Ungleichheit und Einwanderung: Wie man mit richtigen Zahlen viel Falsches sagen kann
Wieder einmal die FAZ: In einem Artikel über eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hebt sie die Rolle hervor, die „Zuwanderung“ für das Schrumpfen der Mittelschicht in Deutschland angeblich spielt. Bei genauerer Betrachtung der im Artikel und in der Studie genannten Zahlen ist die Einwanderung aber nur zu einem vergleichsweise geringen Anteil daran beteiligt. Von Patrick Schreiner[*].
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Das DIW veröffentlichte in der vergangenen Woche eine neue Ausgabe seines Wochenberichts, darin eine Studie zur schrumpfenden Mittelschicht in Deutschland und den USA. Zentrale Aussagen: Während hierzulande 1982 noch 62 Prozent der Einwohner zur Mittelschicht gehörten, waren es 1991 nur noch 60 Prozent, 2001 nur noch 58 Prozent und 2011 nur noch 54 Prozent. 2013 war dieser Anteil nicht mehr weiter zurückgegangen. Allerdings stieg zwischen 2011 und 2013 der Anteil der Menschen mit Niedrigeinkommen um ein Prozent an – er hatte zuvor seit 1991 bei 20 Prozent stagniert. (Zur Definition von „Mittelschicht“ und „Niedrigeinkommen“ und zu weiteren methodischen Fragen empfiehlt sich ein Blick in die Studie selbst, S. 392-393).
Das Märchen von der zurückgehenden Ungleichheit
Das DIW zeigt also, dass in der langen Frist die Einkommens-Ungleichheit in Deutschland recht deutlich zugenommen hat. Eine Analyse, die weder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) noch dem arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ins Konzept zu passen scheint. Das IW beeilte sich, unter Bezugnahme auf einen Vorab-Bericht der Zeitschrift Wirtschaftswoche zu erklären:
Laut einer Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) hat die Mittelschicht in Deutschland seit der Wiedervereinigung von 60 Prozent auf 54 Prozent abgenommen. Doch dieser Prozess vollzog sich vor allem um die Jahrtausendwende: Seit 2005 – also seit einem Jahrzehnt – gibt es in Deutschland annähernd stabile Verhältnisse, was die Verteilung angeht. So zeigt auch die DIW-Studie, dass sich die Größe der Mittelschicht zwischen 2011 und 2013, dem Jahr der jüngsten Daten, nicht verändert hat.
Nun behaupten liberal-konservative Medien und unternehmensnahe Institutionen wie das IW regelmäßig, dass die Einkommens-Ungleichheit in Deutschland seit dem Jahr 2005 nicht mehr zugenommen habe. Die Datenlage hierzu ist allerdings uneinheitlich: Einerseits hat der DGB in seinem Verteilungsbericht 2016 auf der Grundlage von Eurostat-Daten zwischen 2005 und 2014 einen Anstieg des Gini-Koeffizienten für Ungleichheit bei verfügbaren Äquivalenzeinkommen um 4,6 Punkte ermittelt. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat in seinen Armutsberichten auf der Grundlage von Mikrozensus-Daten einen Anstieg der Armutsquote zwischen 2005 und 2013 von 14,7 Prozent der Bevölkerung auf 15,5 Prozent nachgewiesen. Insbesondere Berechnungen auf der Basis von SOEP-(Umfrage-)Daten allerdings kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland in diesem Zeitraum nicht angestiegen sei, so etwa mehrere Studien des DIW. Auch die DIW-Studie von letzter Woche widerspricht dieser These nicht, wenngleich sie sie aufgrund der gewählten Beobachtungszeiträume (1982-1991-2001-2011-2013) auch nicht explizit stützt.
In der FAZ hat sich Philip Plickert der jüngsten DIW-Studie angenommen. Für seinen Artikel hat er – offenbar im Gespräch mit deren Autoren – zusätzliche Daten recherchiert, die in der Studie selbst nicht vorkommen. So schreibt er unter Bezugnahme auf den DIW-Forscher Markus Grabka:
Während die Armutsrisikoquote (weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens) eigentlich seit 2005 relativ konstant war, hat sie von 2013 an wieder etwas zugenommen.
Seit 2013 steigt die Einkommens-Ungleichheit also sehr wohl wieder an, und zwar auch laut SOEP-Daten – was die Behauptung des IW widerlegt. Hinzu kommt laut Grabka, dass die vergleichsweise gute Lage am Arbeitsmarkt der letzten Jahre eigentlich zu einer Stabilisierung der Mittelschicht hätte führen müssen. Mit anderen Worten: Die Stagnation der Einkommens-Ungleichheit seit 2005, wenn es sie denn gab, muss angesichts der abnehmenden Arbeitslosigkeit eher Sorgen machen, als dass sie beruhigen könnte. Plickert halten diese neueren Daten indes nicht davon ab, unmittelbar im Anschluss an Grabka die durch diesen widerlegte, beschwichtigende Position des IW wiederzugeben. Die arbeitgebernahen Wissenschaftler haben damit das letzte Wort in dieser Frage – auch wenn es ein nachweislich falsches Wort ist.
Zuwanderung als Ursache für die schrumpfende Mittelschicht?
Und nicht nur das: Auch hinsichtlich der Ursache der seit den 1980er/1990er Jahren schrumpfenden Mittelschicht agiert und argumentiert die FAZ fragwürdig. Plickerts Artikel trägt den Titel „Arme Zuwanderung lässt Mittelschicht schrumpfen“. Diese Behauptung wird im ersten Absatz (Teaser) nochmal wiederholt:
Mehr Reiche, mehr Arme und weniger dazwischen: Seit der Wiedervereinigung ist der Anteil der Mittelschicht von 60 auf 54 Prozent der Bevölkerung gesunken. Was die Zuwanderung damit zu tun hat.
Titel und Teaser erwecken gemeinsam den Eindruck: An der schrumpfenden Mittelschicht ist die Einwanderung armer Menschen Schuld. Nicht ausgeführt wird, worin genau dieser Zusammenhang bestehen soll. Wer nur Titel und Teaser liest, könnte mögliche Vorurteile bestätigt sehen: Die brave Mittelschicht muss für Migrantinnen und Migranten zahlen. Dass dem nicht so ist, erfährt nur, wer weiterliest: Sehr viele Migrantinnen und Migranten finden sich zunächst am unteren Ende der Einkommensskala, was dazu geführt hat, dass die Mittelschicht rechnerisch (!) geschrumpft ist. Finanziell schlechter muss es deren ehemaligen und aktuellen Angehörigen deshalb noch lange nicht gehen. Und tut es auch nicht – jedenfalls nicht aus diesem Grund.
Tatsächlich finanziell schlechter geht es vielen ehemaligen und aktuellen Angehörigen der Mittelschicht aber aus anderen Gründen. Auch das erfährt nur, wer den Artikel fast bis ans Ende liest:
Als weitere Faktoren, die zum schrumpfenden Anteil der Mittelschicht beitrugen, wird die zunehmende Anzahl von Singles in der Bevölkerung gezählt, deren Einkommen in einem statistischen Verfahren geringer gewichtet werden, weil sie höhere Fixkosten der Haushaltsführung haben (sogenannte äquivalenzgewichtete Haushaltseinkommen). Dies hat nach einer Studie von Martin Biewen und Andos Juhasz etwas mehr als ein Zehntel zur Veränderung der Ungleichheitsindikatoren beigetragen, erläutert Schupp. Fast ein Drittel sei aber auf veränderte Arbeitsmarktbeteiligung, etwa mehr Teilzeitarbeit zurückzuführen. Und mehr als ein Drittel ging auf eine größere Kluft in der Entlohnung von Hoch-, Mittel und Unqualifizierten zurück.
Von wegen „Zuwanderung“: Zu etwa zwei Dritteln ist das Schrumpfen der Mittelschicht auf Arbeitsmarktfaktoren zurückzuführen, davon zu mehr als einem Drittel auf sinkende oder stagnierende Löhne und Gehälter bei vielen abhängig Beschäftigten. Nicht Immigration, sondern schlechte Arbeitsmarkt-Möglichkeiten und vor allem schlechte Bezahlung sind also die Hauptprobleme – die Plickert irgendwo im Nirgendwo des Artikels versteckt. Es sind Probleme, die die Menschen – anders als „Zuwanderung“ – auch tatsächlich im eigenen Geldbeutel spüren.
Das DIW schreibt in seiner jüngsten Studie folgerichtig:
Will man den Einkommensanteil der Mittelschicht am Gesamteinkommen stärken, so können hierzu neben einer offensiven Lohnpolitik (zum Beispiel finanzielle Aufwertung von Dienstleistungsberufen), die Verbesserung der Chancen für Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt, Anreize für Überführung von in der Regel schlecht entlohnten Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen (Stichwort lebenslanges Lernen) beitragen.
Nicht bei der Einwanderung, sondern am Arbeitsmarkt gilt es also anzusetzen, um die Mittelschicht zu stärken: Löhne erhöhen, prekäre Beschäftigung zurückdrängen, Arbeitsmarkt-Möglichkeiten ausbauen. Davon ist in der FAZ natürlich nichts zu lesen. Und beim IW auch nicht.
Das Missverhältnis in der FAZ-Darstellung lässt sich übrigens auch in Zahlen ausdrücken: Auf die Arbeitsmarkt-Faktoren, die für etwa zwei Drittel des Schrumpfens der Mittelschicht verantwortlich sind, verwendet Plickert weniger als sieben Prozent seines Artikels. Auf die weniger wichtigen Faktoren, nämlich Einwanderung und Zunahme der Single-Haushalte, verwendet er zusammen fast 25 Prozent. Und er platziert sie deutlich prominenter. Auch so kann man Meinung und Stimmung machen.
[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Bielefeld und Berlin. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.