Heiko Flottau zum 50. Jahr der Besetzung des Westjordanlandes
Der Journalist und Nahostexperte Heiko Flottau erinnert daran, dass in diesen Tagen das 50. Jahr der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel beginnt. Man könnte drüber schreiben: „50 Jahre Niedergang eines immer weniger ernst gemeinten Friedensprozesses“. Das ist meine Interpretation; sie ist so bitter wie das Leben der Palästinenser und die Sorgen mancher Israelis. Jenen vielen Zeitgenossen, die so engagiert über Flüchtlinge reden und schreiben, ohne die Ursachen mit zu bedenken, ist dringend zu empfehlen, sich mit diesem Kernproblem des Nahen Ostens zu beschäftigen. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Heiko Flottau[*]:
Es ist nicht üblich, 49 Jahre nach einem Ereignis einen Gedenkartikel zu schreiben. Es ist aber notwendig, schon jetzt auf den Juni kommenden Jahres hinzuweisen. Denn in einem Jahr wird sich die israelische Besetzung und damit die Besatzung des Westjordanlandes zum fünfzigsten Mal jähren. Im so genannten Sechstagekrieg vom 5. Bis 10.Juni 1967 eroberte Israel das bis dahin zu Jordanien gehörende Westjordanland, das von Jordanien verwaltete Ost-Jerusalem, (1980 von Israel annektiert), die syrischen Golanhöhen (1981 annektiert, eine, wie die Einvernahme Ost-Jerusalems, international aber nicht anerkannte Maßnahme) sowie die gesamte Sinai-Halbinsel (1982, drei Jahre nach dem Friedensvertrag von Camp David, an Ägypten zurückgegeben).
Das Westjordanland aber – das der damalige jordanische König Hussein später, im Jahr 1988, aufgab und den Palästinensern zur Gründung eines eigenen Staates zur Verfügung stellte – ächzt auch fast ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg von 1967 unter israelischer Besatzung. Gut möglich, daß die Palästinenser den in einem Jahr bevorstehenden fünfzigsten Jahrestag – dieses für sie, aber auch für die westliche Welt traurige Datum – zum Anlaß eines neuen Aufstandes nehmen. Auch deshalb hat Benjamin Netanjahu vor ein paar Tagen ein radikal anti-palästinensisches Kabinett gebildet – mit Hilfe des Palästinenserhassers Avigdor Lieberman.
Lieberman, russischer Einwanderer, Knessetabgeordneter seit 1999, von 2013 bis 2015 Außenminister, ist jetzt zum Verteidigungsminister avanciert, nennt die Palästinenser die „fünfte Kolonne“, will den israelischen Arabern die Staatsbürgerschaft entziehen, sie mit den Palästinensern des Westjordanlandes vereinigen, die dortigen israelischen Siedlungen auch de jure annektieren und somit alle Palästinenser in eigenen, abgegrenzten Gebieten, südafrikanischen Bantustans ähnlich, einpferchen.
Schon länger im Kabinett Benjamin Netanjahus sitzt Naftali Bennett von der Siedlerpartei Israel Beitenu, Israel-Unser Haus. Bennet tritt für die Annexion des bis jetzt unter gesamter israelischer Verwaltung Gebietes C (nach den Osloverträgen) ein. Dieses Gebiet C macht etwa 61 Prozent des gesamten Westjordanlandes aus. Seine politischen Positionen ähneln demnach denen seines neuen Kabinettskollegen Avigdor Lieberman. Terroristen, sagte Bennet einst – und damit meinte er Palästinenser, die gegen die israelische Besatzung Widerstand leisten – sollte man einfach erschießen.
Schaut man sich die Geschichte Israels seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 an, so deutet nichts darauf hin, daß der „Jüdische Staat“, wie Benjamin Netanjahu ihn gerne nennt, die Gründung eines palästinensisches Staates zulassen würde. Unmittelbar nach dem Krieg von 1967 reisten israelische Geheimdienstbeamte ins eroberte Gebiet und sprachen dort mit palästinensischen Bürgermeistern und anderen Vertretern der einheimischen Bevölkerung. Nach ihrer Rückkehr empfahlen die Geheimdienstleute ihrer Regierung die Gründung eines palästinensischen Staates – andernfalls das Gebiet eine stetige Quelle der Unruhe und der Aufstände sein werde. Doch der Rat fiel auf unfruchtbaren Boden. Dennoch gab es genügend Gelegenheiten zu einem Friedensschluß – oft dargeboten von den Palästinensern. Auf der palästinensischen Nationalratstagung 1988 in Algier bot Jassir Arafat die Gründung eines eigenen Staates an, als Gegenleistung versprach er Frieden und friedliche Beziehungen mit Israel. 1996 strich der palästinensische Nationalrat auf einer Tagung in Gaza unter Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton jene Passage aus seiner Satzung, wonach die Vernichtung Israels Ziel der Palästinenser sei. Die Verträge von Oslo hatten zuvor, im Jahre 1993, einen kontinuierlichen Friedenprozeß vorgesehen, an dessen Ende die Gründung eines palästinensischen Staates stehen sollte. Zuvor hatte im Jahre 1991 die Friedenskonferenz von Madrid – Saddam Hussein war gerade von einer Koalition unter Führung der USA aus Kuwait vertrieben worden – das gleiche Ziel verfolgt: Israel solle die besetzten Gebiet verlassen und dort die Gründung eines palästinensischen Staates zulassen. „Land für Frieden“ hieß die Formel, die in der gesamten Welt Hoffnung auslöste.
Alles vergebens. Diese und viele andere Bemühungen scheiterten – vor allem deshalb, weil die jeweiligen israelischen Regierungen trotz vieler Vermittlungsversuche der USA das besetzte Westjordanland nicht wieder herausgeben wollten. Eine der Folgen war die Gründung der Hamas, der, wie sie sich nennt, „Islamischen Widerstandsorganisation“, heute von den Medien gedankenlos als „radikalislamisch“ abgetan. Dabei wird stets übersehen, daß die von Jassir Arafat geführte „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) eine durch und durch laizistische Vereinigung war, in der, zum Beispiel, einer der Führer, George Habash, orthodoxer Christ war. Erst als die laizistische PLO mit ihre Friedenspolitik (und der steigenden Korruption in ihren Reihen) immer weniger Anhänger fand, kam es zum Aufschwung der Islamisten unter Führung der Hamas. So haben die Israelis – und mit ihnen westliche Regierungen, die es nicht fertig brachten, Israel zum Frieden zu zwingen – tatkräftig zur Islamisierung des palästinensischen Widerstandes beigetragen.
Im Grunde, das zeigt die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts, werden die Palästinenser von den jeweiligen israelischen Regierungen und von vielen Bürgern des Landes als zweitklassige Menschen behandelt. Die israelische Professorin Nurit Peled-Elhanan hat israelische Schulbücher analysiert und festgestellt , daß Palästinenser als Terroristen und als rückständige Farmer dargestellt würden. Israel werde, das ist die Schlußfolgerung der israelischen Professorin, immer rassistischer und auch faschistischer.
Insofern ist die Zusammensetzung des gerade von Premier Benjamin Netanjahu umgebildeten und radikalisierten Kabinetts weitgehend ein Spiegelbild der israelischen Gesellschaft. Netanjahu läßt – im Zeichen der Syrienkrise weitgehend unbehelligt – neue Siedlungen bauen, er hat monatelange „Friedens-Gespräche“ mit den USA, die zu einer Lösung der Krise führen sollten, erfolgreich blockiert und damit gezeigt, daß er die Gründung eines palästinensischen Staates unbedingt verhindern will.
Friedensprozeß? Fast ein in halbes Jahrhundert hat man nun dieses Wort benutzt – zu Unrecht, wie sich herausgestellt hat. Für Israel ging es stets um die Verwaltung und Bewahrung und mehr noch, um die Ausdehnung des Status quo. Über 500 000 Siedler leben, 49 Jahre nach Eroberung des Westjordanlandes und Ost-Jerusalems, heute in diesen Gebieten. Fast täglich werden es mehr. So haben alle israelischen Regerungen Fakten geschaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Und damit wird es bis auf weiteres keinen Friedensprozeß geben, der diesen Namen verdient.
[«*] Heiko Flottau war von 1985 bis 1992 und von 1996 bis 2004 Nahostkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, mit Sitz in Kairo, von 2005 bis 2009 freier Journalist in Kairo.