Die Normalität gebiert Ungeheuer – Rezension zu Götz Eisenberg: Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Band 2
Der zweite Band von Götz Eisenbergs „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ bietet Einblicke in die alltägliche Destruktivität der kapitalistischen Gesellschaft – und versucht Abwehrkräfte dagegen zu mobilisieren. Von Jordi Maiso[*].
Die Destruktivität unserer Lebensverhältnisse ist nicht zu übersehen: Amok, Terrorismus, unaufhaltsame Gewaltausbrüche, Depression und unerbittliche Konkurrenz, sich breitmachende Angst, Kälte und auf Einschaltquoten zielende Sentimentalität, massives Flüchtlingselend und wachsende Xenophobie, neue Armut, Chauvinismus und unhinterfragbare Zumutungen, die das sture ‚Weiter-so’ aufrechterhalten sollen. Die stumme Gewalt der Verhältnisse wird in der Krise des Weltkapitalismus immer verheerender, und erzeugt beschädigtes Leben überall. Die Risse und Schründe der Welt werden immer sichtbarer, und dennoch herrscht weiter business as usual. Eine kritische Theorie, die ihren Name verdient, muss sich an den Abgründen und Rätseln messen, die ihre gesellschaftsgeschichtliche Situation aufwirft. Es ist der große Verdienst Götz Eisenbergs, dass er sich nicht davor scheut, sondern es zu seiner Aufgabe macht. Seine „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ richtet sich mit chirurgischer Präzision auf die wunden Stellen einer Gesellschaft, deren zerstörerisches Potenzial immer offensichtlicher wird. Doch Eisenberg erkennt nicht nur die Nöte der Gegenwart und ihre Reichweite. Es gelingt ihm auch aufzuzeigen, wie gesellschaftliche Destruktivität im vermeintlich harmlosen Alltag nistet und im Schatten scheinbar angepassten Verhaltens heranreifen kann.
Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst ist der zweite Band von Eisenbergs „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“. Wie der vorhergehende Zwischen Amok und Alzheimer (2015), besteht das Buch aus einer Collage zerstreuter Essays und Alltagsbeobachtungen, die auf verschiedene Ereignisse eingehen, manchmal auch Bücher oder Nachrichten als Anstoß zur Reflexion nehmen: vom Attentat von Sarajevo 1914 zum Umgang der EU mit Griechenland im Kontext der Eurokrise. Dennoch lässt der Band ein einheitliches, wenn auch fragmentiertes Bild mit klaren Konturen erkennen. Denn alle Fragmente und Essays sind, wie der Autor bemerkt, „gleich weit vom Mittelpunkt entfernt“ (S. 20). In der Tat regt die Lektüre dazu an, das gesellschaftliche Schwerefeld zwischen scheinbar disparaten Erscheinungen zu erkennen: vom Flugzeug-Amok am 10. März 2015 in den französischen Alpen bis zu den Faschisierungsprozessen, die in Phänomenen wie Pegida und der AfD sichtbar werden; von der tiefgreifenden Veränderung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, die im Umgang mit digitalen Geräten sichtbar werden, bis zur tautologischen Selbstbewegung des Kapitals, die immer weniger menschliche Arbeitskraft braucht; von den Abgründen und Sehnsüchten, die sich in den Lebensgeschichten verschiedener ‚Straftäter’ offenbaren‚ bis zum Leben der sogenannten ‚Normalen’. Das resultierende Gesamtbild ergibt eine Physiognomik der gegenwärtigen Gesellschaft, die zur Reflexion auffordert – Vor allem über die Vermittlung zwischen der gesellschaftlichen Logik und den Individuen, die sie im Gang halten, doch auch über den Riss zwischen innerem und äußerem Leben und über die Schicksale dessen, was man im 20. Jahrhundert ‚beschädigtes Leben’ nannte. Was der Blick Eisenbergs sichtbar macht, ist ein Lebensklima, eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der das Leben zu ersticken droht. Der Gravitationspunkt des ganzen Buches ist die Weigerung, sich damit abzufinden. Die Alltagsminiaturen, die unter der Rubrik ‚Ethnologie des Inlands’ versammelt sind, bieten einen Kontrapunkt zu den Essays, der die einfühlsame Durchdringung gesellschaftlicher Phänomene mit einer aufmerksamen Sensibilität für die beklemmende Spur der Verhältnisse in der alltäglichen Erfahrung verbindet.
Daraus wird klar, dass es dem Autor nicht bloß darum geht, bestimmte gesellschaftliche Phänomene zu beschreiben – sei es Fremdenhass, neuartige Gewaltausbrüche, die ostentative Rückkehr der Männlichkeit oder auch die ‚digitale Verlassenheit’ vieler Kinder, die heute unter Smartphones und Tablets heranwachsen. Vielmehr versucht er zu reflektieren, welche gesamtgesellschaftlichen Kräfte und Tendenzen an solchen Erscheinungen sichtbar werden. So wird auch der falsche Schein von Absonderung mancher ‚extremen’ Phänomene aufgelöst und ihre Verbindung zur gesellschaftlichen ‚Normalität’ hergestellt. Eisenbergs Blick vermag aufzuzeigen, nicht nur wie das Grauen normalisiert wird, sondern auch in welchen Aspekten die Normalität unserer Lebensverhältnisse bereits grauenhafte Züge aufweist. Denn Atomisierung, Verhärtung, Entwurzelung und Erosion aller Bindungen sind notwendige Nebenprodukte einer gesellschaftlichen Logik, die auf rücksichtsloser Konkurrenz basiert und immer ‚flexiblere Menschen’ beansprucht. Der Autor ist vor allem darum bemüht, einen möglichst umfassenden Einblick ins Beschädigungspotenzial des Lebens im ‚entfesselten Kapitalismus’ anzubieten – denn es geht ihm darum, den „diffuse[n] Rohstoff der Rebellion und des Unbehagens … dem Sog der Regression [zu entreißen] und in eine aufklärerisch-emanzipatorische Richtung“ zu lenken (S. 284).
Besonders prägnant scheinen in diesem Zusammenhang Eisenbergs Analysen des Flugzeug-Amoks in den französischen Alpen 2015: in ihnen wird der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen Depression, erweitertem Suizid und medialem Spektakel sichtbar. In einer unerbittlichen Leistungsgesellschaft, in der nur Erfolg zählt, fängt der Kampf um Aufstieg und Karriere immer früher an – und lässt dann nicht mehr nach. Die Einzelnen fühlen sich dauerhaft überfordert. Sie wissen sich allein und machtlos den gesellschaftlichen Zumutungen gegenüber – doch es geht um Erfolg oder Untergang, und so spielen sie das vorgegebene Spiel weiter, solange sie noch mithalten können. Im Schatten einer solchen Logik mögen zielloser Hass und Rachegelüste heranreifen, die in spektakulären Gewaltausbrüchen münden können. Die sensationsgierige Logik der Medien bietet eine perverse Kompensation für diejenigen, die ihre Kränkungen nicht mehr aushalten und alles in ihren Untergang mitreißen wollen: „Wer es nicht schafft, auf gesellschaftlich üblichem Weg Anerkennung zu finden, kann als Negativheld in die Annalen der Geschichte eingehen. (…) Anerkennungsverluste und -defizite machen Menschen anfällig für das, was Florian Rötzer ‚Aufmerksamkeitsterror’ genannt hat: Du musst etwas großes Böses tun, um aus dem Nichts des Bedeutungslosigkeit herauszutreten und ein Gefühl des Existierens zu erzeugen“ (S. 120 f.) – selbst wenn es das Leben kostet.
In solchen perversen Verstrickungen erweist sich die erschließende Kraft von Eisenbergs Analysen. Es gelingt ihm, darzulegen, wie die blinde Logik der Gewalt durch die Narben und Panzerungen im psychischen Haushalt der Einzelnen sich stetig reproduziert – doch er untersucht auch, wie der Bedarf nach ‚Ventilsitten’ sich seine Wege sucht. In diesem Zusammenhang vermag er auch überzeugend aufzuzeigen, woran die Überschneidungen zwischen Amok und dem, was heute als ‚Terrorismus’ kursiert, bestehen. Denn was der massenmedial geschulte common sense als ‚islamistischen Terror’ wahrnimmt, erweist sich bei ihm eher als ein „Modell des Fehlverhaltens“. Da erscheint der „an sich richtungs- und subjektlose Hass“, der von Perspektivlosigkeit und Verzweiflung zehrt, in pseudoreligiösem Gewand – und das mag vielen zerrissenen jungen Menschen einen Sinn und ein Ziel anbieten. Doch Eisenbergs Analysen widerlegen die vermeintliche ‚Kausalität’, die die terroristischen Angriffe ‚erklären’ soll –nach dem Motto ‚sie töten, weil sie Islamisten sind’ –, und jede beruhigende Wirkung wird ihnen entzogen. Ihm geht es darum, zwischen den Triebkräften der vergesellschafteten Gewalt und ihrer kulturellen Kodierung zu unterscheiden. Denn was Amokläufer und Terroristen vereint, ist die brutale Rache an einer Gesellschaft, in der Angst und Gewalt herrschen. Beide Varianten bieten den Tätern die Möglichkeit, „für kurze Zeit … auf der anderen Seite der Angst [zu stehen]: endlich einmal hat nicht er Angst, sondern die anderen fürchten sich vor ihm; er spürt seine Macht und verwandelt die Geschichte seiner Zurückweisungen und Niederlagen in einen letzten Triumph absoluter Macht über Leben und Tod“ (S. 29).
Entsprechend werden bei Eisenberg brutale Gewaltausbrüche nicht als unabänderliches Faktum hingenommen, sondern als Resultat eines Prozesses analysiert, der die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Es wäre verheerend, darauf mit dem Aufruf zu einem neuen Kreuzzug zur Verteidigung der ‚westlichen Werte’ zu antworten. Denn hier geht es nicht um einen vermeintlichen Kampf der Kulturen, sondern um den gesellschaftlichen Umgang mit Macht und Ohnmacht, mit Gewalt und Angst. Das ist „eine Frage des Bewusstseins und vor allem des Unbewusst-Seins, des Umgangs mit dem Unbewussten“ (S. 198) – denn da nisten die großen Wünsche und Ängste, die unsere Vergesellschaftung produziert. Daher unternimmt Eisenberg den Versuch, den wachsenden Fremdenhass und die sich breitmachende ‚Überfremdung’ des gesellschaftlichen Klimas durch die gesellschaftliche Abstraktion des Kapitalismus zusammenzudenken – und in der Tat kann man seinen Analysen der Pegida-Bewegung im Kontext der neueren deutschen Geschichte viel abgewinnen (S. 163 ff.).
Doch Eisenbergs kritischer Blick richtet sich auch auf das scheinbar Harmlose unserer Lebensverhältnisse – und wird dabei wirklich erhellend. Besonders wichtig scheint in dieser Hinsicht seine These, dass unter kapitalistischen Verhältnissen auch eine Art ökologische Krise in Bezug auf die innere Natur des Menschen existiert. Psychische Störungen, psychosomatische Erkrankungen, Depressionen, Stress, Burnout, ADHS halten unserer Gesellschaft einen Spiegel vor, in dem man weit verbreitete soziale Leidenserfahrungen erkennen könnte. Doch der Umgang mit solchen Symptomen besteht in medizinisch-psychiatrischen Normalisierungstechniken, die jede kritische Infragestellung versperren. Man begnügt sich mit Diagnosen und Medikamentenverschreibungen, die ein Bedürfnis nach Sinn, Kausalität und Ordnung befriedigen – doch die Ursachen dieser stummen Leiden bestehen fort.
In diesem Zusammenhang macht Eisenberg darauf aufmerksam, dass es die psychologischen Charakterzüge der Psychopathie sind, die den Anforderungen des gegenwärtigen Kapitalismus am besten entsprechen. Kälte, Skrupellosigkeit und Bindungslosigkeit werden nicht länger als Störungen wahrgenommen, vielmehr sind sie unersetzliche Merkmale des gesellschaftlichen Erfolgs geworden – denn nur sie mögen die flexibelsten Reaktionen auf die Marktanforderungen garantieren. Denn was gut oder böse ist, wird nur noch an ökonomischen Maßstäben gemessen – und jede Bindung, jede Rücksicht, die dem im Wege steht, wird nur noch als Hemmnis wahrgenommen.
Hier zeigt das Buch die Konturen einer Welt, die dabei ist, Gestalt anzunehmen und einen erschaudern lässt: Während sich die schonungslose Konkurrenz- und Leistungslogik auf alle Sphären des Lebens ausbreitet, sollen Computer mit ‚emotionaler Intelligenz’ ausgestattet werden; Dating-Apps wie Tinder & co. entlasten die Menschen davon, sich auf nennenswerte Beziehungen mit Anderen einlassen zu müssen – es fehlt sowieso die Zeit und die Geduld dazu, und man hat sich ohnehin nicht mehr viel zu sagen. „Bei Amazon einkaufen, bei Tinder einen Partner suchen. So läuft das heute. Warum soll eine Gesellschaft, die alles und jedes in eine Ware verwandelt, vor der Intimsphäre halt machen. Die Mentalität des Tausches und der Austauschbarkeit findet die ihr gemäße Technik“ (S. 221). Indessen werden immer mehr Funktionen, die bisher an menschliche Zuneigung und Hingabe gebunden waren, an Geräte delegiert: in der Zukunft sollen sich Roboter um pflegebedürftige Menschen kümmern und auf ihre Neigungen und Nöte reagieren, während Spielzeuge bereits Kinder ausspähen, ihre Fragen und Antworten registrieren, um den Eltern und den big data Firmen eine Ahnung davon zu geben, was sie bewegt. Eisenbergs Essays lassen die trostlose Tendenz einer gesellschaftlichen Evolution erkennen, deren dystopische Züge nicht zu übersehen sind.
Dabei ist es fraglos ein Verdienst des Buches, dass es die anthropologische Revolution dieser ‚Gerätesozialisation’ in ihrer ganzen Reichweite aufzeigt. Die Folgen der ununterbrochenen Vernetzung auf die Ichbildung und die psychische Zusammensetzung der Menschen werden besonders eindringlich ins Visier genommen. Das, was der Autor „freiwillige, digitale Knechtschaft“ nennt, bringt in der Tat gravierende Herausforderungen für emanzipatorisches Denken mit sich. Eisenbergs Beobachtungskunst vermag die Vergesellschaftung einer neuen Generation, die bereits in einer digitalisierten Erfahrungswelt heranwächst, in ihrer ganzen Tragweite sichtbar zu machen. Die ‚digitale Verlassenheit’ vieler Kinder besteht darin, dass es ihnen immer schwerer fällt, mit den Smartphones und Tablets um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu konkurrieren. In den „schrillen Schreien“ dieser Kinder erkennt der Autor die trostlose Spur einer fortschreitenden Atomisierung, ein trostloses Nebeneinander von Einsamkeiten, die Wut und verallgemeinerte Beziehungslosigkeit zur Folge haben.
Der vorliegende Band ist fraglos ein entscheidender Beitrag, um die Abgründe der heutigen Gesellschaft zu verstehen. Eisenberg erkennt die von tiefgreifenden Krisen durchdrungene Gegenwart als eine „Zeit der Monster“ (Gramsci), über deren düsteren Aussichten er weder sich noch die LeserInnen täuschen möchte. Doch seine Analysen sind nicht nur darum bemüht, die drohende Barbarei durch erfahrungsgesättigte Reflexion zu erkennen, sondern vor allem darum, Abwehrkräfte dagegen zu mobilisieren. Denn Eisenberg weiß: solange das Leben noch nicht völlig verkümmert ist, muss kritisches Denken an die Reste von Spontaneität im Menschen anknüpfen, Zugang zu ihren häufig entstellten Sehnsüchten und Hoffnungen finden – „und zwar bevor die Wünsche und Sehnsüchte durch kompensatorischen Konsum vollends ins Bestehende zurückbetrogen werden“ (S. 15). „Die Hoffnung der Kritischen Theorie basiert letztlich auf der Annahme, dass Herrschaft über äußere und innere Natur auf Grenzen stößt, dass es in der Natur und im menschlichen Subjekt Schichten und Bereiche gibt, in die die Gewalt von Abstraktionsprozessen nicht vordringen darf“ (S. 283). Inwieweit man sich noch auf solche Hoffnung verlassen kann, steht im heutigen Kapitalismus dahin. Denn selbst die innere Natur der Menschen ist nicht von der Ausdehnung der Waren- und Konkurrenzlogik gefeit. Doch von einer alten Gewissheit kritischen Denkens wollte der Autor nicht ablassen: „Dass wir kalte gesellschaftliche Verhältnisse mit dem analytischen Blick kalter Kenntnisse anblicken und analysieren müssen und dennoch nicht aufhören dürfen, an ihre Veränderbarkeit zu glauben und an ihr zu arbeiten. Als kritische Theoretiker sind wir zum Pessimismus verpflichtet und müssen Dinge und Entwicklungen bei ihren Namen nennen, als Menschen können wir nicht aufhören, optimistisch zu sein und zu hoffen, dass ‚plötzlich durch ein Bündnis aller Spuren mit allen Spuren, durch eine plötzliche Ankunft mehrerer Flaschenposten in einem glücklichen Hafen doch noch eine gesellschaftliche Veränderung stattfindet’“ (S. 282). Die Kraft dieses Buches besteht auch darin, dass es sich daran konsequent gehalten hat.
Götz Eisenberg: Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus. Band 2, Giessen, Edition Georg-Büchner-Club, Verlag Wolfgang Polkowski, 2016, 317 Seiten.
[«*] Jordi Maiso, Dr. phil., promoviert mit einer Arbeit zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos. Er arbeitet als Dozent in der Universidad Complutense de Madrid (Spanien). Seit 2009 Mitherausgeber der iberoamerikanischen Zeitschrift für Kritische Theorie „Constelaciones“. Autor zahlreicher Artikel und Beiträge zur Geschichte und Aktualität der Kritischen Theorie.