Von Dersim 1938 bis Sur 2016 – Die Kurden und das Völkerrecht

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Wer nach Dersim kommt, muss sich mit einer Katastrophe der kaum hundertjährigen Geschichte der Türkei auseinandersetzen, die nicht vergessen werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Zahl der Toten, die die Bevölkerung von Dersim als Opfer eines Massakers der türkischen Armee von 1937/38 zu beklagen hatte. Die Zahl ist nicht einmal geklärt und schwankt zwischen 30.000 und 90.000 Toten. Auf jeden Fall sind die 13.000 Toten, die der damalige Premierminister Erdogan vor ein paar Jahren angab, nicht realistisch. Doch kommt es nicht auf die Zahl an, entscheidend ist die Absicht und das Ziel der Zerstörung, der Deportationen und Morde, mit dem dieser letzte große Aufstand der Kurden niedergeschlagen wurde. Es ging nicht nur um die Bekämpfung eines Aufstandes, sondern um die Vernichtung einer religiösen Gruppe der Kurden, der Alewiten, die alle Zeichen eines Völkermords trägt. Von Norman Paech[*].

In den meisten Veröffentlichungen in deutscher Sprache, von der großen Monographie „Genozid im Völkerrecht“ von William A. Schabas über die zahlreichen Lehrbücher des Völkerrechts bis hin zu Wikipedia, wird Dersim unter dem Stichwort „Völkermord“ gar nicht erwähnt. Zumeist wird der Begriff des „Ethnozids“ herangezogen, um das zu charakterisieren, was 1937/38 in Dersim geschah. So etwa Martin van Bruinessen und Yves Ternon. Dieser schrieb in seinem 1996 erschienenen Buch „Der verbrecherische Staat“:

„Tatsächlich beruhte der Kemalismus ja auf der Behauptung der ethnischen Einheitlichkeit der Türkei, alle Bewohner Anatoliens seien seit jeher Türken gewesen. Zur Untermauerung dieser These dekretierte die Regierung 1932, die Kurden seinen ‚iranisierte Bergtürken‘. Damit erfolgte ein beispielloser, barbarischer Ethnozid per Dekret, zu dessen Durchführung die Regierung eine weitere Bevölkerungszwangsumsiedlung inszenierte. Insbesondere sollte das Kurdengebiet Dersim in Zentralanatolien radikal entvölkert werden, ein unwegsames Gelände, das den Guerillakampf begünstigte. Innerhalb von zwei Jahren brach die türkische Armee den Widerstand der letzten kurdischen Rebellen und zerschlug die Kurdenbewegung in der Türkei auf dreißig Jahre hinaus.“ (S. 289).

Bruinessen, ein hervorragender Kenner der kurdischen Geschichte, möchte den Begriff des Völkermordes nicht verwenden. In seinem Aufsatz „Genocide in Kurdistan? The Suppression of the Dersim Rebellion in Turkey (1937-38)“i schreibt er:

„There was never a policy of physically destroying the Kurds or part of them as such. There was, however, in the Dersim campaign, a deliberate intent to destroy rebels and potential rebels, and this was part of a general policy directed toward the Kurds as such. But this policy is more appropriately termed ethnocide, the destruction of Kurdish ethnic identity.“

Ich möchte Ihnen in aller Kürze darlegen, weswegen ich diesen „beispiellosen barbarischen Ethnozid“ einen Völkermord nenne, dass auch die „Zerstörung der kurdischen ethnischen Identität“ mit dem Mitteln militärischer kriegerischer Gewalt „Völkermord“ genannt werden kann. So wie auch Ismail Beşikçi in seinem Buch von 1990 „Tunceli kanunu (1935) ve Dersim jenosidi“ das Massaker als Völkermord bezeichnet hat.

In der Konvention von 1948, die den Völkermord als schweres völkerrechtliches Verbrechen verbietet, heißt es in Artikel 2:

„In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“

Dazu zählt die Konvention die „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“, die „Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe“ oder die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“. Alle Umstände und Überlieferungen dieses furchtbaren Massakers 1937/38 weisen eindeutig auf einen Genozid hin.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass es um die Gegenwehr der Kurden gegen die gnadenlose Zwangsassimilierung des jungen türkischen Staates ging. Aufstände der Kurden hatte es bereits im Osmanischen Reich gegeben, die sich von den einzelnen kurdischen Fürsten- und Scheichtümern gegen die Zentralisierungsbestrebungen der osmanischen Herrschaft richteten. Sie konnten sich aber auf keine gemeinsame Idee, keine Massenbewegung stützen, blieben isoliert und waren der osmanischen Streitmacht nicht gewachsen.

Anders nach der Gründung des türkischen Staates 1923, als die Hoffnung der Kurden auf einen unabhängigen Staat, wie er ihnen noch im Vertrag von Sèvres versprochen worden war, in der kemalistischen Assimilierungspolitik wieder unterging. Basierte das System der osmanischen Herrschaft noch auf der Anerkennung der vielfältigen kulturellen, sprachlichen und religiösen Gemeinschaften, so sah Kemal Atatürk seine Aufgabe in der Homogenisierung einer heterogenen Gesellschaft, um eine türkische Nation zu bilden. Dieses Projekt der Türkisierung vertrug sich nicht mit der Anerkennung unterschiedlicher kultureller und ethnischer Identitäten. Sie wurden einer rigorosen Zwangsassimilierung unterworfen, die mit einem vagen Konzept der westlichen Modernisierung begründet wurde, um den „Anschluss an die westliche Zivilisation“, wie es damals hieß, zu erreichen. Nicht nur, dass die kurdische Sprache abgeschafft wurde, die Große Nationalversammlung der Türkei erließ Gesetze – das Gesetz über Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, das Gesetz über die Generalinspektorate und das Umsiedlungsgesetz –, die systematische Repression und Deportationen sowie Rebellion und Separatismus seitens der Kurden zur Folge hatten.

Die Zeit zwischen 1925 und 1938 war geprägt von mehreren Aufständen, die die von Loyalität geprägte Kohabitation der beiden Völker im Osmanischen Reich zutiefst zerstörte. Das, was wir heute die kurdische Frage nennen, entstand in diesen Jahren. Man kann von einem neuen kurdischen Zeitalter sprechen, welches auf den Trümmern der osmanischen Identität eine neue kurdische Freiheit gründete. Azadi =Freiheit war der Name der Geheimorganisation, die den Widerstand gegen die kemalistische Assimilierung organisieren sollte. Der erste große Aufstand von 1925 scheiterte an seiner regionalen Begrenzung und mangelnden Vorbereitung. Der zweite große Aufstand von Ararat zog sich über die Jahre 1927 bis 1930 hin. Dieser Aufstand konnte zum ersten Mal die Idee der Einheit aller kurdischen Gruppierungen mit dem Ziel eines unabhängigen Staates verbinden und dem türkischen Unterdrückungs- und Kontrollapparat entgegensetzen. Doch auch dieser Aufstand kostete viele Opfer und endete mit der Flucht oder Hinrichtung seiner Führung. Ihm folgte die sukzessive Kontrolle der übrigen kurdischen Regionen durch planmäßige Vertreibung und Assimilierung.

Nur ein Gebiet widerstand der Kontrolle der kemalistischen Herrschaft, die Region um Dersim, die fast ausschließlich von alewitischen Kurden bewohnt war. Sie war auch die einzige Region, die einen autonomen Status innerhalb der Grenzen der Türkei eingefordert hatte. Um diese letzte Festung der Kurden zu erobern, erließ die Große Nationalversammlung im Dezember 1935 das Gesetz über die Verwaltung von Tunceli, mit dem nicht nur der Name Dersim untergehen sollte. Schon 1931 wird der Oberbefehlshaber der Armee Feldmarschall Fevci Çamak mit den Worten zitiert:

„Vorerst soll Dersim wie eine Kolonie betrachtet werden, unter der türkischen Oberhoheit soll das Dersimtum vernichtet und danach dem türkischen Rechtswesen unterworfen werden.“

Wie ernst es der türkischen Führung mit der Kolonisierung, ja Vernichtung dieser alewitisch-kurdischen Enklave war, zeigt die Rede Kemal Atatürks zur Eröffnung des Parlaments im Jahre 1936, in der es heißt:

„Wenn es etwas Wichtiges in unseren inneren Angelegenheiten gibt, dann ist es nur die Dersim-Angelegenheit. Um diese Narbe, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen, egal was es koste, und die Regierung muss mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie dringend erforderliche Entscheidungen treffen kann.“

Es wurde ein weiteres Generalinspektorat eingerichtet und in den Provinzen Dersim, Elazig und Bingöl wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, obwohl es noch keine Anzeichen für einen Aufstand gab. Dieser entwickelte sich erst, als die Schikanen, Erniedrigungen, Zerstörungen und Vertreibungen derart zunahmen, dass es nur einer tödlichen Konfrontation mit der Polizei bedurfte, um in kürzester Zeit mehr als 80.000 Kämpfer (nach kurdischen Angaben) zu rekrutieren, um sich gegen die erdrückende Herrschaft zur Wehr zu setzen. Die Gegenoffensive der türkischen Armee folgte unmittelbar, nachdem der Ministerrat sie unter Beteiligung von Kemal Atatürk am 4. Mai 1937 beschlossen hatte:

Diesmal ist das aufständische Volk aus diesem Gebiet zu sammeln und in ein anderes Gebiet zu deportieren. Während dieser Zusammenlegungsaktion sind einerseits alle Waffen dort zu sammeln, andererseits die dort Festgenommenen mit der gleichen Intensität zu deportieren…. Achtung: Wenn man sich nur mit Angriffsaktionen begnügen würde, würden die Aufstandsquellen für immer dort weiter existieren. Aus diesem Grunde sind alle, die eine Waffe benutzt haben und benutzen, an Ort und Stelle bis zum Schluss in eine Lage zu bringen, dass sie keinen Schaden mehr anrichten können, die Dörfer sind gänzlich zu vernichten und ihre Einwohner zu deportieren.“

Seitdem wird dieser Tag als der Beginn des Dersim-Genozids in der kurdischen Geschichte bezeichnet. Deutlicher kann man das Ziel der Operationen gegen Dersim nicht beschreiben, es lautete: Vernichtung der Rafizi, der „Rotköpfe“, mit der die Alewiten gemeint waren. Etliche überlieferte Erinnerungen von Militärs, die an dem Feldzug teilgenommen hatten, sprechen ungeschminkt von dem Auftrag, der ihnen die Vernichtung befahl. Diese wurde mit aller Konsequenz und Grausamkeit durchgeführt. Frauen, Kinder und alte Menschen, die sich in Höhlen versteckt hatten, wurden ausgeräuchert und durch Giftgas getötet. Kinder wurden enthauptet und schwangere Frauen mit Schwertern ermordet. Der kriegerische Mob muss derartige Angst verbreitet haben, dass sich Frauen die Felsen hinuntergestürzt haben sollen, um nicht in die Hände der türkischen Soldaten zu fallen. Zahlreiche Dörfer wurden durch Bombenhagel und Artillerie in Schutt und Asche gelegt.

Anfang 1938 war auch dieser Aufstand niedergeschlagen. Der Völkermord brachte die Kurden für Jahrzehnte zum Schweigen, sie wurden aus den Geschichtsbüchern getilgt, ihre Sprache verbannt, ihre Identität geleugnet.

Es hat sich seit 1938 viel verändert. Der Kampf der Kurden ist seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder aufgelebt. Er hat dazu geführt, dass die Identität des kurdischen Volkes und das Bewusstsein von seiner eigenen Geschichte in den Massen verankert sind, und immer mehr auch von der türkischen Gesellschaft anerkannt wird. Allerdings scheint der einstige Wunsch nach Unabhängigkeit immer noch als Drohung der Sezession von Regierung und Militär wahrgenommen zu werden, obwohl die Kurden dieses Ziel schon seit 20 Jahren glaubhaft aufgegeben haben und nur ihre Rechte in den Grenzen der Türkei einfordern. Der Vorwurf der Sezession wird jedoch heute noch als Waffe gegen die Kurden verwandt und mag ein tieferer Grund dafür sein, dass auch das Massaker von Dersim nicht wirklich als Schuld und Unrecht akzeptiert wird. Die Angst vor dem Zerfall des türkischen Staates ist offensichtlich eines der Syndrome, die der Untergang des Osmanischen Reiches dem neuen Staat Türkei hinterlassen und jegliche demokratische Initiative zur Lösung der kurdischen Frage gelähmt hat.

Emine Ülker Tarhan, die Präsidentin des Berufsverbandes der Richter und Staatsanwälte, die im März 2011 von ihrem Amt als Oberste Richterin in Ankara zurücktrat, hat in einer Rede in Frankfurt auf den desolaten demokratischen Zustand ihres Landes aufmerksam gemacht. Dabei malte sie ein finsteres Bild der Republik vor ihren deutschen Zuhörern:

„Das derzeitige Klima in der Türkei gleicht den Verhältnissen in George Orwells Buch „1984“. Denn das Vorgehen unserer Regierung unterscheidet sich nicht im Geringsten davon, wie Big Brother in seinem Angstimperium die Gedankenpolizei in Gang setzt, um Gedanken zu zerstören. Der Polizeistaat steht nicht nur vor unserer Tür, er hämmert mit dem Rammbock dagegen.“

Heute, im Frühjahr 2016, ist der Polizeistaat Realität geworden. Und zwar nicht nur in der Form der Gedankenpolizei, sondern der militärischen Unterdrückungs- und Zerstörungspolizei gegen die Kurden. Polizei, Gendarmerie und Militär haben in den letzten Monaten in den Städten Diyarbakir/Sur, Cisre, Idil, Silopi und Nusaybin gegen die Bevölkerung Krieg geführt und dabei schwere Kriegsverbrechen begangen. Die Verantwortlichen sollten vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Kriegsverbrechen, die die türkische Armee 1937/38 in Dersim begangen hat, sind verjährt und nicht mehr gerichtlich zu verfolgen. Völkermord jedoch verjährt nicht und müsste theoretisch genauso wie der Völkermord an den Armeniern 1915 beim IStGH angezeigt werden können. Doch steht dem das Rückwirkungsverbot des Art. 24 des Römischen Statuts entgegen:

„Niemand ist nach diesem Statut für ein Verbrechen strafrechtlich verantwortlich, das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat.“

Das schließt nicht aus, dass Einzeltäter aus der damaligen Zeit nicht wegen Mordes noch strafrechtlich verfolgt werden können. Der Straftatbestand des Völkermords ist jedoch eine völkerrechtliche Neuerung des 21. Jahrhunderts, selbst die Nürnberger Prinzipien von 1946 kannten diesen Tatbestand nicht. Um die Öffentlichkeit jedoch über den Völkermord aufzuklären, müsste die Ausgrabung der Massengräber vorangetrieben werden und eine historische Dokumentation der Ereignisse erarbeitet werden.

Demgegenüber müssen die gegenwärtigen Kriegsverbrechen der türkischen Armee in Nordkurdistan vor den IStGH in Den Haag gebracht werden. An einer solchen Anzeige wird gearbeitet, da es erdrückendes Beweismaterial gibt. Zugleich wird ein öffentliches Russel-Tribunal vorbereitet, in dem der Öffentlichkeit all die Beweise und Zeugen präsentiert werden sollen, damit die Verbrechen nicht in den Gerichten verschwinden und ohne Konsequenzen bleiben.

Der Kampf der Kurden um die Anerkennung ihrer Identität, ihrer Menschen- und Grundrechte, um die Gewährung von Autonomie, Selbstverwaltung und die gleichberechtigte Teilhabe an den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechten der Gesellschaft dauert nun praktisch seit der Gründung der Türkei im Jahr 1923. Er hat viele Opfer gefordert und ist von vielen Niederlagen geprägt, aber hat auch viele Erfolge zu verzeichnen. Derzeit ist der türkische Staat wieder in Krieg und Barbarei zurückgefallen. Er wird dennoch die Identität und Existenz des kurdischen Volkes nicht vernichten können. Recht und Justiz sind notwendige Mittel des Widerstandes und der Gegenwehr. Gerade haben die alewitischen Verbände eine wichtige Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Diskriminierung ihrer Religion durch den türkischen Staat gewonnen. Aber Gerichte sind unsichere Verbündete im Kampf gegen einen auch politisch mächtigen Gegner. Man darf sie nicht beiseite lassen und auf sie verzichten, man muss jedoch klug mit ihnen umgehen.

Dersim, 4. Mai 2016


[«*] Norman Paech, geboren 1938 in Bremerhaven, ist Hochschullehrer und Politiker (Die Linke). Er ist Mitglied der „Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen“ (VDJ), der „Freundschaftsgesellschaft Vietnam-BRD“, im Wissenschaftlichen Beirat der „International Association of Lawyers against Nuclear Armement“ (IALANA) und „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW), bei Attac sowie im Auschwitz Komitee. Zuletzt erschien von ihm „Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen“ im VSA-Verlag.

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