Spiegel-Interview mit Grass, Glotz und Lüpertz – wieder eine Demonstration des Niedergangs der kritischen Intelligenz.
Das Interview im Spiegel von heute hätte ich gerne komplett abgedruckt und im Einzelnen kommentiert. Das geht aber aus rechtlichen Gründen nicht. Deshalb werden hier Teile herausgegriffen. Ansonsten ist es zu empfehlen, das Interview aufmerksam zu lesen.
Günter Grass war einmal ein wirklich kritischer Geist mit scharfem analytischen Verstand. Er hat in der Vergangenheit die politischen Kampagnen der Springer-Presse durchschaut und kritisiert. Jetzt lässt er sich vom “Zentralorgan” des Neoliberalismus, dem Spiegel, namentlich von Stefan Aust, Gabor Steingart und Dirk Kurbjuweit ohne kritischen Unterton interviewen und vereinnahmen.
1972 hat Grass den Kampf Willy Brandts und der SPD gegen die Intervention des Großen Geldes in die Politik eindrucksvoll unterstützt; heute lässt er sich ohne kritische Anmerkungen auf ein gemeinsames Interview mit Peter Glotz ein, von dem jeder einigermaßen aufmerksame Beobachter und Analytiker weiß, dass er inzwischen in Diensten der Nachfolgeorganisation jener Wirtschaftsinteressen steht, die 1972 mit rund 35 Millionen Mark und 100 meist anonymen Anzeigen Willy Brandt und die SPD aus der Macht zu drängen versuchten. Peter Glotz arbeitet für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine Gründung der Metall-Arbeitgeber und ausgestattet mit zunächst 100 Millionen DM. Dass Peter Glotz eher in Diensten dieser Kräfte als in Diensten der Sozialdemokratie steht, ist vielen seiner Äußerungen im hier analysierten Interview zu entnehmen: immer wieder beklagt der ehemalige Bundesgeschäftsführer die Fehler der SPD in der Vergangenheit, oft wahrheitswidrig wie etwa bei der gängigen Behauptung, die SPD (und nicht die FDP und Graf Lambsdorff) sei schuld am Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Nicht einmal da widerspricht Günter Grass, obwohl er es besser wissen müsste.
Im Einzelnen:
- Von Günter Grass gibt es im Interview einige Anmerkungen, denen man folgen kann. Die Äußerungen des Künstlers Markus Lüpertz, eines Freundes des Bundeskanzlers, belegen hingegen durchgehend, dass es um den Stammtisch der gebildeten Schichten auch nicht besser steht als um jenen der Bild-Zeitungsleser: Deutschland sei mit der Einheit unregierbar geworden. “Denn es gibt keine nationale Identität, es gibt kein Selbstverständnis, sich in irgendeiner Weise deutsch zu fühlen.” Donnerwetter! Lüpertz beklagt, “dass der Staat permanent die Familie, das Land, die Wirtschaft reglementiert.” Er träumt von den Zeiten, als der Staat noch nicht vorschrieb, sich im Auto anzuschnallen und beim Autofahren kein Handy zu benutzen. “Ich finde, es sind andere Ideologien denkbar als immer nur der staatlichen Zugriff.” “Wenn man 56 Prozent Steuern zahlt, dann ist das Wucher.” – Wo lebt dieser Freund unseres Bundeskanzlers? Wenn er in Deutschland leben würde, müsste er eigentlich wissen, dass wir inzwischen einen Spitzensteuersatz von nur noch 45 Prozent haben, und demnächst 42%. – Immerhin widerspricht Grass dieser Ansammlung von Vorurteilen.
- Günter Grass sieht bei den Reformen das übliche Vermittlungsproblem und ein Problem der Kommunikation. Sozialdemokraten hätten Hemmungen, zu ihren Leistungen zu stehen. Welche Leistungen meint Günter Grass? Hartz IV, die Greencard, die Steuerbefreiung bei Unternehmensverkäufen, das 5-Milliarden-Geschenk an die Versicherungskonzerne, die finanzielle Verarmung der Gemeinden, der Lockerung der Ladenschlusszeiten, die Riesterrente? Grass und Glotz liegen auf der Linie des neoliberalen Glaubensverständnisses, die so genannten Reformen würden uns helfen und seien nötig. Aber wie es bei solchen Diskussionen üblich geworden ist, wird kein einziger Beleg angeführt. Nirgendwo erklären die beiden Spitzenintellektuellen, wie aus Reformen wirtschaftlicher Wohlstand und wirtschaftliche Belebung werden soll. Nichts konkretes.
- Peter Glotz betet die übliche Behauptung nach, die Globalisierung sei etwas Neues. Er spricht von einer neuen Zeit. Da ist es dann ein Leichtes für die Spiegel-Interviewer, die üblichen Schlagworte vom Umverteilungsstaat, vom Steuerstaat, vom Staat der Investitionsprogramme einzuführen.
Unwidersprochen. – Die in Arbeitgeberkreisen übliche pauschale Diffamierung der Gewerkschaften und insbesondere des Verdi-Vorsitzenden darf nicht fehlen. Brauchen wir Intellektuelle, die die üblichen Vorurteile nachsagen? - Peter Glotz empfiehlt, wir sollten uns um die Besserverdienenden sorgen. “Wenn wir die Motivation dieser fünf Prozent von Wissensarbeitern, die den Kapitalismus am Laufen halten, zerstören, wird das Wachstum so absinken, das wir Machtkämpfe bekommen, Verteilungskämpfe, die so brutal sind, wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können.” – Finden Sie in diesem Satz irgendeine Logik? Keiner der anderen Diskussionsteilnehmer widersprach.
- Es widersprach auch keiner der gängigen Behauptung von Peter Glotz, 1975 sei die Wachstumsperiode zu Ende gegangen. Schon wirtschaftstheoretisch gibt es für diese Behauptung keinerlei Begründung; empirisch ist sie leicht zu widerlegen. Es gab nicht nur in den USA, in Schweden, in Österreich, in Dänemark und in anderen vergleichbaren Ländern auch nach 1975 kräftiges Wachstum. Auch bei uns wuchs das Bruttoinlandsprodukt real beachtlich: 1976 um 5,3%, 1977 um 2,8 %, 1978 um 3%, 1979 um 4,2%. Kein Wachstum? – Auch später stimmt das nicht: 1988 um 3,7%, 1989 um 3,6%, 1990 um 5,7% und 1991 um 5%. Dann wurde dieser Boom von der Bundesbank und der Regierung Kohl unter Mitverantwortung des heutigen Bundespräsidenten als damaligen Finanzstaatssekretär abgebrochen. Klar, dass von dieser falschen Konjunkturpolitik als der Hauptursache für unsere miserable wirtschaftliche Lage keine Rede in dem Interview mit den deutschen Intellektuellen ist. Das passte auch nicht ins Schema der von den Spiegel-Interviewern vorgegebenen neoliberalen Linie.
Nachbemerkung: Günter Grass, der in der Vergangenheit wirklich viel bewegt hat, zu kritisieren, macht keinen Spaß. Es ist eher deprimierend.