„Die soziale Abgrenzung nach unten ist ein ganz zentraler Punkt“
Ein Interview mit Sebastian Chwala über die Politik der Rechten sowie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen AfD und dem französischen Front National. Chwala ist Sozialwissenschaftler. Im Herbst 2015 erschien von ihm bei PapyRossa eine Analyse der Programmatik, Geschichte und Wählerschaft des Front National. Das Interview führte Patrick Schreiner.
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Sie haben sich in Ihrem Buch mit der Programmatik und der Wählerschaft des extrem rechten französischen Front National befasst. Von wem wird der FN denn gewählt, und was macht die Partei programmatisch, um diese Menschen für sich zu gewinnen?
Es existiert nicht das eine soziale Millieu oder die spezielle Berufsgruppe, von der man sagen könnte, sie wäre ausschließlich oder überwiegend für den Erfolg des Front National verantwortlich. Tatsächlich spricht der FN eine breite Gruppe von Wählerinnen und Wählern an. Sowohl Arbeiter als auch Angestellte und Kleinunternehmer wählen die Partei. Entgegen der Vermutung, dass vor allem ältere Menschen und Rentner sich in dem eher sozialkonservativen Programm wiederfinden, ist die Wählerschaft eher jung und erwerbstätig. Auch Erwerbslose finden sich dort. Diese Gruppe geht aber eher selten zur Wahl. Seine Wähler versucht der FN vor allen Dingen mit zwei Themen zu binden: mit einem offenen anti-muslimischen Rassismus und mit der Ablehnung der Europäischen Union. Gleichzeitig positioniert sich der FN als starker Interessenvertreter des Kleinunternehmertums, welches eine zentrale Rolle in der nationalen Reindustrialisierungsstrategie der Partei spielen soll. Bemerkenswert ist, dass die FN- Programmatik Veränderungen erfahren hat. Nicht in den Kernaussagen, aber im Ton. Heutzutage kommt ein FN-Papier viel massentauglicher und ohne aggressive Sprache daher. Noch vor 20 oder 30 Jahren war das anders gewesen.
Sehen Sie in der Wählerschaft Parallelen zur deutschen AfD?
Aber ja, der hohe Anteil von Arbeitern und Erwerbslosen lässt darauf schließen. Auch die räumliche Verteilung ist ähnlich. Sowohl AfD als auch FN erzielen hohe Wahlergebnisse in eher weniger urban geprägten Räumen. In den Innenstädten sind die Ergebnisse eher unterdurchschnittlich. Eine Ausnahme bilden die alten Industrieviertel, wo gerade die AfD punkten konnte. Allerdings ist hier die Wahlbeteiligung deutlich unterdurchschnittlich, weshalb sich die Frage stellt, ob die „Rechtspopulisten“ wirklich unter den dort lebenden erwerbslosen Industriearbeitern punkten können. Für Frankreich deutet sich nämlich eher an, dass der Strukturwandel dieser Regionen für den wachsenden Einfluss des FN verantwortlich sein könnte. Alte Arbeitermilleus, die einst den Großteil der Beschäftigten ausgemacht hatten, verschwinden und werden „ersetzt“ durch eine neue aufstiegsorientierte (Fach-) Arbeiterklasse. Die politische Desillusionierung der alten, marginalisierten Arbeitergruppen führt zur Wahlenthaltung, die neuen Facharbeitergruppen, durchdrungen vom Wunsch sozial aufzusteigen, gehen dagegen wählen und wählen rechts oder rechstextrem. Ich bin nicht der Meinung, dass die sozial und ökonomisch abgehängten Millieus die zentrale Gruppe sind, die den Erfolg des FN erklären können, auch wenn es rechtsaffine Erwerbslosenmillieus gibt. Deren Beweggründe müssten genauer untersucht werden. Es gibt aber Hinweise, dass eine rechte Sozialisation schon im Elternhaus erfolgte.
Auch bei AfD- und PEGIDA-Anhängern scheinen sowohl der Bildungsstatus als auch der sozioökonomische Status relativ hoch zu sein, wenn man Umfragen glaubt. Die abgehängten Milieus, um Ihren Begriff zu verwenden, finden sich dort jedenfalls nur unterdurchschnittlich. Damit scheiden einfache Erklärungen ebenso aus wie einfache Antworten. Die politische Reaktion auf AfD, FN und Co. kann damit wohl nicht einfach darin bestehen, Prekarisierung zu bekämpfen und mehr soziale Sicherheit zu schaffen. Was aber dann?
Das stimmt. Viele der Argumentationsmuster und Bilder, mit denen alle diese Parteien und Bewegungen punkten, sind im Bewusstsein vieler Menschen bereits vorhanden – in Form von Vorurteilen gegenüber anderen Menschen, die „fremd“ erscheinen, sei es durch Herkunft oder Klassenzugehörigkeit. Diese Vorurteile führen nicht selten zu den rassistischen und sozialdarwinistischen Denkmustern, die aktuell um sich greifen. Es müssten also Stereotype und Ängste abgebaut werden, etwa durch eine engere gegenseitige Durchdringung der Lebenswelten. Das kann durch Vereine und Kulturprojekte geschehen, in denen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zusammenkommen, aber auch durch die Aufhebung der räumlichen Segregierungsprozesse im Rahmen einer öffentlich gesteuerten Wohnungspolitik. Gleichzeitig müssten politische Akteure vor Ort sein, die kritisches Bewusstsein wecken und die Deckungsgleichheit der ökonomischen Interessenlagen von Arbeitern und Angestellten vermitteln. Auch wenn sie öffentlich den Nationalismus der „Rechtspopulisten“ als ökonomisch gefährlich brandmarken, sehen es die herrschenden Eliten doch gerne, dass Rassismus und das Betonen einer nationalen Produktionsgemeinschaft à la FN als Rechtfertigung für die Ausgrenzung von Fremden und weiteren Sozialabbau dient und letztlich Solidarität verhindert.
Ist die Annahme eines stillen Einverständnisses zwischen herrschenden Eliten und Rechtspopulisten nicht etwas weit hergeholt? Immerhin erscheint es glaubhaft, dass zumindest in Deutschland das exportorientierte Kapital wenig Interesse an Protektionismus und Nationalismus hat; ähnliches dürfte für die ihm nahestehende Politik gelten.
Mir scheint es eher, dass der derzeitige Erfolg des Rechtspopulismus auf einem Bruch zwischen Fraktionen aus dem oberen und dem unteren Bürgertum beruht. Die Eliten wollen national regulierte Sozial- und Wirtschaftsstrukturen sprengen, um neuen Spielraum für die Steigerung der Profitraten zu erlangen. Das gilt natürlich auch für die Migrationsfrage. Schließlich kann Zuwanderung auch zur Senkung von Löhnen führen. Eine Vorstellung, die für die Mittelklasse, die bisher von den Regulierungsmechanismen profitierte, eine existenzielle Bedrohung darstellt. Deshalb wollen die Rechtspopulisten ja auch den „Status quo ante“ wieder herstellen. Und deshalb bezichtigen sie die herrschenden Parteien, allzu sehr den Interessen der „Großen“ nachgegeben zu haben, während dagegen die Interessen des hart arbeitenden Familienvaters, der sich und seiner Familie wenigstens einen bescheidenen Wohlstand ermöglicht hat, missachtet werden.
In Umfragen zeigt sich immer wieder, dass soziale Themen und Probleme für die AfD-Wählerschaft eine hohe Priorität haben. Ist dies beim FN ähnlich?
Ja, sowohl deutsche AfD- als auch französische FN-Wähler messen sozialer Ungleichheit und auch ökonomischer Prekarität große Bedeutung zu. Allerdings herrschen unter den Anhängern des deutschen und französischen Rechtspopulismus andere Erklärungsmuster vor, als sie sozialliberale oder links orientierte Menschen gewohnt sind. Anhänger rechter Denkströmungen gehen von der Ungleichheit als legitimer Triebfeder gesellschaftlicher Prozesse aus. Demzufolge sind in ihren Augen die Verlierer der ständig zunehmenden Konkurrenzkämpfe um Arbeit und um eine gesicherte Existenz schlicht und ergreifend selbst schuld. Ausgleichsmechanismen zwischen „Starken“ und „Schwachen“ lehnen die „Sieger“ ab, da sie diese für eine Alimentierung von Leistungsverweigerern halten. Gerade für Sympathisanten der Rechten aus der unteren Mittelklasse, die sehr viel Wert darauf legen, es „geschafft“ zu haben (eigene Immobilie, sicherer Arbeitsplatz…), die ihr Leben somit über materiellen Erfolg definieren, ist die soziale Abgrenzung nach unten ein ganz zentraler Punkt. Deshalb dienen nicht nur Muslime als Feindbilder, sondern auch französische Marginalisierte.
Wie passt das ideologisch zusammen: Einerseits soziale Themen für wichtig zu halten, andererseits soziale Ungleichheit für richtig?
Die Frage der „Leistungsgerechtigkeit“ steht im Mittelpunkt. Mir scheint es evident, dass derzeit in weiten Teilen der Bevölkerung eine reale Ablehnung der Eliten und der Großkonzerne vorhanden ist. Das wachsende Auseinanderklaffen der Einkommensschere wird sehr wohl wahrgenommen und kritisiert. Dass die wirtschaftlichen Eliten im Zusammenspiel mit der Politik einen wesentlichen Teil der Finanzierung der Sozial- und Gesundheitssysteme abgewälzt haben, schafft auch nicht unbedingt große Zustimmung. Es ist in Teilen der Mittel- und der oberen Fraktionen der Arbeiterklasse der Eindruck entstanden, Zahlmeister der Nationen zu sein, während das Versprechen des Neoliberalismus, mehr und mehr die individuelle Eigenvorsorge an die Stelle des umverteilenden Sozialstaates treten zu lassen, für viele Haushalte in einer Sackgasse geendet ist. Das ist ein klarer Bruch mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Mittelklasse. Nicht umsonst argumentiert der FN zu Gunsten der „Leistungsträger“ und zu Gunsten des Privateigentums.
Mit Blick auf die Programmatik von AfD und FN: Welcher Zusammenhang besteht zwischen sozialen Themen auf der einen Seite und der Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten auf der anderen?
Der oft erfolgreiche Versuch, die migrantischen Milieus zu Sündenböcken für die eine Vielzahl wahrgenommener Krisen zu erklären. So meint der Front National, man könne allein durch den Kampf gegen Migration 40 Millionen Euro einsparen. Die Zahlen sind völlig aus der Luft gegriffen. Allerdings kann der FN auf diese Weise begründen, wie angeblich weiter Steuern für Unternehmen und Wohlhabende gesenkt werden können und der Sozialstaat für die „Leistungswilligen“ dennoch finanzierbar bleibt. Schließt man die „Fremden“ aus, so verschwinde zusätzlich auch die illegitime Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, ein nationaler Kapitalismus mit fairen Spielregeln würde wieder die Regel werden. Geprägt durch eine wettbewerbsorientierte „Sozialpartnerschaft“ zwischen Beschäftigten und Unternehmern. Kein Wort findet sich hingegen zum Mindestlohn oder zu den sozialen Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Tendenziell aber spricht man in der neuen Rechten nur ungern von solchen materiellen Dingen. Vorzugsweise führt man eine Debatte um Identität, die durch Zuwanderer gefährdet sei, besonders durch Muslime. Sie dienten angeblich als fünfte Kolonne des politischen und intellektuellen Establishment, um die schweigende Mehrheit der weißen Franzosen, und implizit den FN, von der Macht fernzuhalten. Gerade das Umfeld des FN pflegt die These vom „Großen Austausch“, die der Schriftsteller Renaud Camus populär gemacht hat. Danach würden die ethnisch weißen Franzosen und ihre „Kultur“ Schritt für Schritt durch den Islam ersetzt. Somit gehen die Öffnung der Grenzen und der damit einhergehende Kosmopolitismus Hand in Hand mit dem Verlust der eigenen „Heimat“. Diese Angst tritt neben die ökonomische Existenzangst vor dem Hintergrund des zunehmend transnationalen Charakters der Volkswirtschaften. Die nationalstaatlich regulierten Ökonomien, die in der Nachkriegszeit Vollbeschäftigung ermöglicht hatten, werden so mystifiziert. Gleichzeitig erlebt man in Frankreich, dass etliche (neu)rechte Philosophen vom „Dorf“ als Gegensatz zur multikulturellen Stadt schwärmen. Hier, wo noch traditionelle Lebens- und Arbeitsverhältnisse herrschten und die ethnische Homogenität der „Weißen“ bestimmend sei, sei die Zukunft Frankreichs zu finden. Es träumen die Autoren sogar das agrarische Frankreich des 19. Jahrhunderts wieder herbei. Ähnliche Debatten über den Verfall und Niedergang der deutschen Kultur sehe ich Umfeld von Björn Höcke, Alexander Gauland und anderen.