„Mit der Vereinigung DDR/BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei.“
Ein Freund aus Plauen – Journalist, Fotograf, Musiker -, Frank Blenz hat sich Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit gemacht. Ich habe ihn gebeten, diesen Text für die NachDenkSeiten aufzuschreiben. Es ist ein spontaner, ein subjektiver, auch ein treffender Text. Die Lektüre ist auch jungen Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten zu empfehlen. Darin klingt an, was war, was wichtig war und was wichtig ist in der jüngeren Geschichte. Teil II. folgt. Albrecht Müller.
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Der Tag der Einheit naht, Gedanken über Früher und Heute. Teil I.
Von Frank Blenz, Plauen
Die vielleicht bisher beste, fortschrittlichste Variante der Umsetzung eines deutschen Staates haben wir im Osten erlebt, und dies in einer kurzen Phase, welche inzwischen vergessen scheint und doch so passiert ist zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühsommer 1990. Damals hieß diese Gegend noch DDR. Das wird so gut wie nie besprochen; die DDR trägt bis heute bei den Meinungshoheiten stets das Gesicht der Diktatur und den Stempel Unrechtsstaat. Dass sich das Land, dieser Teil Deutschlands aber entwickelte, dass es eine Revolution gab, dass es mit einem Mal ein anderes Land war – Pustekuchen.
Doch in diesen wenigen Monaten lebte es sich in der DDR so luftig frei und Revoluzzer erfrischend und freudig visionär wie naiv. Die Naivität wich dann, da mit den Monaten die ernüchternde Erkenntnis vor allem bei uns damals jungen Leuten Einzug hielt: mit der dann vollzogenen Form von Vereinigung DDR/ BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei.
DDR, das war in dieser kurzen Phase kein an der Nase herumgeführtes Land mehr der SED-Oberen, sondern eines des Volkes. Man stelle sich vor, es wurde heftig, kräftig, gut, fair und auch unfair in der Presse geschrieben, es wurde an den Tischen daheim, in Kneipen, bei Freunden (wie vorher auch schon, aber nun viel freier) diskutiert und es wurde skizziert, wie das Jetzt und die Zukunft aussehen könnte. Und es wurde schon viel ausprobiert und getan. Die jungen Leute fern von Konsumlust und voller Lust für eine bessere sozialistische Gesellschaft konnten sich gut vorstellen, die Ideen fern von Ausbeutung von Menschen, ein Miteinander, ein freies Leben, Solidarität und endlich auch ein Zusammenwirken von West mit Ost fern vom Kalten Krieg zu entwickeln. Gorbatschow war der Star. Progressive Bürgerrechtler fern kirchlicher Gnaden und Blockparteien auch. Ich war bis Januar 1990 Soldat (Pflichtwehrdienst). Ich habe im Herbst 1989 in meiner Kaserne in Thüringen mit anderen zusammen den ersten Soldatenrat gegründet. Wir haben neue Dienstvorschriften durchgesetzt, Wir haben ordentliche Urlaubs– und andere Freizeiten erkämpft und mit einem Mal war der Soldat Bürger und Mensch und der Ehrendienst einer.
Wir haben, als ich wieder Bürger zivil daheim war, Theater gespielt, wir haben erste Reisen gen Westen ohne Geld unternommen, denn die Mauer war ja gefallen. Es zog indes ein Unwetter auf bei allen Südfrüchten und Gebrauchtwagenmärkten: Die Allianz für Deutschland. Helmut Kohls Tross inklusive BILD und Bertelsmann und den Eliten der Konzerne und Deutschen Banken. Das spürten wir. Wir vernahmen schnell: von wegen eine gemeinsame Deutsche Verfassung, von wegen Übernahme von „guten Sachen der DDR“ (es blieb gerade mal beim Grünen Räumpfeil an der Ampel), von wegen „Blühende Landschaften“ wie Kanzler Kohl schwadronierte. Im allgemeinen Erzählen der Meinungshoheiten wird oft so gesprochen, als habe sich die DDR-Bevölkerung in Gänze dem Geschehen gegenüber unkritisch verhalten und gehofft, es werde alles gut. Nein. Wir, gerade junge Leute, wussten: Treuhand, der überaus perfide taktische Schritt „Rückgabe vor Entschädigung“, DDR-Mark-Umtausch zu einem teils unverstandenen Kurs (Enteignung der Bevölkerung), der folgende „Anschluss“ der DDR an das Bundesgebiet – das war alles kein faires Ding. Und damit wurden zig Chancen für ein gutes, besseres gemeinsames Deutschland bewusst nicht in Angriff genommen. Die Chefs, die Entscheider, allesamt aus dem Westen, wähnten sich auf der Seite derer, die sagten: Wir sind dass bessere Deutschland.
Wem nützte das? Es nutzte einigen. Den Eliten des Westens, deren Handlangern und Helfern und denen im Osten, gerade die im Osten, die immer schon gut waren im Ellenbogen ausfahren, anpassen. Diese Leute überholten die Westler gar im Wessi sein. Die Worte „Es war nicht alles schlecht in der DDR“, „die DDR will heute aber keiner mehr zurück haben“, „der Kapitalismus hat den Sozialismus besiegt“, „der Sozialismus in der DDR konnte ja nicht klappen“ – es sind alles Worthülsen, die so falsch wie tröge wie hinterhältig waren und bis heute bleiben. Am 18. März gab es die so genannten „ersten freien Wahlen“ in der DDR, in der das Geld siegte, eine Wahlkampagne ohnegleichen den Osten überrollte, Slogans von „keine Experimente“ und „den Sozialismus hatten wir schon“ bis „Nieder mit den roten Socken“ jeden Widerspruch, jedes neue Konzept, ja eben auch Experiment niedermachte.
Am 3.10.1990 folgte die Wiedervereinigung. Mit großer Feier vor dem Reichstag und dem vielfach falschen Gesang der Eliten der Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Was folgte bis ins Heute 2016 ist ein bis in diese Zeit verfestigter Zustand, der den Westen zu dem besseren Teil des Landes samt Bevölkerung und den Osten zum zweiten Sieger macht.
Ist es so bekannt, dass in den Grundbüchern des Ostens, vielfach Namen stehen, die aus dem Westen stammen (Mietshäuser, Villen, Neubauten, Gewerbebauten, Betriebe, Gewerbeflächen, landwirtschaftliche Betriebe, Nutzflächen und, und, und)? Der Osten gehört eben nicht den Ossis. Ist es bekannt, dass im Osten in Sachen großer Firmen fast alle Chefs und Eigner aus dem Westen kommen, dass die wichtigsten Posten in Verwaltung, Justiz, Banken – und weiterer Wirtschaft oft von Leuten besetzt sind, die keine Ossis sind? Man mag es kaum glauben, es ist so, wie Experten (z.B. Michael Hartmann, Soziologe, Buch: Die globale Wirtschaftselite. Eine Legende“) es auch in der Beobachtung und Untersuchung der Eliten in den derzeitigen Gesellschaften beobachten: Herkunft entscheidet über die Aussicht auf Aufstieg.
Es stimmt, die Straßen in den Neuen Ländern sind zumeist in Ordnung, die Altstädte sind schick, die Gewerbegebiete auf Vordermann und neue Unternehmen meist auf dem neuen Stand. Wem nun gehören diese Immobilien? Warum ist es so wichtig, dass die Infrastruktur stimmt? Dass im Osten die Arbeitslosigkeit immer noch hoch, die Organisiertheit der Arbeiterklasse und Arbeitnehmerschaft niedrig, die Löhne auch, das Gefühl des Abgehängtseins groß (es ist nicht nur ein Gefühl, zu viele Menschen sind abgehängt und werden vom Establishment und ihren Hinterhertrabern verachtet) und das Wühlen der boshaften Kräfte von NPD bis AfD boshafter als im Westen – es hat Ursachen, die auch im unfair realisierten „Zusammenwachsen Ost/ West“ zu suchen sind.
Die intellektuellen Basislager konservativer bis reaktionärer Denke stammen nicht aus dem Osten, beobachte ich. Der Mitgründer der AfD ist Hamburger und Professor der Uni in der Hansestadt. Die NPD hat ihre Wiege nicht an der Elbe zwischen Magdeburg und Dresden. Und die Waffen und Flyer und Klamotten und Autos für Aufmärsche in Sachsen und Thüringen kommen vielfach aus Bayern (sogar der BR, der Bayerische Rundfunk, hat schon darüber berichtet). Die Rattenfängerei klappt, es gibt Ossis, die nun AfDler, NPDler, Nazis und Reaktionäre sind. Mir ist das fremd, ich kannte das zu DDR Zeiten nicht. Ich kannte damals wohl, dass es Leute auch in meinem Umkreis gab, die „die Roten“ hassten und den Westen wollten, die aus Prinzip nur ARD und ZDF und Rias konsumierten und jede Woche Westpakete von der Verwandtschaft aus dem Ruhrgebiet bekamen. Die haben das mit der Idee nicht verstanden, dass es das nicht geben sollte, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Idee, dass es keine Gesellschaft von Siegern und Verlierern, von Oben und Unten geben sollte. Wie gut liest sich bis heute gerade der Slogan der Franzosen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das hat was Ursoziales, Erstrebenswertes.
Die Idee des Sozialismus. Sie ist auf deutschem Boden schon mal praktisch ausprobiert worden. Nicht von den Eliten. Nein, von den einfachen Leuten, von den Idealisten, von den Menschen, die ahnten, das hat was, das ist gut. Ich war dabei. Und ich habe das Für und Wider erlebt, meine Biografie ist von den Kämpfen, Krämpfen, Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten geprägt. Ich sage: trotz allem, war der Versuch die bisher mutigste Sache, die in unser aller Heimat versucht wurde. Doch richtig Sozialismus konnte man die Realität bis zur Wendezeit nicht nennen. Danach schon, in Ansätzen.
Bei der Umsetzung zwischen 1949 und 1989 im Herbst, da standen welche dazwischen, die eine Realität durchzogen und zu verantworten haben, die bisweilen skurrile Züge trug. Sie gab es:
Die Gegner:
- Die Eliten der Parteikader, der Sicherheitsorgane, der Blockparteien und der Kirchenoberen, der Machthaber und Strippenzieher, der Mitläufer, die da alle mitmachten bei dem Nachplappern und Machtmissbrauchen, weil sie sich eingerichtet hatten.
- Der Westen. Die Eliten, die Regierungen, die Nato, die Bosse und Banker, die Leute der Denkfabriken. Es gab Boykottlisten und Sanktionen auf Dauer gegen die DDR und andere Staaten des RGW, es gab stete mediale Meinungsmache, Hetze. Die Folgen waren verheerend. Die DDR kam nicht auf die Strümpfe, die Brüder und Schwestern im Westen dachten von denen im Osten nicht gut, es wurde so erzogen. Dazu ein Beispiel, ein Zitat eines Westberliners bei einem Gespräch in einem Berliner Indien-Lokal nach der Wende 1997: „Damals vor dem Mauerfall haben die uns in der Schule und überall im Westen gesagt: alles was aus dem Osten kommt, ist Scheiße.“ Und ich habe es schon zu DDR-Zeiten so erlebt, dass bei „Westbesuchen“ stets der Eindruck des Belächelns uns gegenüber aufkam.
Das Leben im Osten, ja, es war eine Mischung aus heiler Welt, aus engagiertem Meistern des Alltags, der Schwierigkeiten, es war ein ständiges Tun im Zwiespalt eines gespaltenen Landes. Es war ein trotziges Leben auch. Auch gegenüber dem Westen. Wir konnten nicht so gut Fußball spielen, doch zur WM schlugen wir die Westdeutschen 1:0. Auch sonst waren wir gerade beim Sport schneller, höher, weiter als die Brüder und Schwestern aus dem Westen. Dass das erfolgreich medial und publizistisch mit dem Doping und der Staatsräson erklärt wird (um gleichzeitig zu verschweigen, dass die BRD viele Mittelchen für ihre Akteure parat hatte, sogar für die Sepp Herbergers Weltmeisterelf von 1954), sei s drum.
Tatsächlich gab es ständig diesen Vergleich, oft zum Nachteil der DDR.
Dass in der DDR aber keine Straße, keine Kaserne nach einem Nazi benannt wurde, dass in Sachen internationaler Beziehungen zum Beispiel mit Ländern in Afrika damals schon faires Handeln und echte Hilfe realisiert wurde statt Kolonialismus, steht auf der Habenseite. In Mosambique oder Angola oder Ägypten oder in weiteren Ländern Nordafrikas wurden mit Unterstützung von ostdeutschen Agrarexperten Programme durchgesetzt, die eine bessere Versorgung der Bevölkerung garantierten. In Mosambique wurde das von „Rebellen“ dank freiheitlicher US-Helfer mit Waffengewalt kaputt gemacht. In Chile putschte 1973 Pinochet, vorher und danach hat die DDR den Leuten dort viel Solidarität und Hilfe geleistet (einschließlich Asyl für viele Chilenen in der DDR nach dem Sturz und der Ermordung Allendes). Weitere Länder lassen sich aufzählen. Vietnam, Kuba, Nicaragua, andere Länder Lateinamerikas, Palästina. Ich hatte bei der Pflege der Beziehungen zu diesen Ländern stets den Eindruck, dass da bei aller Politik und Geostrategie wirklich Freundschaft und ein gutes Miteinander tragende Motivationsgründe waren. Und bei der Wiedervereinigung war mir ebenfalls bewusst, dass nun die USA als „Freunde“ einen wie bis dato schon unrühmlichen Beitrag leisten werden. Die Amis waren in der DDR beliebt: bei der Musik, beim Sport, bei Jeans und Kaugummi und bei Wild West Filmen. Bei letzteren liebten aber alle stets die Indianer und nicht die Cowboys. In anderen Bereichen waren die USA nicht beliebt. Bis heute nicht.
Wir hatten keine Supermärkte. Es gab in meiner kleinen Heimatstadt zig Fleischer, Bäcker, drei Gemüse-Obst-Läden, einen Fischladen, mehrere Cafes, einen Späteinkaufladen, mehrere Lebensmittelläden der Organisationen HO und Konsum und gar mehrere Tante Emma Läden. Der Clou: es gab einen Laden, der als Laden selbstgemachte Salate und Mitnehmspeisen wie auch als Garküche für die Arbeitswoche Mittagstisch anbot und legendär war. Es waren fast alle Gewerbeflächen belegt. Die Schaufenster der Läden liebevoll gestaltet, obschon sie nicht vergleichbar waren mit West-Schaufenstern. Ja, es duftete nicht so wie bei Aldi oder Tengelmann.
Westpakete. Die waren bei DDRlern beliebt, Verwandte aus dem Westen legten Süßes, Kaffee, Klamotten und, und, und ´rein. Zugegeben, die Konsumwaren der BRD gab es so nicht in der DDR, also gab es Begehrlichkeiten. Ich hatte ab 1985 auch richtige Westverwandte, meine Mutter und meine Schwester zogen mit dem zweiten Mann meiner Mama gen Westen. Ich blieb mit meinem Vater im Osten. Dann kamen ab und an Pakete. Ich wünschte mir… Schallplatten. Grönemeyer, Lionel Richie.
Sport war Alltag bei mir und im Land. Es gab viele Vereine, ich habe Fußball gespielt, wollte gar Profi werden. Drei, vier Mal Training die Woche, Wochenende Spiel. Klamotten, Schuhe, Transport – alles wurde vom Verein gestellt. Nach dem Freitagstraining gab es stets ein großes Sportlerbuffet. Die Anlagen waren gepflegt, es gab aber auch viel Investitionsstau, weil Material fehlte und das Know How, Stadien und Struktur zu errichten wie heute.
Schule. Ein Bereich, den ich liebte und hasste. Zum einen gab es viele interessante Fächer, es wurde umfänglich unterrichtet und auch nicht streng nach Lehrplan (je nach Lehrer, wie es im Leben halt so ist). Es wurde auch diskutiert und es wurde eben nicht, wie oft behauptet, dauernd und generell Andersdenken unterdrückt. Ich hatte schon 1978 als Achtklässler in Geografie und Geschichte mit dem Lehrer diskutiert, dass es nicht gut ist, dass es keine „Reisefreiheit gibt“ und dass die Mauer steht und zwar so, dass sie am Flüchten hindert und nicht am Hereinkommen… Das hatte keine Folgen. Es gab indes auch dieses Vereinnahmen nach Staatsräson, Pioniere, Freie Deutsche Jugend, Slogans, 1. Mai, die Partei. Wer konnte, entzog sich, so gut es ging. Und lebte ein ziviles, streitbares Leben. Ich habe mich immer renitent verhalten und nie ein Parteibuch in der Tasche gehabt. Kirche. Ich musste als Kind in die Kirche. Ich erlebte dort, dass es eine andere Art von Wohlstand gab. Der katholische Pfarrer hatte alles so in der Art, wie es im Westen sein musste. Mich störte das wenig, bis heute ist das Thema Konsum nur eines von vielen, die das Leben ausmacht. Ich erlebte auch, dass die Kirche sich gut eingerichtet hatte. Und gut konnte mit den „Roten“. Ich kann nur mal so verweisen auf heutige Politprominenz, die es damals im Osten schon leicht hatten (Gauck, Merkel). Und an Feiertagen waren Kirchen gut besucht. Fakt ist auch, dass es diesen Kampf der Ideologien gab, dass sich eine Opposition gerade in Kirchenräumen traf unter der Deckung/ Tarnung christlicher Bibelstunden oder Kreise. Und dass es „staatliche“ Pression gab gegen diese Leute.
Zusammenleben. Es war eine weniger hektische Zeit damals. Es gab viel Zusammenleben der Menschen. Ich spreche von meinem Umfeld. Viele hatten Gärten, in den Kneipen war das Bier preiswert, an den Wochenenden waren die Tanzsäle voll, es gab rege kulturelle, sportliche, freizeitorientierte Bewegungen. Nachbarschaftliche Beziehungen wurden aus Solidarität, Freundschaft und aus wirtschaftlichen Interessen gepflegt. Der Tauschhandel, der Tausch von Kompetenzen und der von Ressourcen wurde gepflegt. Es herrschte irgendwo immer irgendein Mangel, es wurde immer irgendwie eine Lösung gefunden. Im Freundeskreis gab es viele Treffen, viele Diskussionen, offen, kontrovers, kritisch mit dem „realen Sozialismus“, mit dem Westen, über Frieden, über Krieg, über die Ungerechtigkeiten der Welt. Dass es Spitzel gab, das war bekannt, ich habe dennoch stets meine Weltsicht vertreten, Kritik geäußert. Es gab auch die, die zwei Gesichter hatten, daheim schimpfen und draußen die besten DDRler sein. Und ich erfuhr nach der Wende, dass Freunde Spitzel waren.
Urlaub wurde gemacht. Ferien gab es acht Wochen allein schon im Sommer, drei Wochen im Winter. Dann waren alle unterwegs. Im Land und im sozialistischen Ausland. Ich habe viele Reisen unternommen. Bis runter nach Bulgarien ging es. Froh bin ich, dass es nach der Wiedervereinigung (die, wie oben beschrieben, nicht so gut lief) wenigstens mit dem Reisen weiter weg ging. Ich lächle gerade.
Beruf und Karriere. Dass meine Biografie von Ost und West so beeinflusst werden sollte, wie geschehen, vermochte ich erst so nach und nach zu begreifen. Wie schon beschrieben, war ich ab 1985 ein Bürger mit Westverwandtschaft. Das hatte zur Folge, dass mein Berufsweg eingegrenzt war. Kein Studium konnte ich aufnehmen. Ich habe mich mehrfach beworben, habe auch Aufnahmeprüfungen gemeistert: Musiklehrerstudium, Grafik-Kunststudium, Kultur-Ökonomie-Studium, Sport-Studium. Alles endete mit Ablehnungen. Teils mit sonst was für Begründungen. Ich habe Abitur gemacht und einen Beruf in der Textilbranche erlernt, dort ein halbes Jahr gearbeitet und dann einen Job als Mitarbeiter in einem Kulturhaus (später Kultur in der Stadtverwaltung) bekommen. Das war ein Glücksfall. Doch 1988 musste ich zur Armee kurz vor der Ausmusterung…
Noch Fragen? Ach ja, noch ein paar Stichworte. Bettler? Nein. Keine gesehen in DDR Zeiten, nicht im Osten, nicht in Budapest, nicht am Schwarzen Meer, nicht in Prag. (Nach der Wende um so viele mehr…)
Arbeitslose? Es gab offiziell Vollbeschäftigung. Tatsächlich waren die meisten Menschen untergebracht, es gab solche, die viel, andere die nicht viel zu tun hatten. Wohnungslose? Nein. Es gab eine Art Wohnungsknappheit und der Zustand gerade in der Altbausubstanz war teils morbid. Das änderte sich zäh und doch sichtbar und spürbar verbesserten sich die Wohnverhältnisse. Preise? Lebensmittel waren sehr günstig, edle Lebensmittel (Schokolade, exotische Konserven, Weine) eher teuer. Mieten, Strom, Verkehrsmittel, Eintrittspreise – alles niedrig und erschwinglich. Artikel wie Fernseher, Autos und modische Klamotten – teuer.
Als Kind genoss ich das Leben, kaufte mir ne Groschensemmel und ne Flasche Vita Cola und ging zum Fußballspielen auf den Bolzplatz.
Warenangebot im ideellen Bereich? Bücherangebot war sehr gut, Bildbände weniger. Schallplatten auch mau (internationale Musik). Die DDR-Bands die mochte ich nicht besonders ihrer Stilrichtungen wegen (Ostrock, steifer Sound, Texte), da kam mir Jazz und Funk und Soul von Berliner Bands wie Zöllner oder Jessica oder Flair entgegen.
Medien? Ein vielfältiges Angebot. Zeitschriften, Tageszeitungen. Wir hatten drei Zeitungen daheim, Lokal, eine Junge Welt, eine Tageszeitung für Sport (!): Sport-Echo. Dazu noch die Wochenpost, diverse Zeitschriften und Comichefte (Mosaik). Das Sowjetmagazin Sputnik (wurde 1988 verboten, da war ich Soldat, wir haben in der Kaserne protestiert, nach der Revolution war das Blatt wieder erlaubt). – Zu sagen ist auch, dass es einen Zwischen-den-Zeilen-lesen-Journalismus gab und durchaus sehr gute Artikel. Die Verlautbarungsartikel der Obrigkeit – konnte man sich schenken, außer man konnte den Tenor herauslesen. Nebenbei: die Medien heute sind irgendwie nicht besser…
Zum Finale. Skurril, tragikomisch herrscht der Eindruck, das Erleben: bis heute steht die Mauer. Wir sind ab und an im Westen, und öfters kommt bis heute (!) der Spruch „ihr aus der DDR“. Wie mit der Muttermilch weitergegeben. Derlei Ost–West–Unterschied wird gepflegt im Sport, in der Wirtschaft, bei gesellschaftlichen Anlässen, er ist zu spüren bei kleinen Lebenssituationen, die so schnell an uns vorbei huschen, dass man aufmerksam sein sollte, sie zu registrieren. Beispiel? Ja, meine Tochter und ich saßen jüngst in Berlin am Gendarmenmarkt vor einem kleinen Lokal, gleich daneben standen eine Frau und ein Mann in einem Hauseingang eines Hauses für Behörden, Firmen, Versicherungen. Sie rauchten. Sie bliesen den Rauch gen uns. Ich regte mich auf. Der Mann schaltete auf stur und meinte dann noch, ich sollte erst mal Deutsch lernen als Ossi. Wohl bemerkt: er stand mit seiner Zigarette auf Ostberliner Gebiet und laberte einen Menschen an, den er als einen Ossi beschimpfte, weil er einen ostdeutschen Dialekt sprach….
Und nun geht es gen Feiertag. 3. Oktober. Und da fühlt sich die unserige Bundesregierung gemüßigt, einen Bericht zu veröffentlichen von der „Ostbeauftragten“. Und er liest sich wie der Beweis und Beleg dafür, wie in diesen elitären Kreisen gedacht wird, was gehalten wird von der Einheit. Was ist das für eine Einheit, wenn immer wieder geteilt und unterschieden wird und wenn die Schuld von Teilung dann auch noch denen untergeschoben wird, die nichts dafür können?
Mit dem Ärgernis „Ostbeauftragte und Co“ beschäftige ich mich im Teil II.