Wer die Welt regiert
In seinem neuesten Werk findet Noam Chomsky, der zu den bedeutendsten Intellektuellen unseres Zeitalters gehört, deutliche Worte zum politischen Status Quo – zur letzten verbliebenen Weltmacht, den USA. Dabei wird ein weiteres Mal in gewohnt kritischer sowie ausführlicher Manier deutlich, in was für eine Schimäre sich das US-amerikanische Imperium im Laufe der letzten Jahrzehnte verwandelt hat. Von Emran Feroz.
In „Who rules the world?“ („Wer regiert die Welt?“) bringt Chomsky, dessen Geist trotz seines mittlerweile hohen Alters fitter zu sein scheint als jemals zuvor, viele verschiedene Themen unter ein Dach. Im Zentrum des Ganzen steht jedoch auch dieses Mal die merkwürdige menschliche Rasse. Chomsky fragt sich dabei, was sich wohl Außerirdische denken würden, wenn sie die Menschheit über einen längeren Zeitraum hinweg kritisch beobachten. Sie würden sicher nicht nur feststellen, wie paradox wir uns verhalten, sondern den Geschichtsverlauf konkret einteilen: Nämlich in das Zeitalter „vor“ und das Zeitalter „mit“ den Atomwaffen. In diesem Kontext würden die Aliens dann wohl feststellen: Der Mensch hat es geschafft, etwas zu entwickeln, was ihn vollständig auslöschen kann. Gleichzeitig ist er jedoch nicht zu jenem moralischen Handeln fähig, seine eigene Auslöschung zu verhindern.
Dass sich diese Auslöschung bis jetzt noch nicht ereignet hat, ist für Chomsky pures Glück. Diejenigen, die die Auslöschung der Menschheit immer wieder fast heraufbeschworen haben, sind jedoch leicht zu identifizieren. Dank der Vereinigten Staaten ist die heutige Welt unsicherer denn je. Wir befinden uns nah am Abgrund, und das haben wir allen voran den Entscheidungsträgern in Washington zu verdanken. Ein bedeutender Teil der Weltbevölkerung glaubt mittlerweile, dass die USA die größte Gefahr für den Weltfrieden darstellen. Dies ist keineswegs als plumper Antiamerikanismus zu betrachten, sondern fundiert auf zahlreichen historischen Fakten, die sich bis in die Gegenwart strecken. Als Antiamerikanisten wären heute wohl auch die Propheten Israels, die ihre Gesellschaften immer wieder vor dem Untergang warnten, bezeichnet worden, hebt Chomsky in diesem Kontext etwas zynisch hervor.
Dieser Untergang scheint sich seit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima, einem der grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, rasant zu nähern. Die USA sind nämlich in keiner Weise an einer Deeskalation interessiert. Die sogenannte Staatssicherheitsdoktrin überwiegt seit langem. Interessanterweise, so betont Chomsky, spielt das Wohl der Bürger in diesem Kontext meistens gar keine Rolle. Um ihre Interessen zu verteidigen, haben die Vereinigten Staaten stets Dämonen herbeigerufen und sind über Leichen gegangen.
Obwohl sehr viele Regionen der Welt darunter gelitten haben, sollte das Leid einiger Akteure besonders erwähnt werden. An vorderster Stelle lässt sich wohl Südamerika nennen, welches von den Protagonisten der US-Politik, allen voran Personen wie Henry Kissinger, regelrecht vergewaltigt wurde. Besonders hervorzuheben ist hier der „erste 11. September“. Chomsky spielt damit auf den Putsch in Chile an, der sich 1973 ereignete und Zehntausenden von Menschen das Leben gekostet hat. Obwohl heute allgemein bekannt ist, dass das Pinochet-Regime der verlängerte Arm Kissingers sowie der CIA war, wird die blutige Vergangenheit Chiles regelmäßig ausgeblendet.
Chile ist das Paradebeispiel US-amerikanischer Eroberungspolitik auf dem südamerikanischen Kontinent. Während des Kalten Krieges wurden militaristische Faschisten in zahlreichen Staaten des Südens vom Weißen Haus unterstützt, um die linken, oftmals demokratisch legitimierten Regierungen zu stürzen. Die Wunden dieser mörderischen Politik sind bis heute zu spüren. Und obwohl sich Südamerika teils davon erholt hat und im Laufe der letzten Jahre zu einer Art globaler Opposition gegen die US-Hegemonie aufgestiegen ist, ist die Gefahr weiterhin präsent. Der jüngste Putsch in Brasilien, der sich erst nach dem Druck von Chomskys aktuellem Werk ereignet hat, macht dies mehr als deutlich.
Führender Terrorstaat
In seiner Kritik an den USA nimmt Chomsky kein Blatt vor den Mund. Es ist diese Mischung aus Intellekt und Courage, die ihn zu einem der größten Denker unserer Zeit macht. Washingtons Politik, egal, ob nun in Südamerika oder auch im Nahen Osten, war für ihn stets terroristisch. Deshalb zieht er auch den Schluss, dass die Vereinigten Staaten ein „führender Terrorstaat“ sind. Im dominierenden Diskurs werden derartige Behauptungen oftmals kopfschüttelnd belächelt. Doch nicht, wenn ein Chomsky sie aufstellt.
Eines der besten Beispiele hierfür ist der US-amerikanische Drohnen-Krieg, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt in mehreren Staaten, allem voran in Afghanistan, Pakistan, dem Jemen oder Somalia, geführt wird und unter der Führung von Barack Obama seinen Höhepunkt erlebt hat.
Der Sachverhalt ist eindeutig. 800 Jahre nach der Einführung der Magna Charta, die mit der Unschuldsvermutung eines der Grundprinzipien des Rechtsstaates eingeführt hat, existiert in der westlichen Welt, die sich stets auf diese Prinzipien beruft und sie für sich beansprucht, eine Kampagne, die Menschen lediglich aufgrund von Verdächtigungen gezielt und außergerichtlich hinrichtet. Der Drohnen-Krieg negiert alles, wofür der Westen vorgibt zu stehen. Chomsky schreibt von der mörderischsten Terror-Kampagne der Gegenwart. Die Realitäten in den von den Drohnen heimgesuchten Gebieten machen deutlich, dass er damit den Nagel auf den Kopf trifft.
Der Westen führt
Der Westen regiert die Welt unter der Führung der USA auf verschiedene Art und Weise. Neben den bekannten staatlichen Akteuren sind vor allem die multinationalen Großkonzerne zu erwähnen, deren Macht tagtäglich wächst. Viele nationale Parlamente dienen mittlerweile lediglich als Machtinstrumente der Konzerne, um deren Interessen durchzusetzen. Dies sieht man etwa an diversen „Freihandelsabkommen“ wie NAFTA und TTIP. Mit einem echten Freihandel haben diese Abkommen allerdings wenig zu tun. Chomsky bezeichnet sie als „investors’ rights agreements“, also als Abkommen, die hauptsächlich die Rechte der Kapitalanleger beschützen, während die Arbeiterklasse ausgebeutet wird.
Die jüngsten Krisen, und damit meint Chomsky auch jene im Osten Europas, werden von den westlichen Industrienationen herbeigeführt und dominiert. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sie damit ihre eigene Wirklichkeit konstruiert, die alle anderen Akteure, etwa Iran, Russland oder China, ausschließt und dementsprechend verärgert. Der Diskurs wird stets einseitig geführt. Man will sich nie in die Lage der anderen hineinversetzen. Der westliche Egoismus scheint allgegenwärtig zu sein.
Natürlich kann man es sich auch anmaßen, einige Punkte von Noam Chomsky zu kritisieren. Obwohl er die Annexion der Krim eindeutig als illegal bezeichnet, kann man dennoch behaupten, er gehe mit den Russen zu sanft um. Selbiges betrifft seine Haltung zum Iran, den er im Vergleich zum US-Verbündeten Saudi-Arabien als „Paradies“ bezeichnet. Die Opfer der Politik der Ayatollahs, die es sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes gibt, haben diesbezüglich sicherlich eine andere Meinung. Ähnlich verhält es sich mit der Situation in Syrien, an deren Eskalation sowohl Russland als auch der Iran weiterhin beteiligt sind – wenn natürlich auch in einem wesentlich geringeren Maße als der Westen und mit dem Westen verbündeter Regionalmächte. Und auch der chinesische Imperialismus, der sich vor allem in weiten Teilen Afrikas sowie Zentralasiens ausstreckt, findet vom Autor nur wenig Beachtung.
Gerade in diesen Punkten ist die Kritik an Chomsky. in diesen Tagen besonders laut. Wer ihn jedoch gut kennt und stets aufmerksam gelesen hat, sollte wissen, dass Chomsky kein Heuchler ist, sondern jemand, der in erster Linie auf die Fehler jener Gesellschaft aufmerksam machen will, in der er aufgewachsen ist. Diese kritische Haltung gegenüber den eigenen Eliten macht einen herausragenden Intellektuellen erst aus. Und genau das und nichts anderes ist Noam Chomsky.