In Großbritannien wird gegen den Labour-Vorsitzenden geputscht … und die deutschen Medien schweigen
Stellen Sie sich einmal vor, dass es in der Spitze einer bedeutenden europäischen Partei zu einem offenen Putsch kommt und die deutschen Medien dieses Thema nahezu komplett verschweigen. Das gibt´s nicht? Doch. Seit Sonntag befindet sich die Führungsspitze der britischen Labour-Partei im offenen Krieg. Eine Gruppe von Abgeordneten des rechten Parteiflügels hat sich zusammengetan, um den zum linken Flügel gehörenden Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn zu stürzen. Mittlerweile ist fast das komplette Schattenkabinett Corbyns zurückgetreten oder von ihm entlassen worden. Der Putsch der alten Seilschaften aus dem Blair-Lager ist im vollen Gange. Christian Wohlland hat für uns einen Beitrag des britischen Politologen Richard Seymour zusammengefasst, der das Informationsvakuum der deutschen Medien zumindest zum Teil beseitigen kann. Am Ende des Textes finden Sie eine Anmerkung von Jens Berger zu den vermeintlichen Hintergründen des Putsches, auf die selbst in den britischen Medien kaum eingegangen wird.
Sie wollen ihre Partei zurück
Richard Seymour, britischer Journalist und Autor, der bereits den Aufstieg Corbyns zum Labour-Vorsitzenden analysiert hatte, analysiert in einem Artikel für den Verso Books Verlag die treibenden Kräfte innerhalb der Labour Partei, die Corbyn in Folge des Brexit-Referendums als Parteivorsitzenden demontieren wollen. Sein Fazit lautet: Corbyn ist nicht Grund der Krise der Labour-Partei, sondern die Antwort darauf. Labour ist arg in Not, und zwar egal wer gerade Parteivorsitzender wäre.
Bereits Wochen vor dem Brexit-Referendum hätten Mitglieder der Labour-Partei und Aktivisten ihm signalisiert, dass nach dem Referendum ein Coup gegen Corbyn anstünde, egal wie das Referendum ausgehen würde.
Er habe dies als falsch abgetan, weil es ein idiotischer Zug wäre. Warum, so seine Argumentation, solle der rechte Flügel der Labour-Partei nach dem überwältigenden Wahlerfolg Corbyns und inmitten der schweren Krise, in der sich die Tories befinden, diesen Schachzug machen? Weder hätten sie einen Kandidaten, noch erkennbare Lösungen, und sie erscheinen auch nicht wählbarer als Corbyn, was auch schon vor neun Monaten, als Corbyn ins Amt kam, so war. Zynisch gesprochen wäre doch das Beste, das sie tun könnten, Corbyn mehr von dem Strick zu geben, an dem er sich selbst erhängen solle.
Aber wenige Tage nach dem Brexit-Referendum betreiben einige Labour-Parlamentsabgeordnete unter Führung von Mitgliedern des Schattenkabinetts den Sturz Corbyns. Hillary Benn hat mit dem Rücktritt von seinem Posten aus dem Schattenkabinett den Anfang gemacht, ein ums andere Mitglied des Schattenkabinetts sind seinem Schritt gefolgt, und Tom Watson hätte Corbyn den Gnadenschuss verpassen sollen, ist dann aber doch nicht so weit gegangen. Denn so zynisch der Coup ist, so schräg ist er auch, denn weder gibt es einen Vorschlag, wer Corbyn beerben solle, noch konkrete Kritik an seinen politischen Positionen. Abgesehen von unrealistischen Träumereien gibt es keinen Plan. Viele der Rücktritte aus dem Schattenkabinett wirken verzweifelt mit ihrer Bitte an Corbyn, jetzt nur bitte „das Richtige zu tun“.
Tatsächlich nämlich hat Corbyn eine breite Unterstützung unter den Parteimitgliedern, und zwölf Gewerkschaften haben sich zu seiner Verteidigung zusammengetan. Nur ein kleiner Teil der Parlamentsfraktion, die sich nie mit seinem Parteivorsitz anfreunden konnte, will den Umsturz. Um also erfolgreich zu sein, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Eine Neuwahl zu verhindern oder dafür zu sorgen, dass Corbyn bei einer Neuwahl nicht zur Wahl steht (wobei Corbyn nur 15% der Labour-Abgeordneten für eine Nominierung gewinnen müsste). Beide Varianten sind ein derart offensichtlicher Affront gegen die parteiinterne Demokratie, dass es schwierig sei, sich vorzustellen, wie das zum Ziel führen soll. Es handle sich also klar um eine Taktik der verbrannten Erde, die die Chancen der Labour-Partei bei einer vorgezogenen Neuwahl dadurch schmälern soll, dass man eine erbitterte interne Schlacht führt.
Es sei nicht das erste Mal, dass die Parteirechte alles tun, um ihre eigene Partei zu sabotieren. Einige, wie John Mann, hatten bereits versucht, die Wahl zum Vorsitzenden abzusagen, als erkennbar wurde, dass Corbyn gewinnen können würde. Andere, wie Blairs früherer Redenschreiber Peter Hyman, hatten offen von einer Abspaltung einer neuen sozialdemokratischen Partei gesprochen, wenn Corbyn gewinnen sollte. Darin kommt eine gewisse Panik zum Ausdruck, denn man beruft sich doch nicht auf ein Experiment, das in der Erinnerung der Partei eines ist, das den Konservativen drei Wahlsiege in Folge ermöglicht hatte. Der frühere stellvertretende Vorsitzende John Prescott kritisiert diese Verbitterten, wie er sie nennt, dass sie das Ergebnis der Vorstandswahl nicht anerkennen wollten und stattdessen eine Kampagne zur Sabotage der Wahlchancen der Partei starten. Zum Beispiel hätten sich Parlamentsabgeordnete in informellen Gesprächen sogar gegen Sadiq Khan als Bürgermeisterkandidaten von London ausgesprochen – also gegen jemanden, der ganz sicher nicht zu Corbyns Parteiflügel gehört – nur weil dessen Erfolg womöglich Corbyns Position in der Partei gestärkt hätte. Nach außen sorgen sie sich um die Wählbarkeit Corbyns, während ihre wirkliche Sorge ist, dass er am Ende tatsächlich gewinnen könnte.
Sofern sie überhaupt eine Begründung anführen, beklagen die Putschisten in den Nachrichtensendungen mit eher-bekümmert-als-wütend-Minen, dass Corbyn die Kampagne zum EU-Referendum schlecht gemanagt habe. Dabei hatte Alan Johnson gemeinsam mit Hillary Benn die mitleiderregende Kampagne geführt, also mit eben jener Person aus dem Schattenkabinett, die jetzt den Coup gestartet hat. Trotz alledem wird behauptet, Corbyn habe die Remain-Kampagne sabotiert, indem er das angeblich obskure TTIP zum Thema gemacht und „leise Kritik an der EU“ geäußert habe.
Es stimmt allerdings, dass Corbyn die Wahl zum Parteivorsitz unter anderem dank einer EU-kritischen Kampagne geführt und gewonnen hatte. Und TTIP ist wohl kaum unbedeutend in seinen Auswirkungen auf die öffentliche Daseinsvorsorge und die parlamentarische Demokratie. Und die Labour-Partei hat gerade erst katastrophale Erfahrungen gemacht bei einer gemeinsamen Kampagne zum Referendum mit den Konservativen, bei dem man keine Differenzen zwischen den Parteien herausstellen konnte. Das hatte Labour in Schottland dezimiert und lustigerweise auch die Position der Partei-Rechten geschwächt, was Corbyn erst den Weg ins Amt eröffnete. Hätte Corbyn denselben Fehler gemacht, er wäre wohl in Nord- und Mittelengland für die Zerstörung der Labour-Partei gegeißelt worden. Und doch war es so, dass zwei Drittel der Labour-Wähler trotz Corbyns vieler Auftritte mit einer eher nuancierten Argumentation am Ende mit ‚Remain‘ gestimmt haben. Es ist deshalb mehr als tendenziös, zu behaupten, Corbyns Kurs sei verantwortlich für den Brexit.
Die blinde Wut der Labour-Rechten, ihr Wille, vorsätzlich die eigenen Wahlchancen zu zerstören, ist nicht gerade eine klare Strategie. Adam Phillips sagt, man könne aus Wutanfällen herauslesen, welches Anspruchsdenken wir hätten. Wir erregen uns, wenn die Welt in der Realität nicht unseren (im wesentlichen unbewussten) Ansprüchen entspricht. Was sagt uns also die Wut der Partei-Rechten und ihrer medialen Partner über ihre Ansprüche? Ihr Leugnen der Tatsache, dass die Unterstützung in der Partei für Corbyn sehr tief ist, ihr anscheinender Glaube, ein Recht darauf zu haben, vor den kritischen und manchmal harschen Worten der Aktivisten geschützt zu werden, all das legt einen begierigen Besitzanspruch an die Partei nahe.
Und es wäre ein Fehler, diese Annahme zu schnell zu verwerfen, denn sie fußt auf einer gewissen Realität: Einen Großteil ihrer Vergangenheit ist die Labour-Partei nämlich nicht von ihren Mitgliedern geführt worden. Die übliche Aufteilung war die, dass Gewerkschaftsführer und führende Kräfte der Partei-Rechten oder Partei-Mitte die Politik bestimmt haben, während der linke Flügel dafür zuständig war, Wähler zu mobilisieren. Lewis Minkin, Autor einer bekannten Studie über das parteiinterne Management von Labour, beschreibt, wie der Kern der innerparteilichen Führung mit der Zeit von den Gewerkschaftsführern zu den Parlamentariern und der Kaste der professionellen Wahlkampfmanager gewandert ist, die ihnen zuarbeiten. Zu keinem Zeitpunkt sei die Parteimitgliedschaft etwas anderes gewesen als ein Objekt, das es zu managen und zu disziplinieren gegolten habe, ein Handwerk, das unter Blair und seinen Strategen zu einer Kunstform ausgebaut worden sei. Insofern ist die Macht der Mitglieder, eine Führung vom radikalen linken Flügel zu etablieren, eine immense Frustration für das traditionelle Management.
Aber was bei all dem Wahnsinn vergessen wird, was keiner der Verleumder zugeben will, ist, dass Corbyn nicht der Grund der Parteikrise ist, sondern die Antwort darauf. Labour ist arg in Not, und zwar egal, wer gerade Parteivorsitzender wäre. Als Folge von New Labour ist die Mitgliederzahl auf das niedrigste Niveau seit 1918 gefallen, der Stimmanteil auf den tiefsten Stand seit 1983. Frühere gewaltige Mehrheiten sind nivelliert, breite Streifen früheren Kernlands sind zu den Liberalen, zu SNP, Plaid Cymru und sogar zu den Grünen abgewandert. Für diesen Prozess gibt es tiefe soziologische Ursachen, die mit der Dekomposition früher großer Bataillone organisierter Arbeitnehmer, mit langfristigen Änderungen von Beschäftigungsstrukturen und mit der Atomisierung des Alltagslebens zu tun haben.
Die Vorstellung, die Probleme der Partei einem einzelnen Parteiführer, einer bestimmten politischen Position oder einer einzelnen Kampagne anzulasten, ist absurd. Gleichwohl, wenn die streitlustigen Hinterbänkler nach einer Parteiführung oder einer Politik suchen wollen, die für einen dramatisch steilen Zusammenbruch der Basis steht, dann brauchen sie nur auf die Ära des New Labour zu schauen, zu deren Politik sie so gerne zurückkehren möchten. Corbyns Ansatz ist doch genau der Versuch, das zu schaffen, was Miliband nicht gekonnt hat: Den Trend umzukehren, das Zugehörigkeitsgefühl der Mitglieder und die Stammwählerschaft wiederherzustellen, die Partei wieder in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu verankern und die sterbende Sozialdemokratie vom Vermächtnis Blairs zu befreien.
Die Chancen für einen Erfolg Corbyns standen schon immer schlecht, nicht erst seit diese verbissene Kampagne, erst von den Hinterbänklern und jetzt auch von seinem Schattenkabinett, gegen ihn gefahren wird. Die Labour-Partei steckt in demselben Dilemma, in dem auch andere europäische sozialdemokratische Parteien stecken. Die einzige charakteristische sozialdemokratische Politik, die je Erfolg gehabt hat, der „Nachkriegs-Kompromiss“, hing von zuvor nicht gekannten Wachstumsraten ab und von einer Wirtschaft, deren Großunternehmen zu Tarifverhandlungen und staatlicher Koordination bereit waren – Bedingungen, deren Wiederkehr eher unwahrscheinlich ist. Aus dieser Sicht betrachtet ist die Forderung an Corbyn, eine gedanklich stimmige Anti-Austeritäts-Lösung zu entwickeln, die in Wahlen erfolgversprechend und nach einem Wahlsieg umsetzbar ist, eine Mammutaufgabe. Die Alternative allerdings, den neoliberalen Rahmen zu akzeptieren und die eigenen Prioritäten nur innerhalb dessen Grenzen zu modulieren, hat man ja bereits ausreichend probiert, und sie hat in die aktuelle Katastrophe geführt.
Was die Umstürzler dadurch, dass sie Corbyn gar nicht erst den Versuch machen lassen, zum Ausdruck bringen, ist, dass die Idee einer landesweiten Arbeiterpartei, die die Facetten in aller Breite einschließt, wohl ausgedient hat. Es scheint immer unwahrscheinlicher, dass die Partei-Rechte bereit sein wird, sich in einer von links geführten Partei zu arrangieren. Wenn das aber der Fall ist, wäre der einzige ehrenvolle Ausweg die SDP-Option. Der einzige Grund, warum dieser Schritt noch nicht gegangen wird, ist, wie die frühere SDP-Abgeordnete Polly Toynbee und der Blair nahestehende Journalist Jon Rentoul übereinstimmend meinen, dass die Bedingungen für eine erfolgreiche Abspaltung noch nicht ausreichend sind. Die Partei-Rechten tun also das, was sie im Moment können. Ohne Inhalte, ohne Plan und ohne einen Kandidaten begeben sie sich auf einen Weg der Sabotage, der die Partei zugrunde richten wird. Sie hoffen, dass die Partei auf diese Weise gedemütigt zu ihren traditionellen Eigentümern zurückkehren wird. Mit anderen Worten: Sie wollen ihre Partei zurück, koste es, was es wolle.
Anmerkung Jens Berger: Gestern – also nach Erscheinen des Artikels von Seymour – wurde aus Kreisen des Führungszirkels von Labour bekannt, dass die Hauptverantwortlichen des Putschversuchs, Hilary Benn, unter Tony Blair einst Minister für internationale Entwicklung, und Angela Eagle, die unter Gordon Brown zur Staatssekretärin des Schatzamtes berufen wurde, schon seit neun Monaten ihre Ränke schmieden und dabei immer wieder gezielt Interna an die Murdoch-Presse haben durchsickern lassen. Insidern zufolge gab es seit Dezember 2015 bereits mehrfach Putschversuche, die jedoch allesamt auch und vor allem am Unvermögen der Putschisten scheiterten. Das Brexit-Referendum war in diesem Zusammenhang offenbar nur Mittel zum Zweck. Den Insidern zufolge geht es den Putschisten vor allem darum, Corbyn vor dem 6. Juli von der Parteispitze zu entfernen. Dann wird nämlich voraussichtlich der „Chilcot-Report“ veröffentlicht, der mögliche Verbrechen der Regierung Blair während des Irak-Kriegs untersucht. Corbyn hatte bereits angekündigt, dass Corbyn eine Klage gegen Blair und dessen Gehilfen einreichen will, wenn der Report – wovon auszugehen ist – Belege liefert, dass die britische Regierung Kriegsverbrechen begangen, in Auftrag gegeben oder toleriert hat. Der Putsch stellt – diesen Aussagen zufolge – somit auch einen „Präventivschlag“ gegen Corbyn dar und ist auch darauf ausgerichtet, Kriegsverbrechen der Blair-Regierung zu vertuschen.