindlichkeit verbreitet und tief verwurzelt. Sie habe für ihr Kunstwerk viel Anerkennung und Zuspruch erfahren, aber auch eine Menge diffuser, schweigender Feindseligkeit und Ablehnung erlebt. Von dieser Gemengelage könnten mir auch die Menschen berichten, die die Flüchtlinge in ihr Haus aufgenommen hätten. Wenn ich Interesse hätte, das Ehepaar Weber [1] kennenzulernen, könne sie den Kontakt gern herstellen. Sie seien seit Langem befreundet. Ich nehme das Angebot an und sie greift zum Telefon. Am frühen Nachmittag könne ich gern vorbeikommen, teilt die Künstlerin mir nach dem kurzen Telefonat mit. Ich bekomme eine Wegbeschreibung und Tipps, wie ich die Zeit bis dahin überbrücken kann.
Was sehen wir im Spiegel?
Ich verlasse den Ort und setze mich am Waldrand auf eine Bank. Ich mache mir Notizen und greife die Anregung der Künstlerin auf und denke über die Bedeutung des Spiegels nach. Das „Wir sind alle Flüchtlinge“ genügt mir nicht, ist mir zu allgemein. Der Satz mag gut gemeint sein und einen aufklärerischen Sinn und eine pädagogische Wirkung haben. Vielleicht bringt er den Einen und die Andere zum Nachdenken, vorausgesetzt, dass man überhaupt nachdenkt. Was also stört mich an ihm? Er verwischt die gravierenden Unterschiede zwischen den Flüchtlingen und uns. Vor allem den, dass wir und unsere Lebens- und Arbeitsweise zu den Bedingungen ihrer Flucht gehören. Frantz Fanon hätte uns einen solchen Satz um die Ohren gehauen und ihn als zutiefst verlogen zurückgewiesen. Je länger ich über ihn nachdenke, desto problematischer erscheint er mir. Was also sehen wir, wenn wir den Mut haben, wirklich in den Spiegel zu blicken, den uns die Flüchtlinge vorhalten? Wir sehen, dass unser Wohlstand auf ihrem Elend basiert; dass wir Ausbeuter sind, dass unser ganzer Reichtum aus Plünderung und Raub ihrer Besitztümer und Länder stammt; dass wir erst das Gold und die Edelmetalle, dann das Erdöl genommen und in die Mutterländer gebracht haben; dass unsere Kathedralen, Paläste und Industriestädte ihre Blutspuren tragen; dass es die von uns geführten Kriege sind, die ihre Lebensverhältnisse verwüstet und unerträglich gemacht und die staatlichen Strukturen in ihren Ländern zerstört haben. Wir dürften uns nicht wundern, wenn sie in unsere Häuser eindringen, sich an unsere Tische setzen, unsere Vorräte plündern und sich in unsere Betten legen würden. Aber das tun sie nicht einmal. Sie kommen nur und bitten uns um Hilfe. In der Regel wollen sie sich integrieren und sich an den hiesigen Lebensstil anpassen, obwohl sie allen Grund hätten, das Wertesystem der westlichen Mittelklasse abzulehnen. Das muss natürlich nicht so bleiben und ob zukünftige Flüchtlinge ihre Wut ähnlich im Zaum halten werden, ist nicht unbedingt gesagt. Alle gegen sie errichteten Barrieren, Zäune, Wälle und gesetzlichen Maßnahmen werden sie letztlich nicht aufhalten können. Fortgesetzte Kriege, Bürgerkriege, Landaufkäufe durch Konzerne, der Klimawandel, steigende Lebensmittelpreise werden dafür sorgen, dass es nicht weniger Flüchtlinge werden, wie die Politik den Wählermassen scheinheilig und aus Furcht vor einem weiteren Anwachsen der AfD verspricht.
Die Webers öffnen ihr Haus
Über diese Gedanken ist es Zeit geworden, zu den Webers aufzubrechen, die am anderen Ende des Ortes wohnen. Solar-Paneele auf dem Dach und der gute, alte „Atomkraft? Nein danke“-Aufkleber mit der roten, lachenden Sonne an der Tür deuten darauf hin, dass die Webers im grün-alternativen Milieu beheimatet sind. Ich werde herzlich empfangen und auf die Terrasse geführt. Wir stellen uns einander vor und trinken Tee. Dazu gibt es selbstgebackenen Kuchen. Ein Strauß aus Wiesenblumen steht auf dem Tisch. Die Webers sind um die siebzig Jahre alt. Ulrike war bis vor einigen Jahren Lehrerin, Helmut evangelischer Pfarrer. Sie haben einige Jahre in Lateinamerika gelebt und dort im Kontext der Befreiungstheologie und im Kampf gegen Diktaturen prägende Erfahrungen gemacht. Nach dem Auszug aus dem Pfarrhaus haben sie dieses Haus bezogen, zu dem ein fußballfeldgroßer Garten gehört, der auf angenehme Weise verwildert ist und zahlreiche Tiere beherbergt. Zwei Esel kann ich durch die Äste der Bäume hindurch erkennen und vor allem hören. Schafe, Ziegen und ein Pferd grasen auf Wiesen ein Stück weiter weg vom Haus. Der Hund der Webers hatte mich schon an der Tür begrüßt.
Ich erläutere den Grund meines Besuches und frage, ob sie mir etwas über ihr Zusammenleben mit Flüchtlingen erzählen könnten. Als im Herbst 2015 hunderttausende Flüchtende nach Deutschland kamen, entstand bei den Webers relativ schnell die Idee, eine zum Haus gehörende Souterrain-Wohnung, in der bislang gelegentlich Besuch untergebracht wurde, für eine Flüchtlingsfamilie zur Verfügung zu stellen. „Uns war klar, dass es nicht damit getan ist, an Bahnhöfen zu applaudieren und Schokolade und Plüschtiere zu verschenken“, sagt Helmut. Etwas Dauerhaftes wie Integration könne nicht auf etwas Flüchtiges wie die Willkommens-Euphorie gegründet werden. Ich kannte ja sicher die Brecht‘sche Formulierung von „den Mühen der Ebene“: Nach den Gipfeln der Willkommenskultur folgten nun die „Mühen der Ebene“. Für ihn und seine Frau sei es ein Gebot christlicher Nächstenliebe, aber auch politischer Solidarität gewesen, sich an der langfristigen Aufgabe der Integration zu beteiligen. Es folgten Verhandlungen mit der Gemeinde und dem Kreis, die sich bereit erklärten, für die Miete und die Nebenkosten aufzukommen. Sie selbst hätten die Wohnung auf Vordermann gebracht, Herd, Waschmaschine, Fernsehgerät und Kühlschrank gekauft. Im Bekannten- und Freundeskreis habe man Geschirr, Bettzeug, Möbel- und Kleidungsstücke gespendet und Unterstützung bei der Betreuung zugesagt. Im Januar 2016 sei es dann soweit gewesen. Eine aus Afghanistan stammende Frau mit drei Kindern sei vom Landkreis ihrer Gemeinde zugewiesen worden und sie hätten „ihre WG“ ins Leben gerufen. Es sei etwas anderes als ein gewöhnliches Mietverhältnis. Jeder habe zwar seine separaten Räumlichkeiten, aber im Alltag verbrächten sie doch eine Menge Zeit miteinander. Ulrike und Helmut seien für ihre Mitbewohner eigentlich rund um die Uhr ansprechbar. Seit die wärmere Jahreszeit angebrochen sei, treffe man sich regelmäßig am späten Nachmittag im Garten zur Fütterung der Esel und bespräche alles, was den Tag über angefallen sei. Bei den Eseln träfe man sich nicht zufällig. Sie symbolisierten die Verbindung zwischen der alten und der neuen Heimat. Eine Eselsbrücke ganz eigener Art.
Die neuen Mitbewohner
Die vier neuen Hausbewohner seien Nesrin, die Mutter, der 18-jährige Walid, die 15-jährige Nila und der 8-jährige Aziz. Der Mann von Nesrin und Vater der Kinder sei mit einem weiteren 11-jährigen Sohn an der Grenze zwischen Iran und Türkei von den anderen getrennt worden. Die beiden seien inzwischen nach Kabul zurückgekehrt. Trotz vieler Bemühungen bestünde bisher kein Kontakt zum Vater, worunter vor allem Nesrin sehr leide. Sie sei Analphabetin und nehme an einem Alphabetisierungskurs in der Kreisstadt teil. Sie verstünde inzwischen einiges, ihre aktive Teilnahme an der Kommunikation sei aber durch ihre Trauer um die Trennung von Mann und Sohn spürbar gehemmt. Es sei schwer, ihr einen Trost und Ablenkung zu erfinden. Auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland über das Mittelmeer hätten alle vier miterlebt, wie zwei weitere Boote in ihrer unmittelbaren Nähe untergegangen und die Insassen ertrunken seien. Wie ihre Mitbewohner mit dieser sicherlich traumatischen Erfahrung fertig würden, werde sich zeigen. Deswegen sei es umso wichtiger gewesen, ihnen schnell zu einem geregelten Alltag und zur Teilnahme am Schulunterricht zu verhelfen. „Da ist mir natürlich der Umstand zugutegekommen, dass ich aus meiner aktiven Zeit als Lehrerin viele Schulen und ihr Lehrpersonal noch kenne“, sagt Ulrike. Aziz besuche inzwischen die Grundschule im Nachbardorf, Nila die Realschule in der Kreisstadt und Walid sei in eine Integrationsklasse an einer berufsvorbereitenden Schule aufgenommen worden. Die Jungs seien begeisterte Fußballer und spielten in Mannschaften des örtlichen Fußballvereins. Der Fußball erweise sich als ein äußerst wirksames Vehikel der Integration. Da sie gute Spieler in ihrer jeweiligen Altersklasse seien, erhielten sie viel Anerkennung. Auch ihre deutschen Mitspieler würden etwas lernen: „Man kann hoffen, dass, wer gemeinsam Fußball spielt, nicht mehr so leicht Zugang findet zum gewöhnlichen, an der Haut- und Haarfarbe ansetzenden Rassismus“, sagt Helmut.
Das liefert das Stichwort und wir kommen auf die rechtsradikalen Schmierereien im Ort zu sprechen. Natürlich hätten die Mutter und ihre beiden älteren Kinder verstanden, dass sich die Parole „Flüchtlinge raus“ auf sie bezog. Außer ihnen habe es ja damals keine anderen Flüchtlinge im Ort gegeben. Inzwischen seien noch eine weitere Familie aus Afghanistan und fünf junge syrische Männer im Ort untergebracht worden. „Wir haben mit unseren Mitbewohnern in dem Zusammenhang besprochen, dass nicht alle Deutschen friends sind – bis dahin hatten sie eigentlich nur Freunde von uns und ihnen wohlgesonnene Menschen erlebt -, aber wir haben das Thema sehr flach gehalten, vor allem, um das Mädchen nicht zu ängstigen. Wir versuchen seither aufzupassen, dass vor allem Nila keinen weiten Weg alleine geht und begleiten sie, wann immer wir können, oder bringen sie mit dem Auto zu irgendwelchen Terminen“, erklärt Ulrike. Auch für die Familie sei es wichtig gewesen mitzuerleben, dass die feindseligen Parolen unter einem Kunstwerk verschwinden und das Negative etwas Positivem weicht. Sie, die Webers, hätten gelegentlich anonyme Briefe erhalten, vom Tenor her aus der AfD- oder NPD-Ecke, ergänzt Helmut. Er zieht eine Schublade auf, holt einen Brief hervor und liest vor: „Leute wie Sie wirken daran mit, dass Deutschland mit Fremden geflutet und die deutsche Bevölkerung durch eine aus allen Teilen der Erde herbeigerufene Bevölkerung ersetzt wird.“ Dass er hier jahrelang Gemeindepfarrer gewesen sei, auferlege den Leuten eine gewisse Zurückhaltung und bewahre sie wohl vor Schlimmerem, vermutet er. „Insgesamt überwiegen die positiven Reaktionen“, resümiert Ulrike, „wir bekommen viele Hilfsangebote und Unterstützung.“ Einige Bekannte würden der Mutter und den Kindern zusätzlichen Deutschunterricht erteilen.
Es klingelt an der Haustür und Helmut verschwindet für eine Weile. Als er zurückkehrt, berichtet er, ein Fernsehtechniker sei dagewesen und habe das Fernsehgerät der Mitbewohner ausgetauscht. Da von ihnen niemand zu Hause sei, habe er den Mann reinlassen und in die Wohnung begleiten müssen. Überhaupt seien ihre Mitbewohner digital auf dem neuesten Stand und verbrächten viel Zeit mit ihren Smartphones und am Computer. Sie hätten so etwas nicht und seien eher analoge Menschen.
Hoffnungen und Wünsche
Plötzlich dringen aus der Wohnung unter uns Stimmen und Lachen herauf. So langsam trudeln die Familienmitglieder ein. Wenig später treffen sich tatsächlich alle im Garten bei den Eseln, die Knut und Hugo heißen. Nur Aziz, der Jüngste, ist noch beim Fußballtraining. Nila berichtet euphorisch von ihrem Praktikum, das sie bei einer Friseurin im nächsten Ort absolviert. Eine Kundin habe ausdrücklich darauf bestanden, dass sie ihr demnächst die Haare zur Hochzeitsfrisur stecke. Das sei bereits ihr zweites Praktikum, das erste habe sie in den letzten Ferien bei einer Zahnärztin absolviert. Sie könne sich vorstellen, Zahnärztin zu werden. „Mach erst mal Schule fertig“, dämpft ihr großer Bruder ihre Euphorie. Er hat auch bereits ein Praktikum bei einem Schreiner gemacht und möchte sich beruflich in diese Richtung orientieren. Der 18-Jährige Walid erinnert daran, dass sie vor Krieg und alltäglicher Gewalt geflohen seien. „Das ist immer noch hier drin“, sagt er und klopft an seinen Kopf. Sie seien in der Hoffnung nach Deutschland gekommen, hier Frieden, Freiheit und eine Zukunft zu finden. Die Mutter steht still daneben, lächelt und schweigt. Sie trägt ein lose geschwungenes Tuch um den Kopf. Nila trägt ihr Haar offen und ist gekleidet wie hiesige Mädchen in ihrem Alter. Inzwischen ist auch Aziz eingetroffen und erzählt ganz aufgeregt, er sei am nächsten Samstag bei einem Mitspieler zum Geburtstag eingeladen. Er hat von allen am schnellsten Deutsch gelernt und beherrscht es bereits ziemlich gut. Nur wenn er zu viel auf einmal sagen möchte, verhaspelt er sich und sucht nach Worten.
In einigen Wochen wird endlich über den Asylantrag der Familie entschieden. Sie haben einen Anhörungstermin in der Erstaufnahmeeinrichtung erhalten, in der sie bis Ende 2015 untergebracht waren. Die Familie weiß, dass auch nach Afghanistan abgeschoben wird und dass keineswegs sicher ist, dass sie bleiben können. Das erfüllt alle mit Angst und Sorge. Die Webers wollen sie zur Anhörung begleiten und hoffen auf einen positiven Ausgang des Verfahrens. Der Gedanke, dass all die bereits unternommenen Integrationsbemühungen umsonst gewesen seien und die sich andeutenden Zukunftsperspektiven für die Kinder sich zerschlügen, sei im Grunde unerträglich.
Wie Integration klappen könnte und wie sie schiefgeht
Die Versammlung im Garten verläuft sich. Die Webers laden mich zum Abendessen ein. Dabei werden sie ein bisschen grundsätzlicher. Das vor beinahe einem Jahr von Frau Merkel verkündete „Wir schaffen das!“ sei ja möglicherweise gut gemeint gewesen, aber mit diesem Tschakka-Ruf sei es natürlich nicht getan. Integration sei ein langwieriger und mühseliger Vorgang und funktioniere nur unter gewissen Voraussetzungen. Man habe in der Folge versäumt, die zu schaffen. Es brauche eine Unmenge ehrenamtlicher Helfer, die die Neuankömmlinge unter ihre Fittiche nähmen. Und natürlich finanzielle Mittel und einen Abbau bürokratischer und juristischer Integrationshindernisse. „Ihnen das Arbeiten zu verbieten und ihnen gleichzeitig Untätigkeit vorzuwerfen, ist doch grotesk und zynisch“ sagt Helmut und fährt fort: „Die Flüchtlinge liegen wie Fische auf dem Trockenen und erleben, dass die Gesellschaft, in die sie integriert werden sollen, sie nicht braucht.“ Eigentlich brauche es eine Betreuung im Verhältnis Eins zu Eins, also Hunderttausende von Menschen, die bereit seien, eine Art Patenschaft einzugehen und sich intensiv um einzelne Flüchtlinge zu kümmern. Das setze die Bereitschaft voraus, „sich als Mensch zu geben“, wie André Gorz das einmal ausgedrückt habe. Diese etwa lasse sich weder von oben anordnen noch mit Geld kaufen. Ulrike nimmt den Faden auf: “Ich habe ‚unsere‘ afghanische Familie vor ein paar Tagen in eine nahegelegene Kleinstadt gebracht, weil dort eine befreundete Familie aus dem Iran untergekommen ist, die sie endlich mal besuchen wollten. Es war das totale Kontrastprogramm zu dem, was wir hier versuchen: mehr als 900 Asylbewerber in ehemaligen Kasernen – weitab vom Ort, keine Einkaufsmöglichkeit, kein Spielplatz, viele herumhängende junge Männer, die versuchen, die Zeit totzuschlagen und auf ihren Smartphones herumwischen. Abbas Khider, der als Flüchtling aus dem Irak selbst Monate in solchen Einrichtungen zugebracht hat, habe diese Situation in seinem Buch Ohrfeige als Zugleich von Trubel und Langeweile beschrieben. Man bringe seine Zeit mit Warten zu und werde von Tag zu Tag dämlicher. Dazu diese Security-Männer, die mir ihr Leid klagten, wie unsauber die Bewohner seien, ‚der reinste Saustall sei das hier‘. So kann Integration wirklich nicht gehen! Endlich haben wir dann die gesuchte Familie an einem Fenster entdeckt: zwei Erwachsene, drei Kinder – von drei Monaten bis circa zehn Jahre – in einem Zimmer, Gemeinschaftsküche auf dem Flur – und das seit 8 Monaten! Dass man in diesen Massenunterkünften für keinen einzigen Moment allein ist, keine Ruhe findet, oft nicht einmal die Türe hinter sich abschließen kann: Was macht das mit Menschen? Ich bin ziemlich geschockt nach Hause gekommen. Dass so etwas keinen Segen bringt, liegt doch auf der Hand. Diese Ghettobildung, das Zusammenpferchen vor allem junger, unverheirateter Männer, bereitet den Nährboden für Radikalisierungen aller Art: Islamismus, Kriminalität, Drogen- und Alkoholkonsum. “ Inzwischen seien hier im Dorf außer fünf jungen afghanischen Männern noch ein junges syrisches Paar und zwei Frauen mit Kindern angekommen. „Wir haben ganz klar gesagt, dass wir uns nicht noch um Andere kümmern können, mal sehen, wer sich findet“, sagt Helmut. Man könne gegenwärtig leider allenthalben beobachten, dass ehrenamtliches Engagement sich zurückbilde.
Wir decken den Tisch ab. Ich bedanke mich für diesen lehrreichen Tag und verabschiede mich. Helmut begleitet mich zum Auto. Auf dem Weg fügt er noch hinzu: „Nicht, dass der Eindruck entsteht, wir würden uns aufopfern und es sei alles nur Mühe und Arbeit. Wir haben auch viel bekommen. Es hat unser Leben enorm bereichert. Also, überlegen Sie es sich: So ein Projekt ist ein guter Beitrag zur Rentner-Revitalisierung.“
In der anbrechenden Dämmerung fahre ich nach Hause. Ein harmloser Badeausflug und Wandertag ist unverhofft zu einer politischen Exkursion geworden. So ungefähr hat Oskar Negt sich wohl „exemplarisches Lernen“ vorgestellt. Vielleicht wären solche Ausflüge in die Wirklichkeit Modelle für Schulen und Universitäten. Ich jedenfalls habe an diesem einen Tag mehr gelernt, als aus Dutzenden von Büchern.
[«*] Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenvollzug in Butzbach. In der „Edition Georg Büchner-Club“ erschien im Juli 2016 unter dem Titel „Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst“ der zweite Band seiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“. Siehe die Besprechung von Jordi Maiso auf den NachDenkSeiten.
[«1] Alle im Text vorkommenden Namen sind erfunden und nicht die wirklichen Namen der Akteure. Das geschieht zu deren Schutz.