Zur Krise Der Europäischen Union – Eine Dokumentation von Peter Munkelt
Leitmedien samt Boulevard-Presse richten Berichterstattung und Kommentierung zunehmend nach Kriterien des Sportjournalismus aus. Wer setzt sich durch, wer siegt. Aufklärende Untersuchungen zu den Ursachen von Entwicklungen und Konstellationen, mit Recherche-Aufwand, sind rar geworden. Meinung schreibt sich flotter, entspricht zudem den breit angelegten Talkshows im Fernsehen.
Also lieber mit Schlagzeilen wie Grexit, Brexit, EU-Rausschmiss Ungarns und Polens aufmachen, als zu analysieren, warum es überhaupt zu solchen Entwicklungen kontra Europäische Integration kommen konnte.
Die folgende kommentierte Dokumentation untersucht an mehreren Beispielen mit Argumenten und Zitaten die Ursachen von Rückschlägen und Fehlentwicklungen in Europa. Der Verfasser hat fast vier Jahrzehnte lang die Politische Dokumentation des SPD-Parteivorstandes in Bonn und Berlin geleitet.
Peter Munkelt
Zur Krise der Europäischen Union:
Nationalstaatliche Renaissance kontra europäische Integration und Solidarität?
Nach zwei verheerenden Weltkriegen, nach millionenfachen Vertreibungen, nach faschistischen und kommunistischen Diktaturen war die gesellschaftliche und politische Entwicklung so weit fortgeschritten, Europa endlich als gemeinsames Projekt zu begreifen und zu organisieren, zunächst wirtschaftspolitisch mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957, währungspolitisch mit der Entwicklung eines Europäischen Währungssystems (EWS) ab Ende 1978, schließlich politisch mit der Gründung der Europäischen Union (EU) 1992.
Nach dem Zusammenbruch der östlichen Hegemonialmacht musste sich Europa als politische Ordnungsmacht zudem nicht länger nahezu auf die Regionen des Herrschaftsbereichs von Kaiser Karl dem Großen begrenzen. Politisch geeintes und geografisches Europa entwickelten sich fortschreitend deckungsgleicher. Diskutiert wurde, ob die EU Staatenbund bleiben oder sich als Bundesstaat konstituieren sollte.
Den erreichten Stand der europäischen Integration wirbeln seit Ende des letzten Jahrzehnts jedoch Krisen gleich in Serie kräftig durcheinander. Mindestens Stillstand droht, sogar Rückschläge können nicht mehr ausgeschlossen werden. Das Gespenst der Renationalisierung geht um.
„Schuldenkrise“
So sieht sich die EU seit 2007/2008 mit der sogenannten Finanzkrise konfrontiert. Eine anfangs auf die USA begrenzte Immobilienkrise weitete sich zur Bankenkrise aus. Der Handel der Geldinstitute untereinander schrumpfte gegen Null. Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt litten unter der knappen Liquidität. Die Konjunktur brach weltweit ein. Um „systemrelevante“ Banken (Too big to fail) vor dem Konkurs zu retten, pumpten Regierungen hohe Summen in Rettungsprogramme, mit der Folge steigender Staatsverschuldung. Im politischen und medialen Diskurs gelang es jedoch, die Krise der Banken frühzeitig zur Finanz- und Eurokrise umzudeuten und Staaten wegen ihrer Verschuldung an den Pranger zu stellen:
Krise. Die größten Schuldenstaaten. Immer mehr Staaten stecken im Schuldensumpf.
(WirtschaftsWoche, wiwo.de, 22.11.2011)
„Schuldenkrise“ und „Staatsschuldenkrise“ beherrschen als dominierende Begriffe inzwischen die öffentliche Diskussion.
Solche Etikettierung korrespondiert mit der Interessenlage vor allem eines Mitgliedsstaates der EU, wirtschaftlich und politisch in eine führende Rolle hinein gewachsen: Von den Krisen anderer Staaten wusste Deutschland erheblich zu profitieren. Zur angeblichen Krisenbewältigung konnten Instrumente durchgesetzt werden, die schärfste Restriktionen für die krisengeschüttelten Länder vor allem im Süden Europas bedeuten, der deutschen Volkswirtschaft und den öffentlichen Kassen des Bundes und der Bundesländer aber erhebliche Vorteile brachten und weiterhin bringen.
Deutschlands Wirtschaft boomte beim Export, mit weiteren Konsequenzen für die Staaten, die sich verschulden mussten:
Deutschland steht angesichts seiner starken Exportausrichtung immer wieder in der Kritik. Die EU-Kommission stuft Werte von dauerhaft mehr als sechs Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt als stabilitätsgefährdend ein. Da Deutschland seit Jahren über dieser Grenze liegt, wurde die Bundesregierung im März 2014 von Brüssel gerügt. Gleichzeitig wird ihr empfohlen, mehr zu investieren und so die Nachfrage im Inland zu stärken. Auch das US-Finanzministerium prangerte die Überschüsse wiederholt als Risiko für die weltweite Finanzstabilität an, da Länder mit hohen Überschüssen solchen gegenüber stünden, die ihre Importe über Schulden finanzieren müssten.
Ökonomen sehen die Investitionsschwäche der deutschen Wirtschaft als Kernproblem des Ungleichgewichts.
(Spiegel Online, 2.2.2015)
Die Finanzminister in Deutschland konnten teure Kredite gegen Kredite mit niedrigen Zinssätzen umschulden:
Deutschland profitiert von Eurokrise
Der ausgeglichene Haushalt in Deutschland ist zu einem großen Teil auf Zinseinsparungen aufgrund der Schuldenkrise zurückzuführen. Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zeigen, dass sich aus der Krise zwischen 2010 und heute Einsparungen für den deutschen Haushalt von rund 100 Milliarden Euro (mehr als 3% des Bruttosozialprodukts, BIP) ergaben“
(Pressemitteilung des Instituts, 10.8.2015)
Institutionell ist während der Eurokrise
ein beachtliches europäisches Regelwerk (Fiskalpakt, Europäischer Stabilisierungsmechanismus) außerhalb des EU-Vertrags entstanden, das wesentlich von Deutschland gesteuert wurde (…) deutsche Macht (hat) partiell europäisches Recht ersetzt (…)
Eine politische Union, die gemeinsam getragene und politisch legitimierte Entscheidungen produziert, sieht anders aus.
(Ulrike Guérot: Von Normalität über Übermacht zur Ohnmacht? Betrachtungen zur deutschen Rolle in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 52/2015, 21. Dez., S. 17-22, hier S. 19 und 21)
Hebel für solche Durchsetzungsmacht war die fortschreitende Aufwertung des 1992 geschaffenen Europäischen Rates, zu Lasten gemeinschaftlicher Institutionen und kodifizierter Regeln der EU.
Mittlerweile gehen alle wegweisenden europapolitischen Entscheidungen ausschließlich aus den Treffen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat hervor. (…)
Begründet wird diese Ausdehnung exekutiver Handlungsvollmacht mit dem Entscheidungsdruck in Krisenzeiten. Es muss rasch gehandelt und entschieden werden, und das bewerkstelligen kleine Exekutivspitzen besser als debattierende Parlamente (…) Die gegenwärtig zu beobachtende Machtentfaltung der Exekutivspitzen entfernt sich bedenklich weit von dieser Idee der Volkssouveränität.
(Emanuel Richter: Alle Staatsgewalt ging vom Volke aus, In Zeiten der Krise verkommt die EU zu einem undemokratischen System von Großmächten, IPG, Internationale Politik und Gesellschaft, 18.4.2016)
Weitere Alleingänge und von Deutschland dominierte Entscheidungen:
Flüchtlingspolitik
Aktuell vor allem aus Syrien, weiterhin aus Afghanistan und dem Irak flüchten Millionen Menschen vor Hunger und Tod durch Krieg und Verfolgung. Die UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR schätzt die Zahl auf weltweit mehr als 60 Millionen. Aus Syrien flohen die meisten in die Türkei (rund 3 Mio.), in den Libanon (über 1 Mio.), nach Jordanien (geschätzt 630.000 bis 1,4 Mio.). Die wenigsten konnten sich weiter auf den Weg nach Europa machen, über das Mittelmeer, mit zahlreichen Todesopfern, oder über die Balkanstaaten.
Die EU hat im Dubliner Übereinkommen, seit 1997 in Kraft, vereinbart, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, nämlich in der Regel derjenige, in dem Asylbewerber zuerst ankommen, also durchweg die Staaten an den Außengrenzen der EU.
Die Bundeskanzlerin entschied im September 2015 im Alleingang, dieses Verfahren
auszusetzen und Flüchtende direkt nach Deutschland einreisen zu lassen. Merkel auf ihrer jährlichen Sommerpressekonferenz am 31.8.2015 in Berlin: „Wir schaffen das.“ Bis zu 1 Mio. Flüchtende nahmen die Bundeskanzlerin beim Wort. Bald jedoch pochte die Bundesregierung auf eine Aufteilung innerhalb der EU. Besonders Polen geriet in die Kritik, weil die Regierung dort sich weigerte, für die Folgen der bundesdeutschen Entscheidung in Haftung genommen zu werden.
Dank der Dublin-Regel hatte Deutschland vorher kaum Flüchtlinge aufnehmen müssen, es sei denn, diese kamen mit dem Flugzeug direkt an. Die Hauptlasten hatten Länder wie Griechenland und Italien zu tragen, zusätzlich zu den Belastungen durch die „Schuldenkrise“.
Und die Bundesregierung hat immer wieder das Hilfeersuchen von Griechenland und Italien abgewehrt.
(Gesine Schwan: „Die EU hat sich immer zu sehr an den wirtschaftlichen Interessen der Deutschen orientiert“, Interview mit EurActic.de, 16.2.2016)
Nach Merkels Entscheidung reagierten immer mehr Staaten der EU mit der Einführung von Grenzkontrollen. Die mit dem Abkommen von Schengen, seit 1995 in Kraft, erreichte Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft wurde somit aufgehoben. Dadurch wird auch die Wirtschaft, letztlich der Verbraucher, mit steigenden Kosten belastet, verursacht durch Wartezeiten für Lkw an den Grenzen sowie durch ausgeweitete Vorratshaltung in Firmenlagern.
Für die gesamte EU errechneten die Experten Einbußen bis 2025 von 470 Milliarden bis 1,4 Billionen Euro (…) Auch außerhalb Europas bei den großen Handelspartnern USA und China würden neue Grenzen in Europa zu Milliardenverlusten führen.
(Untersuchung der Bertelsmann Stiftung, Süddeutsche Zeitung, 23.2.2016)
Ukraine-Konflikt
Hauptakteure bei der Eindämmung dieses Konflikts waren Deutschland und Frankreich, unter deren Federführung mit Russland und der Ukraine Abkommen in Minsk und in der Normandie ausgehandelt werden konnten.
Obwohl seit 1991 zwischen Deutschland, Frankreich und Polen besonders enge Konsultationen und Abstimmungen vereinbart sind („Weimarer Dreieck“), blieb Polen in den Verhandlungen außen vor, trotz unmittelbarer Nachbarschaft zur Konfliktregion, aus der viele nach Polen flüchteten.
Auch die EU-Außenbeauftrage wurde nicht einbezogen.
Energiepolitik
Die deutsche „Energiewende“ im Juni 2011, von Bundeskanzlerin Merkel nach der Atomreaktorkatastrophe in Fukushima ausgerufen, war ebenfalls mit keinem Partnerstaat in der EU, geschweige denn mit der EU als Institution abgesprochen worden.
Regenerative Energien produzieren in Deutschland an besonders sonnigen oder windigen Tagen mehr Strom, als das deutsche Stromnetz bewältigen kann. Um einen Blackout zu verhindern, leitet Deutschland die Überschüsse deshalb ins benachbarte Ausland um. Doch Tschechien, Polen, Belgien, Frankreich und die Niederlande wollen nicht länger den Preis für die deutsche Energiepolitik zahlen und reagieren mit Strom-Blockaden.
(Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 6.8.2015)
Bei den Pipelineprojekten Northstream und Northstream II zwischen Deutschland und Russland werden nicht allein Polens Interessen ignoriert.
Nord Stream 2 widerspreche den strategischen Zielen der Energieunion, auf die sich die EU kürzlich verständigt hat. Eines der wichtigsten Ziele ist es, möglichst verschiedene Energiequellen anzuzapfen. Die Länder der Union sollen vor allem von russischem Gas unabhängig werden.
(Alice Bota, Matthias Krupa, Michael Thumann: Die Rohrbombe, Nord Stream 2: Deutschland hält an der umstrittenen Gaspipeline mit Russland fest – und verärgert damit den Rest Europas, Die Zeit, Nr. 6, 4.2.2016)
Soziale und politische Auswirkungen des „Fiskalpakts“
Die sozialen und politischen Verwerfungen als Folgen nationaler Interessenpolitik sind verheerend. Die EU, zur „Stabilitätszone“ deklariert, wird von Millionen Europäern vor allem im Süden und Osten zunehmend als Bedrohung für erträgliche Lebensbedingungen erlebt. Die Arbeitslosigkeit hat gewaltige Höhen erreicht, noch dramatischer ist die Jugendarbeitslosigkeit angestiegen: Griechenland 24/ 51,9 %, Spanien 20,4/ 45,5 %, Portugal 12,1/ 30,7 %, Italien 11,4/ 36,7 %, Polen 6,8/ 19,5 % (Quelle: statista, letzte Angaben für März 2016).
Sozialleistungen wie Renten und Löhne wurden gekürzt. Staatsvermögen wird durch Privatisierungen verscherbelt. Ein Beispiel: In Griechenland bekam die Fraport AG, Betreibergesellschaft des Flughafens Frankfurt am Main, für 40 Jahre die Rechte an 14 gut im Geschäft stehenden griechischen Flughäfen zum Schnäppchenpreis von 1,23 Mrd. Euro plus einer jährlichen Gebühr von 23 Mio. €. Die übrigen 30 Flughäfen, die ohne Gewinne subventioniert werden müssen, verbleiben beim griechischen Staat. Zum Vergleich: Der unfertige Flughafen in Berlin, einst für November 2011 terminiert, kostet bis jetzt 5,4 Mrd. €.
Reaktionen bei Wahlen
Politisch befördern Unzufriedenheit und Verarmung der Bevölkerungen populistische Gruppierungen und Parteien, die bei Wahlen sogar auf Anhieb in Parlamente und in Regierungen einziehen können.
Viele Kommentatoren – auch viele Ökonomen – bringen den Aufstieg des Populismus mit den Folgen der Finanzkrise von 2008 in Verbindung. Da ist durchaus etwas dran. In den USA, und mehr noch in Europa waren die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Krise gewaltig. Einkommen in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts eines Jahres oder mehr wurden vernichtet. 2014 waren in den Industrieländern immer noch zwölf Millionen mehr Menschen arbeitslos als 2007. Trotzdem wurden nur wenige, die in den 2000er Jahren Entscheidungen trafen, für ihr Versagen zur Verantwortung gezogen. Da es keinen offensichtlichen Bösewicht gibt und nicht mal einen Sündenbock, geben die Bürger verständlicherweise den Politikern die Schuld.
(Jean Pisani-Ferry: Wurzeln des Populismus, Die Erosion der unteren Mittelschicht hat die Glaubwürdigkeit der etablierten Politik unterminiert, Süddeutsche Zeitung, 2.2.2016)
Nicht allein populistischen bis rechtsextremistischen Gruppierungen gelingt es, die Blicke von Politikversagern doch wieder mal auf „Sündenböcke“ abzulenken:
Hass und Hetze gegen Flüchtlinge
„Was will man auch vom Gesindel erwarten?“: Auf vielen Facebook-Seiten werden offen Vorurteile gegen Flüchtlinge geschürt. Wer sich dagegen wehrt, gerät selbst in die Schusslinie,
(Handelsblatt, 17.8.2015)
Hetze gegen Flüchtlinge
Parolen im Internet häufig unter Klarnamen
(Frankfurter Allgemeine, FAZ.NET, 1.12.2015)
Durch stetig geschwundene Wahlbeteiligung (Kündigung durch den Bürger, Frankfurter Allgemeine, 28.12.2015) sind die Hürden für Wahlerfolge anfangs kleinerer Parteien nicht mehr allzu hoch.
So lag die Wahlbeteiligung in Polen bei der Parlamentswahl im Oktober 2015 gerade mal bei 50,9 %, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2015 im ersten Wahlgang bei 48,96 %, im zweiten bei 55,34 %. Bei der Parlamentswahl in Griechenland im September wurde eine Beteiligung von nur 56,57 % erreicht.
Andererseits war bei den Landtagswahlen in Deutschland im Frühjahr 2016 zu sehen, dass es einer „Protestpartei“ gelingen kann, Wähler für sich zu mobilisieren, die zuvor nicht (mehr) zur Wahl gegangen sind, resignierend oder aus sonstigen Gründen nicht.
Dagegen wird die politische Linke bei Wahlen zunehmend marginalisiert. Wähler, verunsichert, mit Abstiegsängsten und existenziellen Sorgen, auch wegen angestiegener Zuwanderung, erkennen offensichtlich dort keine überzeugenden Angebote (mehr). Zudem werden über die Medien zwar Positionierungen der Linken gegen die Parolen aus dem rechten Spektrum kommuniziert, deutlich weniger dagegen deren Alternativen und Angebote für soziale und finanzielle Verbesserungen. Erschwerend kommt hinzu, dass das linke Lager aufgespalten und zerstritten ist.
Eine vergleichbare Entwicklung bei den Rechten, zumindest in Deutschland, lässt doch wieder hoffen.
Nationalstaatliche Gegenmaßnahmen
Zu den Wahlerfolgen trugen nicht zuletzt Wahlversprechen bei, mit denen Verbesserungen für die Mehrheit der Bevölkerung zugesagt wurden. Im polnischen Wahlkampf kündigte die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) an, nach ihrer Regierungsübernahme Kindergeld und Mindestlohn einzuführen, das Renteneintrittsalter wieder abzusenken sowie den Steuerfreibetrag zu erhöhen.
Analysen zu den Wahlen in Polen kommen zu dem Schluss, dass der Wahlerfolg der PiS nicht zuletzt in der prekären finanziellen und sozialen Situation breiter Bevölkerungsschichten begründet ist.
PiS verdankt ihren Erfolg vor allem dem Aufbegehren der jungen Generation, dem Unmut der sozial Schwachen und dem besonders in den ländlichen Regionen Polens weit verbreiteten Hass auf die selbstherrlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten in den Städten. Der Mythos der Transformation von 1989 und deren Helden ist verblasst.
(Reinhold Vetter: Analyse: Von Kaczyńskis Gnaden/ Die neue nationalkonservative Regierung, Polen-Analysen, Nr. 173, 1.2.2015, S. 2-8)
In der Tat geht es Polen makroökonomisch gut. Das Wachstum liegt bei über drei Prozent. Die Arbeitslosenquote liegt bei unter zehn Prozent, Das Problem ist, dass viele Polen das Gefühl haben, nicht an diesem Erfolg teilzunehmen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 20 Prozent sehr hoch, gerade die jungen Männer scheinen hier empfänglich für nationalistische Töne der PiS. Das frühere Renteneintrittsalter wiederum spricht ältere Wähler an.
(Roland Feicht: „Abstrafung des liberalen Establishments“, über den Rechtsruck bei den Parlamentswahlen in Polen, IPG, Internationale Politik und Gesellschaft, 26.10.2015)
Wenn eine demokratisch gewählte Regierung darangeht, ihre Wahlversprechen sozialer Verbesserungen, aus denen schließlich ihr Wahlsieg resultiert, in die Tat umzusetzen, sieht sie sich erheblichem Druck ausgesetzt: durch massive Interventionsversuche von außen. Durchweg erlebten das linksorientierte Regierungen, so in Griechenland, Spanien, Portugal, um nur Beispiele in Europa zu nennen. Aktuell ergeht es der neuen polnischen Regierung kaum besser.
Zur Finanzierung versprochener Sozialleistungen wurde eine sanfte Steuererhöhung für Banken, Versicherungen und große Einzelhandelsketten beschlossen.
Die Reaktionen der „Finanzmärkte“ und der Handelsketten erfolgten dennoch vehement:
Besonders bitter stößt den Investoren die Steuer für Banken und Versicherungen auf, welche die einheimischen Geldhäuser ab Februar zusätzlich zu zahlen haben. Die Regierung erhofft sich dadurch Mehreinnahmen von insgesamt 4,4 Milliarden Zloty – also etwas mehr als eine Milliarde Euro. Die Unternehmen sollen ein Summe entrichten, die 0,44 Prozent des jährlichen Wertes ihrer Vermögenswerte entspricht. Die PiS will damit ihre teuren Wahlversprechen finanzieren.
(Sebastian Becker: Kaczyński lässt die Finanzmärkte zittern, Spiegel Online, 5.1.2016)
Ungestraft provoziert man die „Märkte“ nicht:
Ratingagentur Standard & Poor’s stuft Polens Kreditwürdigkeit herab
(stern.de, 16.1.2016)
Die Europäische Zentralbank (EZB) kennt den Fluchtweg:
Das Vorhaben könnte dazu führen, dass die Geldhäuser ihre Portfolios zugunsten von riskanteren Anlageklassen umbauen oder Geschäfte ins Ausland verlagern, warnten die europäischen Währungshüter am Dienstag. Die EZB riet dem osteuropäischen Land, eine umfangreiche Analyse über die Auswirkungen zu erstellen. Sollte die Steuer in der gegenwärtigen Form in Kraft treten, wäre sie ein Anreiz für die Kreditinstitute, ihre Bilanzsummen zu reduzieren, argumentiert die Zentralbank. Damit würden sich die Steuerverpflichtungen der Geldhäuser verringern.
(Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 13.1.2016)
Wer die soziale Lage der Bevölkerung verbessern will, wird eingekreist und mit Gegenmaßnahmen bedroht. Auch gegenüber Polen tauchten schon Forderungen auf, den Geldhahn der EU zuzudrehen.
Solange die politischen und ökonomischen Eliten Europas nach den Interessenlagen der „Märkte“ agieren, bleibt es nicht verwunderlich, wenn immer wieder nationalstaatliche Gegenwehr versucht wird. Massiver Einsatz von Medienmacht sowie massiver Druck der Geldgeber haben bisher Ausbruchsversuche aus der Fremdbestimmung scheitern lassen. So konnte zuletzt Griechenland wieder „auf Linie“ gebracht werden, mit schmerzhaften Folgen für große Teile der Bevölkerung.
Polens Regierung will Außendruck mit ihrer Politik nationaler Selbstbehauptung entgegentreten, vor allem gegenüber Deutschland als benachbarter Hegemonialmacht:
Der Blick der PiS und ihrer Vertreter auf Deutschland ist geprägt von abgrundtiefer Skepsis, manifesten Dominanzbefürchtungen und dem Wunsch, sich aus vermeintlicher Umklammerung durch den westlichen Nachbarn oder gar durch ein „deutsch-russisches Kondominium“ (Jaroslaw Kaczyński) zu befreien. (…) Sie ist der Ansicht, die Investition in die deutsch-polnischen Beziehungen habe sich nicht ausgezahlt. Daher möchte sie mit der angeblich „servilen“ Politik der „Bußetuns und Bittstellens“ ihrer Vorgänger brechen. Die PiS will Deutschlands Einfluss ausbalancieren und zurückdrängen.
(Kai-Olaf Lang: Misstrauen und Zusammenarbeit, Warschaus Blick auf Deutschland und Folgen für die deutsch-polnischen Beziehungen, SWP-aktuell, Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Nr. 13, März 2016, S. 1-2)
Lehren aus der deutschen Geschichte
„Alternativlos“, ein beliebter Standpunkt von Bundeskanzlerin Merkel, war die Entscheidung für einen „Fiskalpakt“, vorrangig im Eigeninteresse Deutschlands, keineswegs, zumal gerade Deutschland einem Gegenmodell den Wiederaufstieg aus den Trümmern des Krieges verdankt.
Statt jedoch
verschuldeten Volkswirtschaften einen Wachstumsweg aus der Rezession zu ermöglichen und damit ihre Schuldenlast zu reduzieren (…) weigerte sich Deutschland beharrlich, einen solchen keynesianischen Ansatz zu verfolgen. Stattdessen bestand es auf Austerität in der Eurozone, was es der Peripherie erschwerte, die eigene Wirtschaft in Gang zu bringen, und die Krise verschärfte. So etwas wie einen Marshallplan gab es für die verschuldeten Länder Europas jedenfalls nicht.
(Hans Kundnani, Ulrike Guérot, Alister Miskimmon: Deutschland in Europa. Drei Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 52/2015, 21. Dez., S. 12-17, hier S. 13/14)
Der Marshallplan der USA von 1948 bis 1952 für das im Krieg zerstörte Westeuropa initiierte vor allem in der Bundesrepublik Deutschland einen lange anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung („Deutsches Wirtschaftswunder“).
Nicht zuletzt dank amerikanischer Hilfe mit positiven ökonomischen Auswirkungen, die auch sozialen Fortschritt ermöglichten (so Dynamische Rente und Lohnfortzahlung bei Krankheit seit 1957), hat sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer stabilen Demokratie entwickelt. Stets hohe Wahlbeteiligung war nicht der einzige Indikator.
Doch statt wie die USA die eigene Macht klug einzusetzen, hat Deutschland seit Beginn der Krise statt Anreize zu setzen Druckmittel benutzt und statt langfristiger Ziele kurzfristige Interessen verfolgt.
(Kundnani u.a. S. 13)
Mit den
von der Bundesregierung dogmatisch verteidigten Regeln des ‚Fiskalpakts‘ (…) die seit Jahren die wirtschaftliche Entwicklung in vielen Ländern Europas hemmen, soziales wie auch ökonomisches Unheil vor allem in Südeuropa anrichten
werden
zunehmend Zweifel an der demokratischen Legitimität demokratischer Entscheidungen
geweckt.
Anknüpfend an das erfolgreiche historische Modell zum Aufbau Westeuropas nach dem Weltkrieg muss dieser negativen Entwicklung gegensteuert werden, endlich mit einem
Beitrag zu einer europäischen Investitionsinitiative (…)
Angesichts der niedrigen Zinsen ist die Finanzierung öffentlicher Investitionen für den Staat günstig wie noch nie.
(Gesine Schwan, Hans-Jürgen Urban: Das Flüchtlingsdrama: Ein Appell zum Umsteuern, Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau, 14.4.2016)
Selbst der Internationale Währungsfonds, Griechenland gegenüber deutlich anders positioniert, kennt diese Alternative:
Der IWF schaut sich drei sehr konkrete Reformen an – einen Ausbau der Kita-Betreuung und der Ganztagsschulen, eine Ausgabensenkung für Geringverdiener und einer Liberalisierung des Dienstleistungssektors (Anmerkung: Liberalisierung bedeutet von Einschränkungen, Regeln befreien, wenigstens da bleibt der IWF sich treu) – und modelliert die makroökonomischen Folgen (und als wolle er [Bundesfinanzminister] Schäuble eins auswischen, bezeichnet er alle drei Reformen als Strukturreformen, die Deutschland ja bekanntlich von anderen einfordert).
Die Quintessenz des Papiers: Wenn der Staat tüchtig Geld in die Hand nehmen würde, um kreditfinanziert die Abgaben zu senken und die Betreuung auszubauen, dann würde das die Wirtschaft spürbar ankurbeln. Und noch besser: Mittelfristig finanzieren sich die Maßnahmen über mehr Wachstum und höheres Steueraufkommen selbst. Man kann also – hört, hört – tatsächlich Schulden mit Schulden bekämpfen.
Zeit Online, 26.4.2016, zum IMF Working Paper, Tom Krebs, Martin Scheffel: Structural Reform in Germany, WP 16/96, April 2016
Europa vor der Entscheidung: Ausbau endlich auch zur Sozialunion
Wenn sich Europa weiterhin der Hegemonie der Austeritätspolitik neoliberaler Prägung unterordnet, kann sich die Situation gefährlich verschärfen.
Der amerikanische Ökonom Paul Krugman erinnert an ein historisches Beispiel: die rigiden Sparmaßnahmen mit Kürzungen staatlicher Leistungen und Lohnsenkungen unter dem deutschen Reichskanzler Heinrich Brüning Anfang der 1930er Jahre
(That ‘30s Feeling, New York Times, 17.6.2010). Die verheerenden ökonomischen Folgen bis zu Massenarbeitslosigkeit mobilisierten und radikalisierten Opfer solcher „Sparpolitik“, was die Nationalsozialisten unter Hitler schließlich zur Machtübernahme auszunutzen wussten.
Vergleichbare Entwicklungen und Konstellationen können erfolgreich nur verhindert werden, wenn der Nährboden hierfür nicht weiter gedüngt, stattdessen ausgehungert wird.
In der sogenannten Ukraine-Krise wurde oft davor gewarnt, nicht erneut wie „Schlafwandler“ in einen neuen großen Krieg zu schlittern, angeblich der Weg in den Ersten Weltkrieg. Die unmittelbare Kriegsgefahr innerhalb Europas hat sich nach der Ukraine-Krise durch den Krieg in Syrien mit Kooperationszwang bei der Bekämpfung islamistischen Terrors inzwischen zwar geographisch entfernt. Die Folgen schlagen aber mit Scharen von Flüchtenden, aber auch als terroristische Bedrohung in Metropolen Europas, auf unseren Kontinent zurück. In der starken Zuwanderung sehen viele Bürger, selbst mit existenziellen Problemen konfrontiert, Konkurrenz bei den Arbeitsplätzen, den Wohnungen, Sozialleistungen, Löhnen. Sogenannte Rechtspopulisten verstehen es erneut, von solchen Nöten und Ängsten zu profitieren.
Verbale Abgrenzung dagegen allein wird solche Parolen zusätzlich verbreiten, nicht jedoch die Ursachen für ansteigenden Zuspruch des Protestpotentials in der Wählerschaft abmildern oder sogar beseitigen.
Europa ist gefordert, auch diese Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen, statt in längst überwunden geglaubte Nationalstaaterei zurückzufallen.
Nach Wirtschaftsgemeinschaft, Währungsunion und Europäischer Union zur politischen Einigung muss Europa endlich auch als Sozialunion organisiert werden:
Dem europäischen Haus fehlt das soziale und solidarische Fundament.
(Gesine Schwan, Hans-Jürgen Urban)
Erscheint in „Krakowskie Studia Miedzynarodowe/Krakow International Studies“, 2016, Veröffentlichung vom Verlag genehmigt
Funktionen der zitierten Autorinnen und Autoren
Becker, Sebastian: Wirtschafts- und Politikjournalist, schreibt u.a. für die Börsenzeitung, das Stahlmagazin und für polnische Medien
Bota, Alice: Auslandskorrespondentin im Moskauer Büro der ZEIT
Feicht, Roland: Leiter der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Polen
Guérot, Ulrike: Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance (eusg), Berlin, lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)
Krebs, Tom: Professor, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre/Makroökonomik, Universität Mannheim
Krugman, Paul: Professor für Volkswirtschaftslehre an der Princeton University, Centenary Professor an der London School of Economics, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften 2008
Krupa, Matthias: Brüssel-Korrespondent der ZEIT
Kundnani, Hans: Senior Transatlantic Fellow, German Marshall Fund of the USA, Berlin
Lang, Kai-Olaf: Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin
Miskimmon, Alister: Head of Department and International Relations, Centre of European Politics, Royal Holloway, University of London
Pisani-Ferry, Jean: Professor an der Hertie School of Governance in Berlin und Generaldirektor von France Stratégie in Paris
Richter, Emanuel: Professor für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen
Scheffel, Martin: Junior-Professor, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln
Schwan, Gesine: Politikwissenschaftlerin, Präsidentin und Mitgründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform, Berlin, 1999-2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), 2005-2009 Koordinatorin der Bundesregierung für die Zusammenarbeit mit Polen
Thumann, Michael: Außenpolitischer Korrespondent in der Berliner Hauptstadtredaktion der ZEIT
Urban, Hans-Jürgen: Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall
Vetter, Reinhold: Ingenieur und Politikwissenschaftler, freier Publizist in Warschau und Berlin