Europas Linke und der Brexit
Nun ist es offensichtlich: Das real existierende EU-Projekt hat mit dem Brexit einen bis dato nicht dagewesenen Riss bekommen. Es hat seine Ausstrahlungskraft für immer mehr Menschen in Europa, aber auch für andere Regionen in der Welt, massiv eingebüßt. Es wird nicht mehr so ohne weiteres möglich sein, die EU als ein einzigartiges Modell für den Frieden in konfliktgeplagten Regionen der Gegenwart, z. B. des Mittleren und Nahen Ostens, anzupreisen. Jahrzehntelang konnte man mit Fug und Recht behaupten, die Völker Europas haben es durch ökonomische Verflechtung und politische Kooperation geschafft, ihre nationalistische Seele – die Hauptursache für Kriegskatastrophen in der Vergangenheit – einzudämmen. Für diese Annahme sprachen nicht nur der eigene Anspruch, sondern auch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Von Mohssen Massarrat.
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Die Briten haben sich nun aber dafür entschieden, das mühsam geflochtene Band wieder zu zerreißen. Beunruhigend ist, dass dabei die nationalistische Illusion, „durch Unabhängigkeit wird alles besser werden“, gesiegt hat. Verhängnisvoll ist auch, dass die Brexit-Befürworter mit Fremdenfeindlichkeit und Demagogie – alles Eigenschaften eines blinden Nationalismus – am Werk waren. Nicht ohne Grund betrachten auch die rechten nationalistischen Bewegungen anderer EU-Länder – so der Front National in Frankreich, Geert Wilders Partei in Holland, Lega Nord in Italien und die AfD in Deutschland – den Brexit als ihren eigenen Sieg. Dass die Rechten und Nationalisten in Europa an Fahrt gewinnen, weil sie inzwischen vor allem die sozial Benachteiligten und Ausgestoßenen auf ihre Seite ziehen, muss alle beunruhigen. Schließlich verdankten die Nationalsozialisten in Deutschland letztendlich ihren Sieg den sozial und psychologisch verunsicherten Menschen, die nicht Krieg, sondern Arbeit und mehr soziale Sicherheit suchten.
Die neoliberale Elite in der EU darf sich nicht wundern, dass ihre unsägliche Politik des Sparens auf Kosten der Menschen jetzt in Form von antieuropäischer Stimmung zurückkommt. Schließlich war es auch diese Elite, die Griechenland vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Wand gedrückt hat und den Griechen mit über 20 Prozent Arbeitslosen und über 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit die Hoffnung für einen Politikwechsel genommen hat. Der Zulauf der sozial ausgegrenzten Langzeitarbeitslosen und Menschen – die tagein, tagaus mit der Angst leben, über die Runden zu kommen – zu den antieuropäischen rechten Parteien und nun auch zu Brexit ist der unzweifelhafte Beleg für den wachsenden Widerstand gegen eine Politik in der EU, die Reiche reicher und Arme ärmer macht. Mit einer solchen Politik können sich auf Dauer nur eine Minderheit der Vermögenden sowie die globalisierten Konzerne identifizieren, nicht aber die große Masse der Verlierer. Aus dem Lager der Regierungsparteien in Deutschland und in der EU erfahren wir nun reflexartig das Versprechen eines Politikwechsels. Selbst Finanzminister Schäuble, ein eingefleischter Neoliberaler, musste eingestehen, „es könne so nicht weiter gehen, sonst hätten wir die Realität nicht verstanden“. Dennoch wäre es naiv anzunehmen, dass er oder Angela Merkel jetzt bereit wären, die EU sozial zu reformieren.
Dabei steht es – ökonomische Vernunft und politische Einsicht vorausgesetzt – fest: nur eine EU mit einem soliden sozialen Fundament hätte die begründete Aussicht, langfristig Bestand zu haben. Warum sollten auch Menschen bereit sein, ihre nationale Identität gegen eine Gemeinschaft aufzugeben, in der sie sich politisch bevormundet fühlen und sich sozial auf der Verliererseite wiederfinden. Europa neu zu gründen, wie inzwischen auch Sigmar Gabriel angekündigt hat, bedeutet daher, neben dem Prinzip Kooperation auch das Prinzip Solidarität und Lastenausgleich fest zu verankern. Nur wenn in allen Mitgliedsstaaten der EU die Gewissheit herrscht, dass die Gemeinschaft den abgehängten sozialen Gruppen und Mitgliedsstaaten unter die Arme greifen wird, erst dann haben sie auch einen triftigen Grund, diese Gemeinschaft als ihre zweite Heimat anzusehen und sich mit ihr voll zu identifizieren. Die Solidarität ist auch deshalb für die EU so fundamental, weil die Gemeinschaft sich ohne Solidarität niemals zu einer demokratischen Ordnung entfalten und eine Demokratie ohne Solidarität niemals auf einer festen Grundlage stehen kann. Daher sind Gegner des Lastenausgleichs in der EU dieselben Kräfte, die auch die Weiterentwicklung der Demokratie bremsen und lieber an den nationalen Parlamenten vorbei auf die Kompetenz der EU-Kommission setzen, wie es soeben Jean-Claude Juncker versucht hat, ein so fragwürdiges Abkommen wie CETA allein durch die Abstimmung in der Kommission durchwinken zu wollen.
Solidarität basiert auf gegenseitigem Vertrauen der Staatsbürger und Gemeinschaftsmitglieder. Und nur demokratische Verhältnisse garantieren das für Solidarität notwendige Vertrauen. Insofern gehören Demokratie und Solidarität in einer Gemeinschaft zusammen. Den Aufbau eines solchen Europas voranzutreiben, müssten die europäischen Linken zu ihrer zentralen Aufgabe erklären und zwar sofort.
Nie ist das Scheitern des Neoliberalismus so offensichtlich geworden wie jetzt. Überall dort, wo sich – wie in Griechenland, Spanien, Italien, in Portugal und auch in Frankreich – eine linke Alternative gegen die bisherige Spar- und Spaltungspolitik formiert, haben nationalistische Rattenfänger so gut wie keine Chance. Umgekehrt werden die populistischen und nationalistischen Parteien überall dort stärker, wo es keine überzeugende linke Alternative gibt, die die von der Gesellschaft Abgehängten und Ausgegrenzten zentral in den Vordergrund ihrer Politik stellt. Brexit ist für die Linken in Europa ein Signal, die eigenen Anstrengungen für ein soziales und solidarisches Europa zu verstärken. Der Sieg der Sozialisten mit Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour Party hat – unabhängig davon, ob ihm persönlich jene Stärke und Faszination fehlt, um die Massen zu mobilisieren und einen Konsens herbeizuführen – eine wichtige Hürde genommen. Hinzu kommt der beispiellose Widerstand der französischen Zivilgesellschaft und Gewerkschaften gegen Hollandes Arbeitsmarktgesetze, der europaweite Unterstützung verdient, um die französische Regierung zur Umkehr zu zwingen. Noch ist auch die Hoffnung nicht verloren, dass die europäischen Sozialdemokraten zum Prinzip Solidarität zurückkehren. Der unerwartet große Zulauf zum US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, vor allem aus dem Lager der jungen Generation und die Abwahl der neoliberalen Regierung in Kanada, beweisen, dass Menschen sich zunehmend nicht nur in Europa, sondern auch international gegen das neoliberal–antisoziale Projekt der reichen Weltelite wehren. Die Zeit ist jedenfalls reif für den Aufbau eines besseren Europas.