Brasilien – Der Protest der Einhunderttausend und die gewalttätigste Polizei der Welt

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Damit haben die illegitime Regierung Michel Temer und die Medien, die sie an die Macht geputscht haben, sicher nicht gerechnet. Seit der gesetzwidrigen Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff am 31. August wird Brasilien von einer Welle eindrucksvoller Massenproteste überzogen, als deren vorläufiger Höhepunkt die Demonstration vom letzten Sonntag in São Paulo gelten kann, an der sich mindestens 100.000 Menschen beteiligt haben sollen. Zigtausende marschierten aber auch in zahlreichen Landeshauptstädten wie Salvador, Rio de Janeiro, Curitiba, Florianópolis und Porto Alegre. Von Frederico Füllgraf.

Die Massenproteste stehen unter dem Motto “Fora, Temer! – Temer, raus!” und werden von “Frente Povo Sem Medo” (“Bund Volk ohne Angst”) und “Frente Brasil Popular” (“Bund der Volkskräfte Brasiliens”), koordiniert, in denen die Sozialen Bewegungen der Obdachlosen Arbeiter (MTST) und Landlosen (MST) – beide links von der Arbeiterpartei (PT) angesiedelt – und der gewerkschaftliche Dachverband (CUT) die Mehrheit stellen. Zu diesem Sammelbecken stießen zahlreiche staatliche Universitäten – Studentenschaft samt Professoren -, Frauen-Organisationen, Verbände der Afrobrasilianer, Schüler-Bewegungen, kritische Juristen, katholische Gemeinden und Basisbewegungen und Aktivisten der sogenannten “Freie Medien”-– wie Mídia Ninja, Jornalismo Livre und Democratize – die mit ihren Live-Reportagen auf Internet-Plattformen zweifellos das (Des-) Informationsmonopol der ultrakonservativen Kommerzmedien gebrochen haben.

Am Tag nach Rousseffs Sturz hatten die Vorsitzenden von MTST und MST – Guilherme Boulos und João Pedro Stedile – landesweiten und lang andauernden Widerstand gegen den parlamentarischen Staatsstreich und den Abbau sozialer Rechte und Programme angekündigt, der am morgigen Nationalfeiertag fortgesetzt werden soll. Auf parlamentarischer Ebene kündigte Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva die Bildung eines breitestmöglichen Blocks linker Parteien an.

Zu den Protestmitteln beider Organisationen gehört seit Jahren die Besetzung von brachliegenden Großfarmen und Behörden, eine Taktik, die der ehemalige Polizeichef von São Paulo und seit Mai 2016 amtierende Justizminister Alexandre de Moraes als „Guerrilla“ bezeichnete und in die Nähe des „Terrorismus“ rückte. Die sich Moraes anschließende, von Geheimdienstchef General Sérgio Etchegoyen ankündigte „Observierung” von MTST und MST, lässt vermuten, dass die Temer-Regierung nach einem geeigneten Vorwand für die Kriminalisierung beider Organisationen sucht.

São Paulos gewalttätigste Polizei der Welt

Nach der Massendemonstration der Einhunderttausend am vergangenen Sonntag hagelte es Proteste internationaler Medien gegen das autoritäre Temer-Regime.

Die spanische El País dokumentierte einen Hinterhalt der schwerbewaffneten Polizei São Paulos, die das Ende der Massendemonstration auf dem Batata-Platz abwartete, um über heimkehrende, friedliche Demonstranten mit Unterstützung von Hubschraubern und brutaler Gewalt herzufallen. Felipe Souza, Reporter von BBC Brasil – das portugiesischsprachige Programm der Londoner BBC – wurde trotz Vorzeigen seiner Akkreditierung von vier Polizisten umzingelt, als “Dreckskerl!” beschimpft und zusammengeschlagen – sein Statement ist auf den Seiten der BBC in Text und Video nachzulesen und anzusehen.

Beobachter und Sprecher der demokratischen Opposition sind sich darüber einig, dass die Polizei São Paulos bereits sogenannte vermummte “Black Blocs” (in Deutschland als “Autonome” bekannt) zu Randalen anstiftet und in die friedlichen Demonstrationen einschleust, um Vorwände für die Kriminalisierung der gesamten Proteste zu schaffen.

Die Polizei des reichsten und entwickeltesten Bundesstaates São Paulo, der seit über 20 Jahren von der Rousseff-feindlichen, rechten Partei PSDB regiert wird, gilt nach Untersuchungen von Sicherheits-Experten als die gewalttätigste Polizei der Welt. Zwischen 2004 und 2014, kamen nach Angaben des National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (Start), an der Universität Maryland, USA, allein in der Landeshauptstadt São Paulo 11.358 Menschen als Opfern der Polizeigewalt ums Leben. So viel wie eine ausradierte Kleinstadt. 750 Morde allein 2015, 187 Tötungen im ersten Jahresquartal 2016.

Obwohl der Bundesstaat São Paulo nur 1/7 der gesamten Einwohnerzahl der USA besitzt – 43 Millionen gegen 319 Milllionen – ist nach dem Resumé von Start die Polizei dieses Bundesstaates 53 Prozent gewalttätiger als die gesamte US-Polizei mit ihren 17.000 Polizeidienststellen.

Weiterschauen:

  1. So fing es an, am Abend des 31. August, nach Riousseffs  Absetzung: brutaler Polizieinsatz gegen 10.000 (zehn tausend) Demonstranten

  2. Anmarsch zum Massenprotest, 4.September
  3. Der Massenprotest der Hunderttausend auf der Avenida Paulista, São Paulo, 4. September

  4. “Raus Temer”-Parodie mit Carmina Burana

  5. Protest gegen Tagaszeitung Folha de São Paulo -Graffity: “Putschist Temer!” – “Hurensohn!”, schimpft maskierte Frau.
  6. Chor nutzt Haendels Messias zum “Temer, raus!”

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